Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

Frankreich

Frankreichs Größe

Die obigen Betrachtungen enthalten, soweit ich sehe, den Schlüssel zu den meisten Problemen, die das Nachkriegs-Frankreich sich selbst und anderen stellt. Auf das Aktuelle werden wir später ausführlicher zurückkommen. Aber einiges zu sagen ist schon jetzt der Ort. Kein Zweifel: solange die neu entstehende Welt im Werden ist, stellt sich die bloße Frage französischer Führerschaft nicht. Ebenso selbstverständlich, wie Frankreich gemäß den Gesetzen der Symbolik der Geschichte in modern-europäischen Vollendungszeiten führen musste, hat es keinen Führerberuf in Zeiten des Neubeginns. Freilich war Frankreich einmal anders. Doch sogar in seinen Pioniertagen war sein tiefstes Motiv nie Wandlung, sondern Selbstbehauptung. Dies gilt zumal von der Französischen Revolution. Bevor deren Ideen das Leben neuzugestalten unternahmen, war Frankreichs sozialer Zustand außer Gleichgewicht. Dank deren Rezeption und Realisierung hat sich gerade das alte Frankreich, das der Königszeit, in veränderter Zuständlichkeit weiterbehauptet. Nun meinen viele Franzosen, Frankreich könne, wie es dies ja offen, zumal mittels des Völkerbundes, betreibt, nach der Revolution des Weltkriegs Europa im selben Sinne restaurieren, wie es sich selbst mittels der französischen Revolution restauriert hat. Doch diese Frage stellt sich vernünftigerweise nicht. Mit dem Weltkrieg hat eine neue Ära begonnen. Nunmehr liegt bis auf weiteres alle Bedeutung bei den Völkern, denen nicht Statik, sondern Dynamik Element ist. Hat nicht schon die kurze Erfahrung der Friedensjahre bewiesen, dass dieser Umstand Frankreich notwendig ins Hintertreffen bringt? Sein Siegertum hat ihm genau nur so viel genützt, dass es sich halten kann. Doch das tut es im Gegensatz zu Europas Fortschritt, und solches Verharrenkönnen ist ein weit Schlimmeres als Niederlage. Katastrophen als solche bedingen im Völkerleben nie wesentliche Richtungsänderungen: auf die Dauer gewinnt trotz allen Zufällen immer der den Vorsprung, dessen Anlage dem Zeitgeist entspricht. Deshalb hat sich kein Deutscher, welcher zählt, durch die Niederlage niedergeschlagen gefühlt (nur weil dem also ist, insistiert man jenseits des Rheins so sehr darauf, dass Deutschland den Krieg verlor). Deshalb arbeitet die Zeit unaufhaltsam, trotz aller Torheiten und Fehler der Deutschen selbst, für Deutschland, während sie ebenso unaufhaltsam, trotz alles Geschicks der Franzosen, gegen Frankreich arbeitet. Wohl mag dieses, dank der äußeren Machtstellung, welche die Blindheit seiner Verbündeten ihm schenkte, und seiner eigenen glänzenden politisch-diplomatischen Ausrüstung im Reich des Sichtbaren noch lange obenauf bleiben. Doch wie wenig das Äußere jetzt schon dem Inneren, das heißt dem letztlich Wirklichen, entspricht, lehrt jeder tiefere Blick in die tiefe französische Seele. Dort herrscht Enttäuschung oder verständnisloses Staunen. Wir haben doch gesiegt… Wir haben uns glänzend bewährt… Wir haben das Recht für uns… Wir vertreten die alte Kultur… Dies alles ist nicht etwa falsch, sondern wahr; nämlich vom französischen Standpunkt. Und wo Völker um ihr Leben ringen, da gilt kein unparteiliches Recht. Aber der französische Standpunkt entscheidet historisch nicht mehr. Und darauf kommt alles an.

