Schule des Rades

Hermann Keyserling

Menschen als Sinnbilder

Schopenhauer als Verbilder

Wille zur Wahrheit

Wer war der Mann, dessen Schöpfung so problematische Züge zeigt? Ich will versuchen die Umrisse von Schopenhauers geistiger Physiognomie, so wie ich sie sehe, möglichst deutlich hinzuzeichnen, denn nur aus dem Menschen ist hier das Werk zu verstehen.

Lassen wir die Gesamtpersönlichkeit auf uns einwirken, so erhalten wir durchaus nicht den Eindruck einer kontemplativen Natur, eines Philosophen im Sinne Kants oder Spinozas: wir sehen uns einem ausgesprochenen Praktiker gegenüber, einem Tatmenschen von zäher Vitalität und rücksichtsloser Eigenlebigkeit. Unverkennbar trägt er die Züge seines Geschlechts, eines Geschlechts unternehmender Handelsherrn. Seine Beweglichkeit ist die des Weltmanns, sein Sprachtalent das des Geschäftsmanns, seine Menschenbeurteilung die des Unternehmers. Sogar seine Klarheit ist nicht eigentlich die des Denkers, sondern des praktischen Organisators: sein Denken ist wesentlich zielbewusst. Wer Schopenhauers Beweisführungen aufmerksam lauscht, hört selten den Gelehrten, sehr häufig den man of business heraus. Seine Sachlichkeit ist niemals uninteressiert, er vertritt eine Wahrheit wie man ein Interesse vertritt, klug, überredend, dann wieder peremptorisch und aggressiv dialektisch höchst gewandt, doch nie mit jener stillen Überzeugtheit, welche dem Forscher, der seiner Sache gewiss ist, eignet. Schopenhauer wiederholt sich sehr viel und immer an zweckmäßigem Orte, immer in der Absicht, seine Meinung dem Leser aufzudrängen — eine Taktik, die einem Kant wie jedem theoretischen Menschen vollkommen fremd gewesen ist. Ein theoretischer Mensch, ein Gelehrter war Schopenhauer ganz und gar nicht; als Kritiker Kants, als Hegels erbitterter Gegner war er recht eigentlich Publizist, routiniert und gewissenlos. Das Diesseitige, der Welt unmittelbar Zugekehrte in Schopenhauer verrät mit keinem Zug den weltverachtenden Philosophen, und dieses Diesseitige ist nicht etwa ein Akzidens, in welcher Form es sogar einem Buddha keineswegs abging: es ist die einzige stetige, allezeit wirksame, nirgends aussetzende Funktion seines Lebensgesetzes. Sein ganzes persönliches Leben nicht nur, nein auch der größte Teil seiner Philosophie atmet diesen Geist der Weltlichkeit, und die Art seiner Darstellung vollends ist überall diesseitig orientiert. Daher kommt es, dass sogar die mystischen Auseinandersetzungen in seinen Schriften merkwürdig praktisch klingen, dass einen Gedanken, die in abstracto zweifellos tief sind, bei Schopenhauer oft terre-à-terre anmuten. Man denke an die Mitleidsmoral, die Lehre von der Verneinung des Lebenswillens, die Metaphysik der Liebe, an Schopenhauers ganze Charakterologie. Schopenhauer lehrt in vielen Punkten dasselbe wie Buddha, wie Christus, wie Meister Eckhart. Und doch dürfte es keinem Hellhörigen in den Sinn kommen, die betreffenden Stellen in Schopenhauers Philosophie mit den Heiligen Schriften dem Geiste nach zu vergleichen.

