Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

England

Zukunft des Engländertums

Wie steht es nun mit der Zukunft des Engländertums im Gesamtbild Europas? Da ist wohl klar, dass die Prognose keine günstige sein kann. Die Bedingungen dieses Zustandes sowohl als seiner Vollendung schwinden unaufhaltsam hin. Die allgemeinsten sozialpolitischen Bedingungen, die das Fortleben des alten Englands bedrohen, hat Guglielmo Ferrero jüngst so gut zusammengefasst, dass ich nichts Besseres tun kann, als seine Ausführungen zu zitieren:

Die ruhige Natur der englischen Massen stammt aus dem achtzehnten Jahrhundert: sie war eine Folge der Disziplin und der Ruhe, in denen die großen Massen in ganz Europa vom Ende der Religionskriege bis zum Beginn der französischen Revolution gelebt hatten. Diese vorrevolutionäre Ordnung hat in England weiterbestanden, während sie auf dem Kontinent in Verfall geriet; denn in England sind die Kriege auch im neunzehnten Jahrhundert das geblieben, was sie während der beiden vorangehenden Jahrhunderte waren, das heißt eine Angelegenheit, die ausschließlich den Staat und nicht das Volk anging; auf dem europäischen Festlande dagegen zogen die Kriege Staat und Volk zusammen in Mitleidenschaft. Das englische Volk konnte während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts in seiner vor allen Gefahren geschützten Insellage im Frieden weiterleben, selbst in Zeiten des Krieges. Eine allgemeine Wehrpflicht gab es nicht; die kleinen Armeen, deren der Staat bedurfte, wurden aus Freiwilligen rekrutiert, und diese stammten fast durchweg aus Irland. Der Staat allein führte den Kampf, das Volk blieb nicht nur vom Kriegsdienst, sondern auch vor jeder Kriegsfurcht verschont. Dank dieser Ruhe konnten die großen englischen Massen, obwohl sie in einigen wenigen großen Städten, im Bannkreis gigantisch wachsender Fabriken lebten, jene hohe Meinung von Obrigkeit, Aristokratie, Monarchie und von den besitzenden Klassen bewahren, wie sie dem ganzen achtzehnten Jahrhundert eigen gewesen ist. Und diese hohe Meinung hielt sich trotz der stets wachsenden Arbeitsaktivierung und der modernen Schulbildung. Für die Völker Kontinentaleuropas hingegen bedeuteten sämtliche Kriege, seit der französischen Revolution, eine für Staat und Volk gemeinsame Sache. Der Staat erklärte den Krieg und heimste den Gewinn ein, wenn er einen glücklichen Ausgang nahm; aber das Volk — Arbeiter, Bauern, Mittelklassen — war gezwungen, Blut und Leben herzugeben, oft ohne zu wissen, warum der Krieg ausgebrochen war. Und kaum war der Kampf zu Ende, so begannen neue Sorgen, denn man lebte in der ständigen Angst vor neuen Kriegen, die von einem Augenblick zum andern ausbrechen konnten. Jedes Volk hatte seinen Erbfeind, dessen Tun und Handeln es unablässig überwachen musste. Die Kriege und die Angst vor Kriegen haben unter die Volksmassen Unruhe, revolutionären Geist und die Neigung zur systematischen Opposition gegen den Staat getragen; und das englische Volk allein war von allen Übeln befreit — bis zum Jahre 1914.
Der geheimnisvolle Schlüssel, der die Mysterien der ganzen Geschichte Englands einerseits, der Kontinentalvölker andererseits vom achtzehnten Jahrhundert ab erschließt, heißt allgemeine Wehrpflicht. Der Weltkrieg hat auch England die allgemeine Wehrpflicht auferlegt; er hat, zum erstenmal in der Geschichte, das gesamte englische Volk gezwungen, einen großen Krieg zu führen. Die Folgen waren denn auch alsbald zu sehen: der Geist der Kritik und Opposition, der in den englischen Volksmassen gärt; das für dieses Volk ganz neue Gefallen an revolutionären Doktrinen, die es ehedem kühl ließen; und schließlich die Nachsicht für Gewalttätigkeiten, die vor kaum zehn Jahren: noch in England Abscheu erweckten. Das sind die charakteristischen Reaktionen der Volksmassen nach einem Kriege, an dem auch sie haben teilnehmen müssen… Einer der Hauptunterschiede zwischen den großen Kontinentalmächten und dem Inselreich ist verschwunden.

