Schule des Rades

Hermann Keyserling

Menschen als Sinnbilder

Jesus der Magier

Wirkung der Worte

Der Magier ist wesentlich kein Suchender und Glaubender, sondern ein Seiender und Könner. Welchen Normen gehorcht nun sein Wirken? — Auch er muss das Korrelationsgesetz von Sinn und Ausdruck erfüllen. Nur verlangt dies in seinem Fall ganz anderes, als beim Gelehrten, auch wo er Erkenntnisse vermittelt. Zu diesem verhält er sich zunächst nicht anders wie der Techniker, d. h. er handelt unwillkürlich aus seinem Wissen heraus; dieses ist ihm Ausgangspunkt, nicht Ziel. Aber für den Magier ist charakteristisch, dass er gegen dessen Normen, unbeschadet seiner Wirkungskraft, direkt verstoßen kann; in der Tat hat man den meisten, von Lao Tse bis Nietzsche, logische Fehler und wissenschaftliche Unexaktheit nachweisen können, und allen unverkennbare Vorliebe für Paradoxie. Der kürzeste Weg zum Verständnis dieses Sachverhalts führt über den Staatsmann. Dieser vermag sein unwandelbares Ziel nur dadurch zu erreichen, dass er die öffentliche Meinung in ihrem Wechsel so beeinflusst, dass trotzdem fortlaufend sein Wille geschieht; was er, im Falle starker Schwankungen, nur so erzielen kann, dass er jeweils Verschiedenes, sich logisch Widersprechendes, kundgibt; dessen Musterbeispiel bietet die englische Politik, die einzigartig stetig ist, der aber vom kontinentalen Standpunkt immer wieder mit Recht Umfallen oder Treulosigkeit vorgeworfen wird. Beim Magier nun potenziert sich das gleiche Verhältnis, insofern sein eines Ziel ist, Seelen zu verwandeln. Er will unmittelbar geistig zeugen. Also muss sein Wort und seine Tat jeweils die Eigenschaften des Spermas besitzen. Und das will sagen: deren Sinn und Wert liegt nie in der gegebenen Gestalt, sondern in dem, was durch ihre Vermählung mit einem weiblich Aufnehmenden wird.

Man überschaue nun mit einem Blick alle historisch bewährten großen Magier und man wird finden, dass ihrer aller Logos genau im angegebenen Sinn Spermatikós war. Wohl ward wenigen unter ihnen die am Beispiel der Kirche aufgezeigte Tragödie des Magiers erspart, dass ein Wort, dessen ganzer Sinn im Zeugen liegt, nachträglich als letztes Wort galt, aus dem beileibe nichts Neues werden durfte. Doch alle großen Magier haben trotz dieses Missverständnisses fortgewirkt. So in erster Linie Jesus. Trotzdem sein Wort das letzte Wort bedeuten soll, wächst das Christentum in unaufhaltsamer Differenzierung ständig weiter, aus dem Implizierten immer neue Explikationen schaffend; die einzige Kirche, die seit dem dritten Jahrhundert bereits an diesem Prozess nicht teilnimmt, die griechisch-orthodoxe, trägt Jesu Sinn desto besser Rechnung insofern, als sie jeden Buchstabenglauben verwirft: Christus ist ihr Sinnbild, nicht Vorbild; die Dogmen sind ihr nur wahr, insofern sie erlebt werden. Gerade Jesu Lehre wollte eben nur Logos spermatikós sein; seine wunderbare Ausdruckskunst bestand eben darin, dass er alle nur mögliche Entfaltung im Keim-, d. h. Involutionszustand vorwegnahm. Und insofern ist er auch wirklich, was immer historische Forschung beweise, der Stifter der christlichen Kirche; gerade deren fortwachsendes Dasein beweist die Wirklichkeit und Echtheit seiner Berufung. Nicht anders nun steht es grundsätzlich mit allen Meistermagiern. Wie aus den wenigen Herrenworten allmählich das Christentum erwuchs, so erwuchs aus Buddhas litaneiartig wiederholten Grundlehren der Buddhismus, aus dem Tao Te King nicht allein der Taoismus, sondern in Vermählung mit dem Konfuzianismus die ganze spätere chinesische Kultur. Ja sogar, was von Plato fortlebte — der lebendige Platonismus — geht auf das Implizite, nicht das Explizite seiner Lehre zurück.