Desungeachtet ist das Metaphysische bei Schopenhauer kein Gewolltes, Erschlichenes: es ist echte, lautere Natur. Schopenhauer besaß wirklich metaphysische Genialität. Nur bedeutete dieser Quell nicht die treibende Kraft seines Geistes; er entsprang ganz unvermittelt aus den Tiefen eines Wesens, seinem bewussten Denken entrückt, ohne Zusammenhang mit dem Hauptstrom seines Lebens. Wenn Schopenhauer mystisch tief erscheint, dann ist es, als spräche ein anderer aus ihm, gleichwie das Medium Fähigkeiten äußert, die seinem normalen Zustande fremd sind. Schopenhauer kommt immer wieder auf die Inspiration als Mutter seiner Ideen zurück, mehr als einmal gesteht er, dass er sie als Offenbarungen aus einer anderen Sphäre betrachten musste. Aber wie eines jeden Selbstgefühl gern nur am tiefsten und höchsten anknüpft, so betrachtete auch Schopenhauer als sein wahres Ich nur den Schöpfer seiner Metaphysik; mit diesem allein wollte er sich identisch wissen. Ganz klar und rein ist dieses Ich nur selten bei ihm zutage getreten, überhaupt vielleicht nur in seiner Jugend, die bewegende Kraft seines Geisteslebens war es zu keiner Zeit; aber verloren hat er es nie. Dieses Ich bedingte die Grundstimmung seines Wesens, gab seinem Streben die Richtung; dieses Ich steckte seinem Ehrgeiz das Ziel. Was er auch trieb, wie sehr seine Äußerungen dem innersten Selbstgefühle widerstreiten mochten: seinem tiefsten Grunde nach hat sich Schopenhauer immer als Metaphysiker gefühlt. So rankten sich denn alle seine sonstigen Fähigkeiten und Gaben um den Trieb zur Metaphysik herum, strebten diesem zu, wiesen auf diesen zurück. Die Praxis trat in den Dienst der Theorie, der Geschäftsmann ward zum Handlanger des Mystikers, und wenn die Vermittelungen das Spontane oft derartig überwuchern, dass dieses überhaupt nicht mehr zu spüren ist, so mag dies den Wert des Gedachten verringern: gegen das Dasein eines Spontanen spricht es nicht.

Schopenhauer war, wenn wir uns ein schematisches Gesamtbild machen wollen, ein glänzend begabter Geschäftsmann, aus dem in der Inspiration ein Mystiker sprach und der als solcher zu leben und zu lehren versucht hat. Diese absonderliche Anlage bedingt die Absonderlichkeit des Ergebnisses. Und wenn wir nun noch hinzufügen, dass in ihm Züge des Dichters lebendig waren, die gelegentlich schöpferisch hervortraten und ihm die Welt zur Vision verwandelten, dass ihm das Meiste gegeben war, was zum Rüstzeuge diskursiver Erkenntnis gehört, so hätten wir die Hauptmomente beisammen, um uns einen Begriff von dem Geist dieses merkwürdigen Mannes zu bilden.

Zu welcher intensiven, zu welcher dynamischen Einheit hätte sich Schopenhauer zusammenschließen können? Ich stelle die Frage ganz abstrakt, um einen möglichst weiten und belebenden Hintergrund für das Konkrete zu gewinnen. Gehen wir vom Tiefsten aus, so lautet die wahrscheinlichste Antwort: Schopenhauer hätte Religionsstifter werden sollen. Denn sein Metaphysisches war mehr religiös als philosophisch gefärbt, und sein Temperament eher das des Apostels, als das des Forschers. Aber zum Religiösen war er nur berufen, nicht auserwählt; sein Tiefstes war kein stetig fließender Strom, sein Wasser vermochte den geistigen Betrieb nicht zu treiben; ja er war nicht stark genug, diesen auch nur ruckweise vollständig in Bewegung zu setzen. Schopenhauers metaphysische Genialität stand zu den Dimensionen seines Geists in keinem Verhältnis; sie vermochte ihn nicht wirklich zu beseelen; sie blieb immer nur wie ein wilder Quell, welcher sprunghaft in geregelte Anlagen einbricht. Sie schenkte ihm Einfälle, Visionen, Intuitionen, sie war nicht groß genug, einen ungebrochenen Glauben zu erzeugen. Und dann war Schopenhauer keine ethische Natur, er war keiner, der seinen Glauben hätte verkörpern können. So konnte er es zu keiner religiösen Verinnerlichung bringen; es blieb ihm versagt, ein siegreich Vollendeter zu werden.