Doch Frankreichs Größe beruhte in Wahrheit zu keiner Zeit auf seiner äußeren Machtstellung, schon gar nicht auf materieller Expansion. Drang es über seine Grenzen hinaus, so war es immer nur ein kurzfristiges Aufkochen; sei es, dass der Connetable de Bourbon den Sacco di Roma vollführte oder Ludwig XIV. Pfalz und Heidelberg verwüstete oder Napoleon Europa besetzte oder Poincaré die Ruhr. Es war auch nie ein Kolonialvolk. Verlor er eroberte Gebiete nicht, so assimilierte es sie auch nie. Viel eher, als dass Afrika französisch würde, besteht die Möglichkeit, dass aus Frankreich und Afrika eine neue hybride Einheit würde, wie sie schon mindestens einmal, in der neolithischen Zeit, bestand. Dass Frankreich heute, aller Erfahrung aller anderen zum Trotz, zentralistische Kolonialpolitik treibt, beweist nur, wie wenig es zu kolonisieren berufen ist. Sein Festhalten an der Mystik der France une et indivisible auch nur Elsaß-Lothringen gegenüber beweist Unfähigkeit zu jeder Expansion über seine natürlichen Grenzen hinaus, die nicht etwa die strategischen, sondern die seelischen sind. Paideumatisch gesprochen sind die Franzosen, in Frobenius’ Sprache, kein Weiten- sondern ein Höhlenvolk. Frankreichs König war faktisch meist mächtiger als der deutsche Kaiser, doch schon dem Mittelalter, wo doch noch der erobernde nordische Typus unter dem bestimmenden Adel Frankreichs häufig vorkam, war selbstverständlich, dass der Kaiser jenem gegenüber das Prinzip der Weite vertrat. Gärtner sind eben der Natur der Dinge nach nur im heimischen Garten zu Hause.

Und die natürliche Anlage verstärkt uralte Tradition. Seit römischen Tagen durchlebte Frankreich kein Unstetigkeitsmoment. Dort zerstörte die Völkerwanderung nichts Wesentliches. Die Franken begaben sich zu den Galloromanen nur gleichsam in Pension. Und die feudale Ordnung erwuchs dort recht eigentlich aus dem römischen Privatrecht: nachdem der römische Staatsapparat zerfiel, wurde das erhaltene ökonomische System zur Grundlage des neuen politischen (Fustel de Coulanges). Dementsprechend lebt außerordentlich viel von der Antike in den Seelen der Franzosen fort. Frankreich beurteilt und verwaltet seine Kolonien genau so wie Horn seine Provinzen. Sein ursprünglicher Moralbegriff — le moral — ist vorchristlich. Letzteres geht daraus besonders deutlich hervor, dass der Franzose dem als ihm zugehörig Anerkannten, sei er Landsmann, naturalisierter Fremder, Verbündeter oder Gast-freund (ξένος), der treueste Freund und Gönner ist, doch sich dem Fremden (Barbaren) gegenüber mit bestem Gewissen in einem Grad unmenschlich erweisen kann, wie sonst kein Europäer. Und dies gilt nicht nur in politischem Zusammenhang: ich lag in meiner Pariser Periode einmal monatelang schwer krank im Hospital. Bevor sich französische Freunde meiner annahmen und damit eine moralische Naturalisierung schufen, erlebte ich einen Mangel an Humanität, den ich in Europa nicht für möglich gehalten hätte. Le moral bedeutet dem Franzosen ursprünglich eben nicht anderes wie Maß und Einklang, im einzelnen wie in der Gemeinschaft, also richtig Haltung im Sinn des römischen Edlen.