Wie ist dieser Befruchtungs- und Entwicklungsvorgang nun zu verstehen? Es gelingt am leichtesten an den banalen Beispielen des lösenden Worts in der Seelsorge und Psychotherapie und des religiösen Meditationssymbols. Deren Wirkungen erscheinen oft nahezu zauberhaft, insofern das Ergebnis zu dem vom aktiven Teil geleisteten in ähnlichem Missverhältnis steht, wie die Sprengung des Felsens in Märchen durch die Worte Sesam, tu dich auf. Aber gibt es denn ein größeres Wunder, als die Entstehung eines geistbewussten Menschen auf Grund der von animalischer Lust bedingten Befruchtung eines verborgenen Eis durch einen winzigen Keim? Eben hierum handelt es sich auch dort. Der Magier befruchtet den passiven Teil durch das angemessene Wort. Dies entspricht nun grundsätzlich nie den Anforderungen, die Logik an einen exakten Ausdruck stellt. Es muss aber andererseits desto mehr verkörperter Logos sein. Inwiefern dies nun so ist, lehren die auf Grund der Praxis von Coué gewonnenen wissenschaftlichen Einsichten verstehen. Das Unbewusste setzt automatisch in Wirklichkeit um, was ihm auf richtige Weise als Leitgedanke oder Leitbild vorgehalten ward. Im Fall ganz elementarer Prozesse kann solche Richtigkeit tatsächlich, für eine große Anzahl Menschen, in einfürallemaligen Zauberformeln, die man mechanisch wiederholt, verkörpert liegen; daher die erwiesene Wunderwirkung speziell der Coué-Formel. In allen komplizierten Fragen jedoch wirkt magisch nur das einzige, ad hoc geschaffene Wort. Deshalb gab es noch kein allgemein bewährtes magisches System oder Rezept. Deshalb haben nur die, denen es gelang, jedesmal die genau erforderliche magische Formel ad hoc zu finden, als Seelsorger, ja sogar als Psychoanalytiker produktiv gewirkt. Eine magisch wirksame Behandlung beruht nun aber nie auf der expliziten Mitteilung des theoretisch richtigen Sachverhalts, sondern auf einem besonderen jeweils erforderlichen Verhältnis von Sagen und Verschweigen, Tun und Lassen, Licht und Schatten. Warum? Jetzt können wir die Schlussglieder dieser Gedankenkette einfügen und damit wohl vollständig aufklären, warum das Korrelationsgesetz von Sinn und Ausdruck im Fall des Magiers so ganz anders in die Erscheinung tritt, als in dem des Wissenschaftlers: weil es die Einwirkung auf die Bildekräfte des Unbewussten gilt. Deren Logik ist eine ganz andere als die des Intellekts. Das schöpferische Unbewusste lebt sich in Bildern aus. Bilder oder bilderauslösende Worte müssen ihm deshalb mitgeteilt werden, wenn es in bestimmtem Sinne schaffen soll. Hier wurzelt denn der Sinn aller Meditationssymbole. Die allgemein bewährten unter diesen sind sämtlich archaischer Art. Da die Urkräfte der Psyche primordial sind, kann gerade ein vom Verstand unauflösbarer Bildzusammenhang in der Nachwirkung differenzierte Wandlung auslösen. Hiervon bietet das bewährte Produktive des Meditierens von Worten nur einen Sonderfall: in den Worten ist aller Sinn impliziert; jeder Urbegriff birgt in sich mehr und tiefere Weisheit, als das bestartikulierte philosophische System, und beim Meditieren wird sie in einem wirksam.