Schopenhauers Metaphysisches wirkte stetig nur als Stimmung fort, als oberirdisches Echo eines tiefverborgenen Quells, als Gefühlsband von Einfall zu Einfall. Wenn er auf die Stimmung allen Nachdruck gelegt hätte, wäre aus ihm am Ende ein Poet geworden? Dem objektiven Stimmungsgehalte nach hätte er vielleicht einer werden können, allein ihm fehlte in dieser Sphäre jedes Ausdrucksvermögen. Undurchsichtiges konnte Schopenhauer nicht darstellen, Erschautes nur in Begriffen nachbilden; sein Verstand ließ den Dichter nicht erstehen. Rein konnte sein Auge nur momentweis blicken, nur seine blitzartigen Intuitionen waren unverfälscht; sobald er bei seinen Eindrücken verweilte, zergingen sie an der Reflexion. Nein, ein großer Dichter hätte Schopenhauer nicht werden können, dazu war seine Phantasie nicht gegenständlich, sein Gemüt nicht empfänglich, seine Seele nicht still genug; er empfand viel zu schwach für das, was er begriff; was er dachte, erlebte er nicht. Und zum kleinen Dichter, zum Dichter im kleinen war er wiederum zu groß. Zu vielem, was er hätte sein können, war Schopenhauer zu groß. Das Geistige in ihm verachtete die irdischen Bestrebungen, für welche sein niederer Mensch so glänzend befähigt war, auf den Geschäftsmann in sich sah er allezeit herab. Nur die höchsten geistigen Ziele vermochte er ernst zu nehmen.

Und doch fehlte ihm zur Verwirklichung dessen, was ihm als einzig wertvoll galt, die intensive Energie, die von innen heraus schaffende Kraft. Sehnsuchtsvoll, voll wehmütigen Verständnisses, preist Schopenhauer den Dichter, den Heiligen; er selbst vermochte keiner zu werden. So wurde er zum Philosophen. Ursprünglich war er es nicht. Weder im Sinn eines Plotin, noch in dem eines Spinoza, eines Hegel; am allerwenigsten im Sinne eines Kant. Sein Philosophentum war von vornherein ein Kompromiss Schopenhauers Philosophieren war keine spontane Betätigung, spontan in dem Verstande, dass man hätte sagen können: er philosophierte wie er atmete; es bestand darin, dass er seine mystischen Erlebnisse und dichterischen Visionen in der Reflexion zu verschmelzen suchte, das Erschaute kritisch verknüpfend, seine Einfälle klug kombinierend. Hieraus allein schon ergibt sich der undeutliche, problematische Charakter seines Systems. Wenn seine tiefsten Gedankenflüsse in der Darstellung flach und trocken wirken, so erklärt dies der Umstand, dass ein Geschäftsmann mystische Weisheit vorzutragen hatte; wenn seine Beweise selten überzeugen, so liegt dies daran, dass sein Wille zur Wahrheit der des Apostels, nicht der des Forschers war: Schopenhauer suchte die Wahrheit nicht, er war ihrer von Hause aus gewiss. Es wäre psychologisch unmöglich gewesen, ihn von der Haltlosigkeit einer Idee zu überzeugen. Das ganze Vermögen seiner staunenswerten Intelligenz hat auch dort, wo sie voraussetzungslos zu untersuchen scheint, immer nur einem Dogma gedient. Nein, das eigentliche Philosophieren war nicht Schopenhauers Beruf. Überall beengten ihn hierbei die Grenzen seiner Natur. Wenn es ihm bei seiner großen intuitiven Veranlagung gelungen wäre, seinen Blick frei und rein zu erhalten, wir könnten in ihm wenigstens den Phänomenologen verehren: aber auch zu die er Klärung hat er es nicht gebracht. Er konnte von seinem System nicht freikommen. Die visionärsten Bilder verdarb er zu Illustrationen seines Lehrgebäudes. Daher sollte man nicht sagen, Schopenhauer sei sowohl Religionsstifter, als Dichter, als Philosoph gewesen: er war in Wahrheit keines von den dreien. Er war Philosoph, weil er kein Buddha und kein Goethe sein konnte; aber auch Philosoph war er im Grunde nicht.