Und weiter: die lebendige Tradition der französierten Provinz ist mittelalterlich. Ganz richtig bestimmte ein junger Dichter jüngst sein Land dem Geiste nach als un pays de petite noblesse. Alles Moderne in Frankreich bedeutet sonach nicht allein einen Bau auf uralten Mauern, sondern den Überbau eines sehr alten Gebäudes. Ja, das eigentliche Frankreich ist ein Mixtum compositum aus antiker Provinz und Mittelalterlichkeit. Sein verstehendster Beherrscher war insofern Heinrich IV., der dieser besonderen Verschränktheit von Frankreichs Struktur am besten Rechnung trug und nie irgendwie Weltherrschaft anstrebte. Zu solcher ist Frankreich ebensowenig berufen wie das heutige Deutschland. Alle seine imperialen Vorstöße endeten schlecht, weil sie Frankreichs tiefstem Willen nie entsprachen. Und seine imperiale Geste von heute wirkt unmittelbar komisch, weil die heute Bestimmenden allesamt ausgesprochene Provinziale sind; die französische Revolution und erst recht die auf sie folgende bürgerliche Ära hat bewirkt, dass der Geist der antiken Provinz über den der mittelalterlichen Weitentradition das Übergewicht gewann. Ein biederer rheinischer Bauer rief einmal während der Besetzungszeit einen Marokkaner, den er nach etwas fragen wollte, mit hé, victorieux!, an: nachdem er dieses Wort so viel vernommen, meinte er, es sei eine Rassenbezeichnung für schwarze Franzosen. Diese Komik greift sogar auf das geistige Gebiet hinüber, wo die Verhältnisse sonst anders liegen. Verstehen Franzosen ihre magistrature, wo sie noch fortbesteht, so, dass sich die anderen Völker danach richteten, was sie als Menschen meinten und täten, so tritt auch darin ihr provinzieller Charakter zutage. Denn dieser Menschentypus ist ursprünglich einem kleinen Kreise angepasst.

Nein, Frankreichs Größe beruhte nie auf seiner äußeren Machtstellung. Insofern ist es vom französischen Standpunkt unmittelbar tragisch, dass es seit 1918 eine Rolle spielen muss, die ihm so gar nicht liegt. Briands Paneuropaplan ist durchaus keine Wiedergeburt von Napoleons wirklich großartiger Vision, sondern die Konstruktion eines französischen Provinzlers, der zufällig über die größte materielle Macht verfügt. Frankreichs Größe äußert sich dort allein, wo die intime Natur- und die ausstrahlende Geistesanlage eine harmonische Synthese eingehen können. Die nun ist nichts anderes, als was man Kultur heißt. Die französische Kultur allein, von allem Franzosentum, hat die Welt im Guten beherrscht. Sie nun beherrscht sie zum Teil noch heute. Damit wären wir denn bei der eigentlichen Bestimmung Frankreichs angelangt: die Franzosen sind das europäische Kulturvolk par excellence.

Kultur ist Lebensform als unmittelbarer Geistesausdruck. Berufen zu ihr ist als Schöpfer folglich nur ein Volk, das zugleich Geist und Formbegabung hat; ein gestaltungsfreudiges, insofern nach außen zugekehrtes, ein Volk des Wirklichkeitssinns. Tiefste Innerlichkeit an sich ist kulturell bedeutungslos: hier kommt alles auf das Formwerden an, denn die Ebene der Kultur ist ganz und gar die des Ausdrucks, gerade vom Geistesstandpunkt; ihr einziger Sinn liegt ja in dem, dass sie Geist im Erdenleben festhält, dass sie ihn der Zufälligkeit des Neueinfallens enthebt. Dass nun Frankreich im 18. Jahrhundert den Höchstausdruck der alten europäischen Kultur verkörperte, bestreitet niemand. Aber auch heute noch tut es dies. Und heute, wo die alte Kultur im Untergehen begriffen ist, bedeutet dieser Umstand mehr noch als vorher. Gewiss ist diese Kultur im großen nicht mehr neuschöpferisch. Das liegt in der Natur der Dinge. Mit der unseren steht es nicht anders wie mit der griechischen; diese brachte gerade wegen ihrer Vollendung im 5. und 4. Jahrhundert seither nichts wesentlich Neues mehr hervor. Aber in ihrer stationären Spätzeit schuf sie nicht allein viel köstliches Einzelnes: gerade diese Spätzeit, bis in die späte Hellenistik hinein, ist für die neue Ära bedeutsam geworden. Denn die feste, unabänderliche Norm, die sie verkörperte, allein ermöglichte es, dass das wuchernde Fleisch des Neuwerdenden sich zuletzt um das Skelett des Traditionellen schloss.