Wenn nun das Bildhafte im eigentlichen wie übertragenen Sinn das Wichtigste an der Ausdrucksart des Magiers bedeutet, dann müssen die Grundnormen seiner spezifischen Logik Takt, Rhythmus, Kontrapunktierung, Plastik und Farbenwirkung sein. Gleiches gilt auch vom Künstler im Unterschied vom Wissenschaftler. In der Tat verkörpert er den modernen magischen Prototyp; formell gilt gleiches von ihm, im Unterschied vom Gelehrten, wie von Jesus. Aber der Künstler ist mit dem Magier, welcher uns hier angeht, doch nicht identisch, weil er anderes will: er stellt ein Werk heraus, dessen vollendeter Ausdruck Selbstzweck ist; was dieses in der Betrachtung auslöst, beabsichtigt er nicht unmittelbar. Und es löst auch unmittelbar nie lebendige Wandlung aus, da sein Sinn eben in der Herausstellung liegt. Ein Kunstwerk wird wesentlich genossen. Der ästhetische, nicht der ethische Wert ist vom Standpunkt des Beschauers letzte Instanz. Gerade das auslösende Moment ist für den eigentlichen Magier das entscheidende. Daher denn die oft beobachteten, von Wissenschaftlern immer missverstandenen Merkwürdigkeiten seiner Ausdrucksart. Vollendung im Sinn des reflektierenden Oberbewusstseins widerspricht seiner Zielsetzung häufiger, als sie ihr entspricht. Da der Magier das Unbewusste zur Selbsttätigkeit anregen will, so drückt er sich überall dort befremdlich oder ärgerniserregend aus, wo die Gefahr droht, dass das Bewusstsein das Aufgenommene irgendwie erledigen könnte, bevor es in tiefere Wesensschichten drang. Daher seine besondere Vorliebe für Paradoxie. Das Paradoxon entspricht auf geistigem Gebiet dem Sprengstoff auf physischem: indem es Gegensätze verdichtet, ohne sie zu lösen, bewirkt es selbsttätige Lösung in dem, dessen Verstehen es entzündet; solche Lösung aber bedeutet, wo die verdichteten Gegensätze stark genug waren, richtige Sprengung. Daher die immer erneute Wirkung der Worte Laotses, Heraklits, Christi, etlicher Inder, Nietzsches, völlig unabhängig von Ort und Zeit. Oberflächlichem Denken bleiben sie unzugänglich, denn sie enthalten kein Wissen, das sich erlernen ließe. Erst im jeweiligen Verstehen, und zwar von letzter Tiefe her, erweisen sie ihre Wahrheit, denn dann bewirken sie Wissen, und zwar das dem jeweiligen Menschen genau gemäße. Eben daher die Möglichkeit immer erneuter Ausdeutung; daher, objektiv betrachtet, deren Unerschöpflichkeit. Nur Paradoxa als Geistesgeschosse tragen insofern unabsehbar weit im Raum und in der Zeit. Doch nun meine man nicht, dass etwa Unverständlichkeit an sich das Ziel wäre. Gerade verstanden will der Magier, im Gegenteil, werden, nur eben in anderem und vollerem Sinn, als der Wissenschaftler: die Assimilation soll nicht durch Gehirn und Geist allein, sondern den ganzen Menschen erfolgen, so zwar, dass der andere anders wird, und ihm daraufhin Eigenes, Neues, jedoch mit dem vom Magier Gemeinten Einsinniges einfällt. Auf dass dies nun gelänge, muss der Magier die Regel, nach welcher Sinnesverwirklichung nur mittels Realpolitik gelingt, bis ins Kleinste genau befolgen. Nur mit vorhandenen Mitteln kann er sein Ziel erreichen. Bedeuten ihm logische Unzulänglichkeiten wenig, so ist jeder psychologische Fehler großen Stils für ihn verhängnisvoll.