Vielen gilt Schopenhauer, im Gegensatze zum hier Ausgeführten, für den eindeutigsten der Denker. Dies beruht auf einem Missverständnis. Eindeutig war Schopenhauer als Individualität, insofern als diese ausgesprochen, eigenwüchsig, kraftvoll, ungebrochen war, denn als lebendiges Dasein kann auch das Widerspruchsreichste eindeutig wirken: als Philosoph ist Schopenhauer durchaus undeutlich; wer nicht ständig auf den empirischen Menschen zurückgreift, gewinnt kein einheitliches Bild. So ist sein Pessimismus in bezug auf sein Naturell wohl echtgeboren, aber er steht in gar keinem Zusammenhang mit seinem Gedankensystem. Ebensowenig einleuchtend ist der Zusammenhang seines Gesichtspunktes mit dem der kritischen Philosophie. Schopenhauer besaß wenig Befähigung zur Erkenntniskritik, deren Wesen hat er wohl kaum überhaupt begriffen. Ihn deuchte Kants Erscheinungslehre eine Lehre von der Unwirklichkeit der Welt zu sein, wie sie seinen eigenen mystisch-illusionistischen Tendenzen entsprach, während sie in Wahrheit den Grund zu deren Wirklichkeit gelegt hat; er wähnte mit seiner Metaphysik ohne weiteres an die Vernunftkritik anknüpfen zu können. Nun will ich die Möglichkeit einer Metaphysik jenseits der Grenzen, wie diese sie abgesteckt hat, nicht in Abrede stellen: es gibt zweifellos konstitutive Prinzipien der Natur, welche jenseits des Machtkreises wissenschaftlicher Analyse liegen, und Schopenhauer hat mit seinem Willen ein durchaus Wirkliches im Auge. Aber diese Sphäre einer transzendenten Wirklichkeit liegt jedenfalls außerhalb des kritischen Rahmens, steht zu dessen Inhalt in keiner direkten Beziehung. Die Kritik hat es ausschließlich mit dem Reich zu tun, über welches die Naturwissenschaften gebieten; der Transzendentalphilosoph erkennt, gleich dem Physiker, nur Erscheinungen und deren Gesetze an und kümmert sich nicht um das, was die sinnliche Erfahrung überschreitet. Wie sollte da zwischen Kritik und Metaphysik ein Übergang statthaben können? Schopenhauer hat diese Unmöglichkeit nicht eingesehen, er hat sich zeitlebens einen Kantianer genannt, wo er eher als Kants Antipode bezeichnet werden sollte. Nein, als Philosoph war Schopenhauer alles eher denn deutlich. Er war es nicht einmal als reiner Metaphysiker (sobald wir seine Lehre nicht nach ihrem innersten Gehalt, sondern nach der äußeren Erscheinung beurteilen). So mancher Gedanke ist da groß konzipiert und verkleinert sich zusehends im Laufe der Entwickelung. Die Lehre von der Nichtigkeit des Daseins entspringt als tiefer Quell, aber dieser versandet gar bald in kleinlichen Klagen über das Illusorische aller Genüsse. Die tiefsinnige mystische Doktrin von der Urschuld wirkt im Gefüge der Willensmetaphysik erstaunlich banal. Schopenhauers metaphysische Genialität stand eben in keinem Verhältnis zum Umfang seines Geistes. Wäre dieser geringer gewesen, etwa der eines Novalis, jene wäre vielleicht kraftvoll zur Geltung gelangt. So aber gehört Schopenhauer zu denen, deren Verstand weit größer ist als ihre Schöpferkraft. Zur Kritik der Mystik war er wie keiner berufen, ein eigenwüchsiger Mystiker war er nicht. Schopenhauers Philosophie ist keine dynamische Einheit, und zwar in keinerlei Hinsicht. Und wäre nicht einerseits der stark individualisierte Mensch, der dem Verschiedenartigsten doch ein einheitliches Gepräge verleiht, wäre anderseits nicht das glänzende literarische Talent, welches das Unvereinbarste von außen her zum Kunstwerk zusammenfügt, das Nicht-Einheitliche bei Schopenhauer spränge jedem in die Augen. Nein, es genügt nicht begabt zu sein, um Großes zu vollbringen. Es gibt Geister von großem Reichtum und großer Energie, die ihrer Natur nach doch kein Höchstes erreichen können.

Hermann Keyserling
Menschen als Sinnbilder · 1926
Schopenhauer als Verbilder
© 1998- Schule des Rades
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