Diese Norm wurde von jeher von Eliten, nicht von Einzelnen gepflegt, denn Tradition ist niemals Sache des Einzelnen, sondern der Kollektivität. Damit fällt denn vom Standpunkt, den wir hier einnehmen, der gegen das heutige Frankreich oft erhobene Einwand, es produziere keine großen Persönlichkeiten mehr. Solche im deutschen und russischen Verstände bringen nur junge Völker hervor. Wo die allgemeine Kulturbasis sehr hoch ist, entwickelt sich selbst der höchstbegabte Einzelne sehr schwer zu einzigartiger Größe, weil auch das Außerordentliche sich einordnen kann und, so zu hypertrophischer Entwicklung die Bedingungen fehlen; dort wirkt in deutschem Sinne groß nur der individuelle Barbar oder Excentric; so im modernen Frankreich als letzter wohl Balzac. Dann aber war Frankreich nie das Land überragender Einzelner. Zur Überbetonung des großen Einzelnen war es von jeher zu sozial; es hatte von je zu große Angst vor Lächerlichkeit. Alles Übernormale ist ja, äußerlich betrachtet, lächerlich, denn es verstößt gegen das Gesetz des Maßes. Dementsprechend lag Frankreichs Bedeutung von je im Niveau seiner Eliten als Gemeinschaften, nicht in dem von deren einzelnen Vertretern, auch wo diese außerordentlich waren. Dies Niveau nun ist heute nicht niedriger als irgendwann. Und das eigentlich ist es, was Frankreich heute mehr als je vorher als das Kulturvolk Europas erscheinen lässt: repräsentative und autoritative Eliten gibt es sonst nirgends mehr.