Man betrachte nun von hier aus die großen Magier der Geschichte, und man staunt womöglich mehr noch über ihre realpolitische Begabung, als die Tiefe ihrer Sinneserfassung. Eingangs sahen wir, mit wie unheimlicher Sicherheit — und dabei gewiss ganz unbewusst — Jesus, der wesentlich historisch Bedeutsame unter den Religionsstiftern, alle gegenwärtigen wie künftigen politischen Möglichkeiten implizite berücksichtigte. Auch seine Kulturfeindlichkeit hatte wohl hier ihren unbewussten Grund: die alte Kultur sollte sterben, die erstarrten Formen sollten eingeschmolzen werden; der neuen christlichen Kultur hat er selber vorgearbeitet. Buddha, der ebenso wesentlich Unhistorische, wie Jesus geschichtlich bedeutsam war, war seinerseits Realpolitiker vom Standpunkt dessen, was man heute Psychoanalyse heißt; jedes seiner Worte, jede Legendenbildung, welche von ihm abhing — und gleich allen Großen hat er diese selbst gelenkt — war so gefasst, dass sie dahin wirken musste, den Lebenswillen zu töten. Und wenn ich die Technik der Schule der Weisheit hier mitberücksichtigen darf, so ist ihr Gegnerschaft Herausforderndes gleichsinnig gewollt: da ein höherer Spannungszustand, der ökumenische, ihr Ziel ist, so ist ihr Feindschaft genau so recht wie Freundschaft, ja diese ohne jene widerspräche direkt ihrem Sinn. Jeder realpolitische Fehler rächt sich, dem gegenüber, alsobald. Hierzu gibt Laotse vielleicht das lehrreichste Beispiel. Seinem eigenen Sinne nach gehört er zu den tiefsten und deshalb universellsten, keine Gestaltung ausschließenden Geistern. Doch als Erscheinung muss er beschränkt gewesen sein; beschränkt im selben Sinn, wie es so viele tiefe Deutsche sind, die nicht verstehen, dass nicht ihre Lebenssonderart allein ein Ausdruck von Tiefe ist und jeden nicht-Mystiker, nicht-Einsiedler, nicht-Weltverächter, nicht-Kontemplativen usw. für flach halten. Laotse sah in der Verleugnung aller Gestaltung den einzig möglichen Weg überhaupt zum Heil. Deshalb hat er im Guten in unmittelbarer Filiation nur seltene Einsiedler ins Leben gerufen, und als Kirche nur eine nicht unbedenkliche Magier-Sekte. Im Großen fruchtbar wurde er nicht für sich allein, sondern dank Kung Tse. Dieser brachte Laotses Gemeintes mit den Gesetzen der Erscheinung in das richtige Korrespondenzverhältnis. Dank dem wirkte Laotse im Rahmen des Konfuzianismus sinngemäßer weiter, als in dem des Taoismus; eben dank dem haben spätere Geschlechter durch seinen Partikularismus von Hause aus hindurchgelesen.