Mit diesem Unterschiede ist aber auch das Privileg verschwunden, die Exklusivität der nationalen nursery, dank der allein der insulare Typus des Engländers möglich war. Und ebenso verschwunden ist die materielle Möglichkeit für jenes Herrentum, das auf der Monopolstellung der englischen Industrie beruhte. Gefallen ist ferner das Prestige des weißen Mannes überhaupt. Der englische Hochmut ist der gesamten nichtweißen Menschheit unerträglich geworden. Doch das alles würde nichts schaden, wenn der traditionelle Engländer sich ebenso halten könnte wie der Deutsche, im Wettkampf mit allen anderen in Reih und Glied. Gerade das aber kann er nicht. Er steht und fällt mit seinem Herrentum, das spielen kann, während andere für ihn arbeiten. Das bedeutet nun freilich nicht, dass es mit dem englischen Volke aus wäre. Ganz gewiss wird es sich auch dieses Mal rechtzeitig anzupassen wissen. Ja, es hat es schon getan: der Engländer, den ich hier schilderte, ist eben jetzt dabei, im aufrichtigen Glauben, damit fortzuschreiten, seinen traditionellen Typus zu verleugnen, um im Bürger des britischen Weltreichs aufzugehen. Doch so groß dessen Zukunft sei in der neuentstehenden Welt — die Werte, welche England groß machten, verkörpert er nicht. So ist es nur natürlich, wenn die modernsten jungen Engländer in kaum geringerer Opposition zur Kultur überhaupt stehen, wie die Bolschewisten. Sie sind mit Überzeugung Rauhbeine oder salopp, und im besonderen Feinde alles dessen, worin der Nicht-Engländer das typisch-Englische sieht. Sie sind unkonzentriert, unüberlegen, antihistorisch. Ich zitiere in geringer Kürzung und Zusammenziehung die vom Redner selbst redigierte Zusammenfassung eines Vortrags, den Harold Nicolson, einer der begabtesten unter den Jungen und wahrscheinlich als Politiker ein coming man, 1930 in mehreren deutschen Städten über die junge Generation in England und ihre Beziehungen zur modernen englischen Literatur hielt:

