Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

In den Himalayas

Heute früh, lange ehe die Sonne sichtbar ward, habe ich die Giganten des Himalaya ihre Strahlen auffangen sehen. Die Erde lag unsichtbar in Nacht; auf Wolkenhöhe, in unsicherem Dämmerlicht, strichen bleiche Nebel dahin. Sie aber, hoch über allen Wolken, erglühten im Frühgruß des Tags.

Gestern, als ich anlangte, war der Himmel bedeckt, aber wieder und wieder zerriss ein scharfer Wind das graue Tuch und man bedeutete mir, dass ich auf kurze Augenblicke vielleicht des Kinchinyonga ansichtig werden möchte. Ich suchte nach ihm, wo nach an Alpenerfahrungen gewonnenem Maßstabe ein über hundert Meilen entfernter Berggipfel zu sichten sein müsste, fand jedoch nichts; bis ich zufällig meine Augen aufwärts wandte: dort, wo ich nur Himmelskörper vermutete, erglänzte sein Firn… Noch nie bin ich gleich überwältigender Materie gegenüber gestanden. Der Himalaya ist kein Gebirgsmassiv, wie andere auch; es ist, als hätte der geborstene Mond sich jählings der grünen Erde aufgepflanzt, so unirdisch, kosmisch-groß, so außer alles Zusammenhangs mit den Gestaltungen dieses Planeten wirkt er. Weit, weit vom Punkte, da ich stehe, reicht der Blick über Berge und Täler hinaus, die Ketten aufgefaltet zum Niveau höchster Alpengipfel, die Täler ausgeschnitten schier bis zum Spiegel des Meers. Formation schichtet sich auf Formation, Flora auf Flora, Fauna auf Fauna; subtropische Vegetation geht mählich in arktische über; auf das Reich des Elefanten folgt das des Bären und zuletzt des Schneeleoparden. Und über diesen Welten erst beginnt der eigentliche Himavat. — Freilich muss dort, wenn irgendwo, das Reich der Götter liegen. Ich gedenke jenes Reliefs zu Ellora, welches darstellt, wie der Riese Kailas den schlummernden Shiva zu vernichten trachtet, indem er die Himalayas ins Wanken bringt: von der besorgten Parvati geweckt, setzt der Gott einen Fuß vom Lager herab und zerdrückt damit lässig den Titanen. — Mir scheint: hier bedarf es keiner ungeheueren Phantasie, um ungeheure Bilder zu erfinden: in dieser Natur wird das Überschwengliche von selbst. Durch Übertreibung gebildet, zwingt sie ihrerseits zum Übertreiben, und das Größte wirkt hier immer noch zu klein. Jauchzend setzt sich der Geist über alle Schranken hinweg, triumphierend übersteigt er alle Grenzen. Was war, wenn nicht mein erster, so doch mein zweiter Gedanke, als ich der Riesen ansichtig geworden war? — Dass der Geist Berge versetzen könne! Jeder Zweifel daran kam mir lachhaft vor. So oft ein menschlich-begrenzter Gedanke mein Hirn durchzuckte, war mir, als tönte drüben vom ewigen Schnee das metallene Lachen Shivas herüber, und die bloße Scham trieb mich zum Mitlachen an