Dieses Beispiel ist besonders lehrreich, denn es lehrt einen ganz allgemein die Gefahr, die dem Wörtlichnehmen tiefer Geister oder tiefer Lehren innewohnt. Ist das Luthertum heute schwerkrank, so liegt dies vor allem an Luthers Buchstabenglauben an die Schrift. Hat noch keiner, welcher Jesus buchstäblich nachwandelte, das Christentum im großen gefördert — Franz von Assisi ging, was immer er meinte, durchaus seinen eigenen Weg —, so liegt dies daran, dass die Sondererscheinung von Jesu Leben und Lehre raumzeitlich und persönlich bedingt war und daher ohne Missverstehen nicht nachzuahmen ist. So steht es denn auch mit der Anwendung östlicher Lehren in unserer Westwelt. So tief deren Sinn sei — die östliche Erscheinung ist nur in Ausnahmefällen auf unsere Verhältnisse übertragbar; die lebendigen Voraussetzungen ihrer Anwendbarkeit fehlen. Man muss ein indisches Gehirn, ererbte indische Denkwege, indische Vorstellungen haben, damit spezifisch indische Praktiken nützen. Nicht anders liegen die Dinge bezüglich Chinas. Überall erweist sich der Vollendungszustand eines Menschen darin, dass er unwillkürlich wirkt. Aber die spezifisch chinesische Art des Wu Wei führt bei uns nicht weit: im Westen hat die Freiheit einen so hohen überbau über die ursprüngliche Naturordnung, mit der allein die chinesischen Weisen rechneten, geschaffen, und hier sind so viele aggressive Kräfte am Werk, dass ein Konfuzius bei uns mit viel stärkeren Mitteln arbeiten müsste, um gleiches zu erreichen1. Die besten magischen Techniker der jüngsten Zeit waren insofern die Ärgerniserreger Nietzsche und Bernard Shaw. Sinnesverwirklichung kann eben nur mittels vorhandener Mittel gelingen. Die Christian Science nützt sehr vielen Amerikanern und Briten, doch nicht vielen Deutschen. Warum? Weil die Erscheinung ihres wahren Sinns dem primitiven Angelsachsengeist allein entspricht. Nicht anders sind die Massenerfolge der Psychoanalyse einerseits und der Couéschen Autosuggestionspraxis andererseits an die empirische Bedingung mechanistischer Denkgewohnheit gebunden. Wo diese fehlt, dort muss der gleiche Sinn anders und tiefer gefasst werden, um zu wirken.