Die moderne englische Literatur ist keine These, sondern ein Gespräch, eine Plauderei… Es gibt heutigen Tages nur zwei Generationen in England. Die Vorkriegsgeneration und die Kriegsgeneration. Die Vorkriegsgeneration (Galsworthy, Bennett, Wells) erscheinen den jüngeren Intellektuellen weder wichtig noch anziehend. Die Vorkriegsgeneration glaubte an die Verbesserungsmöglichkeit der menschlichen Natur. Der Krieg zerstörte diesen Optimismus. Die Kriegsgeneration steht den Theorien, die die Vorkriegsgeneration entweder verteidigte oder angriff (Religion, Kapitalismus, Vaterlandsliebe, Parlamentarismus) nicht nur mit Unglauben gegenüber — sie hat überhaupt kein Interesse mehr für diese Probleme. Sie findet ihre Inspirationen, ihre Themen nicht in den deduktiven Verallgemeinerungen der großen Masse, sie schöpft sie aus dem induktiven Eingehen auf das einzelne Individuum. Die ehemalige Art, aus dem Allgemeinen auf das Besondere zu schließen, war synthetisch, die jetzige Art der Betrachtung ist analytisch.
Welche Ideenwelt repräsentieren diese (meist älteren) Leute, dass sie ihrer jünglingshaften Hörerschaft anziehend und ansprechend erscheinen? Sie setzen sich nicht direkt für eine Ideenwelt ein, sie verabscheuen Theorien, sie halten gar nichts davon, ihre Erfahrungen in bestimmte ethische oder intellektuelle Zettelkästen einzuordnen: sie fühlen, dass jedes Einordnen eine Art Illusion, ein Hirngespinst ist. Sie verwerfen Rührung, Gefühlsseligkeit und Gläubigkeit; die Widersprüche des Lebens faszinieren sie; eine Folgerichtigkeit erregt ihr Misstrauen. Sie fühlen, dass alles im Leben interessant ist mit Ausnahme der Unaufrichtigkeit. Das macht sie skeptisch, pessimistisch und dem äußeren Anschein nach frivol. Sie lehnen Feierlichkeit und sogar Ernsthaftigkeit ab; denn sie haben erfahren, welches Unheil diese Attitüden nach sich ziehen können. Aber sie sind nicht seicht und oberflächlich. Sie denken eher horizontal als senkrecht. Sie denken sich von der Seite her an die Dinge heran, etwa wie Krebse sich bewegen. Sie sind mit Leidenschaft aufrichtig. Und wenn man ihnen aus ihrer zu großen Kälte, aus ihrem zu starken Intellektualismus einen Vorwurf machen will, so muss man doch zugeben, dass sie über eine scharfe und hitzige Empfänglichkeit für moderne Schönheiten verfügen.
Die moderne englische Literatur entstand aus der Ablehnung des Krieges und seiner Folgen und versucht zu beweisen, dass Vernunft wichtiger ist als Gefühl. Die Angriffe auf die zweitrangigen Meinungen der großen Massen wechseln im Grad ihrer Heftigkeit — von dem äußersten bilderstürmischen Nachdruck Joyce’s über den kultivierten Pessimismus von Eliot bis zu dem phantasievollen Entweder-so-Oder-so von Virginia Woolf. Joyce’s Ulysses ist das wichtigste Werk der modernen englischen Literatur. Es vergewaltigt nicht nur alle Theorien der bürgerlichen Weltanschauung, es vernichtet auch die Tyrannei, die Raum und Zeit auf die Literatur sich anmaßen. Joyce’s Theorien hat Virginia Woolf in sich aufgenommen, sie hat sie gefiltert und verschönt. Ein anderer Schriftsteller von großem Einfluss ist D. H. Lawrence. Dieser Künstler ist mit fast mittelalterlicher Heftigkeit besessen von der Pein und Angst des Geschlechtlichen. T. S. Eliot ist der Dichter des modernen Rhythmus. Unter einer etwas verlogenen satyrischen Maske zeigt er die Panik des Pessimismus, die heutzutage den Intellektuellen überrennt. Alles und jedes ist wichtig; alles und jedes ist unwichtig. Eliot ist zerquält von Heimweh nach Gläubigkeit. Diese drei leidzerquälten Dichter, aus deren Heftigkeit und Verzweiflung man die Flüchtigkeit des modernen Skeptizismus herauswittem kann, sind Vertreter ihrer Zeit hauptsächlich durch die Ablehnung aller alten Konventionen. Die anderen wichtigen Persönlichkeiten der modernen englischen Literatur vermeiden jegliche Art von Feierlichkeit ebensosehr, wie sie jegliche Art von Gefühlsseligkeit vermeiden. Lytton Strachey, ein hervorragender Stilist, hat die Bilder der victorianischen Epoche zerstört. Im Roman haben E. M. Forster, Norman Douglas und Aldous Huxley alle Starrheit des seelischen Lebens, eingeschlossen die Starrheit der intellektuellen Haltung, lächerlich gemacht.

Ich leugne nicht, dass dieses neue England sehr interessant ist im Zusammenhang der neu entstehenden Welt. Vom Standpunkt der traditionellen Kultur indessen stellt Harold Nicolsons Darlegung das extremste Bekenntnis zur Dekadenz und zum Untergange dar, das ich mir denken könnte. Möglicherweise ist Jung-Englands Absage an alles Gewesene eine noch extremere als die Jung-Russlands. Beinahe möchte ich es glauben, weil hier Psychisches und Physiologisches zupaar gehen. Der junge englische Mann von heute wirkt gegenüber seinem Vater und Großvater ausgesprochen minderwertig. Vor allem erscheint er minderwertig im Vergleich zur Frau gleicher Generation, welche schöner und begabter als je früher ist. Bei ausgesprochen männlichen Völkern ist solche Umkehrung Entartungssymptom… Vielleicht stellt es sich noch heraus, dass England das einzige Volk war, das im Weltkriege dauernd geschlagen ward. Schon äußerlich liegt diese Erwartung nahe. Sein Sieg ist für England unmittelbar ruinös: bei seiner Struktur und Lage Kolonien heute militärisch schützen zu müssen, bedeutet kaum Besseres als ein Versailler Vertrag… Noch einmal, ich fürchte sehr: das Engländertum, das ich hier schilderte, das allein für Europa von Interesse ist, hat, historisch betrachtet, das Zeitliche bereits gesegnet. Aber es kann privatisierend noch Jahrhunderte weiterbestehen. Und das soll es tun. Es gehört trotz allen seinen Fehlern zum Schönsten, was Europa je hervorgebracht. Und verschwindet es schließlich, als zeitliche Macht, von der Bildfläche, so wird es als geistiges Gen im Menschheitskörper fortleben, nicht anders wie das klassische Griechentum. Denn gemäß dem Gesetz der Einmaligkeit, das alles Leben regiert, wird es gleiche Vollendung wie die englische nie wieder geben.

Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
England
© 1998- Schule des Rades
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