In einer Natur, die solche Berge auftürmt, mag schon ein Mahābhāratam entstehen; alle Großheit der indischen Mythe liegt in ihm vorgebildet. Wie gut verstehe ich heute die Bedeutung, die der Himavat für das indische Bewusstsein hat! In seinem Bereich liegt Shivas Paradies; ihm entspringt der heiligste der Ströme. In den Himalayas hausen die Munis und Rishis, und unaufhaltsam, in endlosem Zug, streben die Weisheitsdurstigen zu ihnen hinan. In den Himalayas sind die Veden entstanden, die Upanishads, und noch heute stammt von ihnen alle Inspiration. So ist es wohl. Noch nie habe auch ich, der Fremdling, meine Seele ähnlich beschwingt gefühlt. Mir ist, als seien tausend Genien dabei, glitzernd-scheinend wie der Firn im Morgenlicht, fröhlich lachend wie frisch-erwachte Kinder, vertraulich als kennten sie mich von je, sie aller Vorurteile zu entkleiden. Nun rufen sie: komm! und eilen mir voran in den unendlichen Raum. Kannst du nicht mit? — Ich komme schon. Aber ich kann die göttliche Freiheit nicht so leicht nehmen wie ihr. Wo ihr lacht und spielt, ist mir weihevoll zu Mut. Mich macht es schwindelig, hoch über dem zu schweben, was mich jüngst erst allseitig band. Und noch verstehe ich nicht, wie das nur möglich ist. — Sie lachen: was ist da zu verstehen? es ist doch selbstverständlich! — Ist das das Geheimnis? — Mir ist, als würde es auf rätselvolle Weise, in unbeschreiblichem Sinne jählings Licht in mir; als öffneten sich mir neue nie geahnte Erkenntniswege, als verflüchtigten sich alle erdgeborenen Schranken, als machte die Menschenwelt einer neuen Platz. Nun schaue ich vordem Unsichtbares, Zusammenhänge ganz anderer Art, als ich sie früher gewahrt, und mit der Welt ringsum verwandele ich mich selbst. Nun erkenne ich mich als sonnenhaften Born unendlicher Kraft, rastlos gebend, rastlos ausströmend, ohne Hemmungen noch Widerstand. Kein Problem beunruhigt mich mehr, und ich kann mein Forschen von jüngst nicht mehr verstehen. — Das geistige Licht verlischt, ebenso plötzlich, unvermittelt und rätselvoll. Nun treten die alten Probleme wieder hervor, nicht lösbarer erscheinend als zuvor. Aber ich ahne jetzt den Zusammenhang. Wenn das Licht Brahmas in einer Seele aufgeleuchtet ist, dann hören sie auf zu sein: das ist des Welträtsels Lösung. Als Fragen des Erdbewusstseins aber sind sie unbeantwortbar. An sich selbst stellen sie Gleichungen dar, deren Ansatz falsch ist und die nicht aufgehen können. Der Erdbefangene verhält sich zum Wissenden wie die Ameise zum Menschen, der ihre Wege kreuzt: so instinktsicher sie ist, sie weiß sich nicht zu helfen, wo sie sich Aufgaben gegenübersieht, die von ihrer Organisation her transzendent erscheinen. So der Forscher, der das Welträtsel zu lösen sucht. Es ist unlösbar vom Standpunkt der Vernunft. Ihr fehlen zu viele Daten, sie kann den Zusammenhang nicht übersehen. Und der Mensch ist schlimmer noch dran als das hilflose Tier, weil er zu fragen weiß, was zu beantworten über seine Kraft geht, weil sein Bewusstsein eine unglückliche Zwischenstufe darstellt zwischen Blindheit und Allwissenheit. — Aber es liegt in ihm, sich selbst zu übersteigen, der Gott in ihm ist dem Erwachen nahe. Irgendeinmal, unerwartet, unvermittelt entzündet das Licht Brahmas sich in seinem Sinn, dieses Licht aber löscht alle Menschenprobleme aus. — Noch glimmt es nach in meiner Phantasie; noch spüre ich mein Menschentum als ein Fremdes, Lästiges; und als wäre ich einer der Genien, die mich umschwirren, möchte ich lachen über das Elend der Welt. Seht ihr denn nicht? schaut doch bloß auf! versteht!… Wie sollen sie verstehen? Auch ich habe ja bloß verstanden, verstehe jetzt nur mehr trübe in der Erinnerung. Und wenn ich aussprechen soll, was ich meine, so kann ich’s nicht. Die berufenen Worte kehren um, die Gedanken fliehen. Sie können nicht fassen, was ich weiß, befürchten zersprengt zu werden. Und zwinge ich sie, so klingt meine Weisheit wie Torheit. Es gibt kein Übel … — Freilich ist das Unsinn, nicht Sinn vom Standpunkt des Menschenbewusstsein; so scheint es wohl nutzlos, ihm davon zu sagen. Es hätte gar keinen Zweck, wenn nicht in jedem, noch so nachtumflorten, die Ahnung des Lichtes lebte, eines Lichts, das langsam, von Geburt zu Geburt, die Finsternis verzehrt. Wäre es anders, nie käme die Christenheit dazu, die paradoxale Lehre Jesu zu glauben, das Indervolk im Entsagen das Höchste zu sehen, die buddhistische Menschheit nach dem Nirwana zu streben, in welchem alles, was sonst das Leben macht, verlöschen soll… — Wir wissen alle mehr, als wir für wissbar halten. Dieses Wissen diktiert uns das Ideal, inspiriert unsere Sehnsucht. Als unbewusst-Wissende halten wir fest an den Paradoxien der Religion, werden wir festhalten an ihnen bis zum Jüngsten Tag, an welchem das Licht Brahmas endlich zum Lichte Aller werden wird. In den Himalayas ist der Mensch der Gottheit wunderbar nahe; diese Natur, mehr als irgendeine auf Erden, weitet die Grenzen des Bewusstseins aus. Alle kleinlichen Zusammenhänge zerreißen, die weitesten, scheinbar äußersten, rotieren unsicher in der Luft, wie Seifenblasen, jeden Augenblick bereit, im Licht der Höchsten Sonne zu zergehen. Und in die weite Leere, die also geschaffen ward, strömen übermächtig die Kräfte von oben ein. — In grenzenloser Sehnsucht blicke ich auf zu den Zinnen des Himavat. Wenn ich hinan könnte in die reine Götterluft, würden dann nicht für immer die Hüllen fallen? würde ich da nicht endlich frei aufatmen, im beseligten Gefühl der Erfüllung: ich wusste es ja? Von Jahr zu Jahr stärker spüre ich in mir das Walten eines Neuen, Höheren, das krampfhaft zur Entstehung drängt. Ich fühle wie einen körperlichen Zug von unten aufwärts; noch nirgends spürte ich ihn so stark wie hier. Und dankbar möchte ich beten vor Shivas Paradies, dessen Anblick solchen Segen bringt.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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