Im vorhergehenden habe ich absichtlich die technische Seite des Magier-Problemes überbetont, weil hier sehr große Unklarheit herrscht. Von Magiern niederen Grades ist anerkannt, dass sie nichts als Techniker sind. Deswegen wird von höheren angenommen, dass jede technische Betrachtung ihnen gegenüber versagt. Von einem gewissen Punkt ab und in einem gewissen Sinne gilt dies, wie wir schon sahen, allerdings, allein nicht so, dass fortan keine Normen mehr gälten, sondern dass andere an die Stelle der bekannten treten. Hier liegen die Dinge ähnlich wie beim Wasser, wo nach überschreiten des kritischen Punkts von 100 Grad seine Gesetze durch die des Dampfs ersetzt werden. Der Weg der Sinnesverwirklichung ist also immer ein technisch begreifbarer, genau wie bei der Kunst, der einen Art anerkannter Magie, die es heute gibt. Und es ist missverständlich, die Frage, ob es sich um echte oder Ersatz-Magie handelt, hier darnach zu beantworten, ob das Technische bewusst oder unbewusst gehandhabt ward. Die Dinge liegen so, dass der Ersatz-Magier nur Techniker ist, beim echten jedoch grundsätzlich gleichgültig erscheint, ob er den Sinn seines Handelns versteht und dieses bewusst lenkt oder nicht. Jesus war vermutlich im meisten unbewusst, Buddha hier, wie in allem, äußerst bewusst. Und was von allen politischen Magiern gilt, dass sie die für die Wirkung erforderliche Mythenbildung absichtlich lenkten, dürfte auch von den meisten religiösen Führern gelten, ob sie es nun zugegeben haben oder nicht — denn sie müssten törichter gewesen sein, als sie waren, wenn sie nicht wussten und verstanden, was sie taten. Wer im Bewusstsein einen schlechthinnigen Einwand sieht, verkennt, dass der qualitative Unterschied zwischen Mensch und Tier an erster Stelle darauf beruht, dass das Sein in jenem verstehend bewusst und dass aller Fortschritt über den Urstand der Unschuld hinaus in Funktion dessen erfolgt, dass das Bewusstsein immer mehr Verantwortung übernimmt. Gewiss ist wahr, was Heinrich von Kleist in einer tiefsinnigen Erzählung vertritt, dass der Gliedermann vollkommener ist als der Mensch und erst der Gott wieder des ersteren Vollendung erreicht. Aber der Mensch kann nur mehr Gott werden wollen, sofern er strebt, und das Streben gehört zu seinem Wesen. Deshalb bedeutet es nie anderes, als psychoanalytisch deutbare Abwehrbewegung, sofern einer Bewusstheit verurteilt. Sie bedeutet entweder Angst vor der Gefahr oder aber Hass gegen die erkanntermaßen höher Vorgeschrittenen. Denn in der Tat bedingt Bewusstheit große, ihrem Grad proportional wachsende Gefahren. Es ist viel leichter, dank seiner Bewusstheit zum Teufel zu werden als zum Engel. Und zweifelsohne sind sehr viele einem höheren Bewusstseinsgrade innerlich nicht gewachsen; sie müssen sich Illusionen hingeben, um zu leben oder wenigstens zu leben, ohne schlecht zu werden. Doch dies spricht nicht gegen die Bewusstheit an sich, sondern nur gegen die Betreffenden. Es gab von jeher einzelne so großen Kalibers, dass sie leicht vertrugen, was Geringere aus dem Gleichgewicht bringt. Wie ein Cäsar Hunderte hinrichten lassen und eine Geldheirat nach der anderen machen konnte, ohne dadurch an seiner Seele Schaden zu nehmen, so konnten die großen Vermittler spiritueller Impulse unbeschadet der Echtheit ihrer Sendung in einem Grade technisch arbeiten, wo dieses sinngemäß erschien, der jeden kleinen Menschen verdürbe. Und sie sind im Menschensinne vorbildlich, nicht die, welche nicht wussten, was sie taten. Wird man mir angesichts dieses Vergleichs mit moralischen Bedenken kommen? — Um ein wie anderes es sich beim sogenannten Bösen handelt, als Philister glauben, zeigte schon die Einführung. Die moralische Frage ist überall nur in Funktion des gegebenen Formates und Niveaus beantwortbar. Jeder irgendwie Höherstehende steht ipso facto oberhalb einer bestimmten Art von Gut und Böse. Überall hat die erste Frage zu lauten: wieviel Elemente verträgt eine gegebene Synthese, ohne gesprengt zu werden — dann erst stellt sich die weitere nach der Akzentlegung auf den möglichen positiven oder negativen Aspekt des Gleichen. Wie Gott, gemäß dem richtigen Glauben aller Völker, absolut vernichten kann, ohne sich dadurch selbst zu richten, so gilt Gleiches in relativer Hinsicht von jedem Menschen seinem Seinsniveau proportional. Den Primitiven lässt die geringste Bewusstheit teuflisch erscheinen. Buddha hingegen war sich der letzten seiner Regungen bewusst, und doch der heiligste aller Menschen. Und dass grundsätzlich nur sein Weg, der Weg, der vollkommenes Erwachen und restlose Verantwortungsaufsichnahme zum idealen Ziel hat, nicht mehr Verschleierung der Wirklichkeit, dem heutigen Menschen Heil bringt, erweist allein schon die historische Notwendigkeit der Psychoanalyse2. Auf seiner Bewusstheitsstufe erscheint das Nichteingestandene grundsätzlich nicht mehr latent, sondern verdrängt. Der psychische Organismus ist insofern ein objektiv anderer geworden, als er es zu der Zeit war, da die geltenden Moralgebote zu Normen bewussten Handelns wurden. Deshalb gibt es für den heutigen erwachten Menschen keine mögliche Vollendung mehr im Sinn der Unschuld.

1 Vgl. die nähere Ausführung dieses Gedankengangs in der Bücherschau des 12. Hefts meines Wegs zur Vollendung, anlässlich der drei neuen Bücher Richard Wilhelms.
2 Vgl. meine Betrachtungen über diese besondere Frage in zwei Kapiteln des zweiten Teils von Wiedergeburt.
Hermann Keyserling
Menschen als Sinnbilder · 1926
Jesus der Magier
© 1998- Schule des Rades
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