Inwiefern dies der Fall ist, erhellt am besten aus einer Betrachtung der Bedeutung von Paris. Diese Stadt ist ein Phänomen. Vielleicht gab es zu Griechentagen Ähnliches, seither sicher nicht wieder; nein, auch zu Griechentagen gab es Gleiches nicht, weil ja Paris’ Bedeutung gerade darauf beruht, dass es Weltstadt ist. Zunächst zu seiner Stellung innerhalb Frankreichs. Dieses Land ist im Laufe der Zeit zu einem insofern einzigartigen sozialen Organismus erwachsen, als es wirklich einen, und nur einen Kopf hat und die übrige Landschaft ausschließlich da zu sein scheint, ihn zu ernähren. Gewiss, die französische Provinz — nur in Frankreich, et pour cause, hat dieser antike Ausdruck noch Sinn — führt ihr eigenes Leben, so sehr, dass heute der regionalistische Gedanke neu hochkommt. Aber sie hat die Vitalität des Magens, der Leber, des Beins. Fühlt sie sich eigenlebig, und sei dies auch so sehr wie die Bretagne, in der nicht einmal das Französische allgemein verstanden wird, so stellt sie doch nie die Frage, Paris zu stürzen; gerade die Wurzelechtheit und Kraft des Provinzlertums ist vielmehr die Gewähr für den Bestand von Paris. Paris nun ist Gehirn und Sonnengeflecht zugleich. Was irgend begabt ist, strebt und gelangt selbstverständlich hin. Und doch verlangt der Sinn wiederum, dass sich seine bestimmende Schicht in stetem Stoffwechsel immer wieder erneut hierarchisch gliedert. Denn Paris steht und fällt mit seiner rein qualitativen Einstellung; von dem Augenblicke an, wo es nicht aristokratisch empfände, wäre es erledigt Insofern es dies nun aber tut, unterstellt es sich selbstverständlich zeitlosen Normen. Wenn man spricht, so muss man die Gesetze der Konversation, der öffentlichen Rede überhaupt beherrschen, und solche gibt es: der Maler muss Bestimmtes können; gewisse Exzentrizitäten sind ein für alle Male unerlaubt. Aber diese zeitlosen Normen präjudizieren doch jeweils nichts über das Konkrete, auf das sie Anwendung finden sollen: Beweis dessen ist, dass gerade Paris das Weltzentrum der Mode ist. Auch deren Wechsel folgt ja strengen Gesetzen; eben die werden in Paris am schnellsten und sichersten erfasst. Vor allem aber muss jede Mode ihrerseits schön sein. Insofern nun gilt der Satz, dass über Geschmäcker nicht zu streiten sei, nicht: unter Voraussetzung bestimmter Gegebenheit gibt es absolut Gutes und absolut Schlechtes. Das Prinzip des Richters über zeitlosen Wert hat Paris, weiter, nun deshalb so einzigartig herausarbeiten können, weil der Franzose im übrigen so wechselfreudig ist, weshalb die Gefahr immer wieder vermieden werden konnte, die absolute Norm mit irgendeinem Inhalt ein für alle Male zu verknüpfen. Im übrigen kam sein Sinn für Klarheit dem gleichen zugute: ein Gedanke ist erst vollkommen ausgedrückt, sofern er klar ist, und nur vollkommen richtig, wofern er klare Fassung verträgt. Nicht anders steht es mit der Anmut und dem Takt. Insofern nun der Sinn für Qualität an sich in Paris so extrem herausgebildet ist, insofern Paris sich als Gerichtshof vollkommen sicher fühlt, kann es alles gelten lassen. Mir gestand es in meinen zwanziger Jahren nahezu die gleiche Stellung zu, die ich heute auf Grund von Leistungen einnehme, nur eben für die spezifische Form des Versprechens. Die Normen für die Erfüllung sind desto strenger. So nimmt Paris jedes Neue unbefangen auf und verfällt ihm dennoch nie. Man wittere hier keinen Widerspruch mit dem über die Beschränktheit des Franzosen und seine Unfähigkeit, Fremdes zu verstehen, Gesagte. Die Normen von Gut und Schlecht gelten für jedes Niveau. Wer Qualitätsbewusstsein überhaupt hat, bewährt es auch gegenüber Gegenständen, die er kaum versteht. Im übrigen bedarf es zum Richter- wie zum Königtum kaum der Originalität oder des persönlichen Verständnisses für solche. Im großen betrachtet, folgt das Menschenleben seit Adams Tagen den gleichen Normen. Das Menschengeschlecht ist überaus erfindungsarm. Die bloße Tatsache, dass Statistik die Erkenntnis und die Praxis fördert, beweist, dass auch beschränkter Verstand, wenn er das Leben nur aus normaler Perspektive sieht und genügende Erfahrung hat, dasselbe meistern kann. Dieselben Engländer, die gewaltige imperiale Leistungen vollbringen, denken persönlich fast immer nur ans Nächstliegende; von den Völkern, die sie so weise behandeln, haben sie meist keine Ahnung. Und dass ihre scheinbar so sinnwidrige Gepflogenheit, die Fähigkeit des Nachwuchses zu führender Betätigung jeder Art danach zu bemessen, wie er sich auf athletischem Gebiet bewährte, sich in der Praxis nicht ad absurdum führt, muss vollends als Beweis dessen gelten, wie wenig es, im ganzen, auf geistige Originalität ankommt, ja wie geringen Verstandes es zur Menschenführung bedarf. So hindert die physiologische Unfähigkeit, Fremdes zu verstehen, die Franzosen nicht, dieses im Zusammenhang des Lebens sehr häufig, richtig zu beurteilen. Gesunder Menschenverstand und logische Schärfe bewähren sich eben überall. Klar Gedachtes ist überall klar, präzise Formel der ungenauen immer überlegen. Der bloße Ausdruck magistrature, den Frankreich für seinen kulturellen Vorherrschaftsanspruch verwendet, öffnet die Tür zum richtigen Verständnis: der Lehrer ist oft viel törichter als seine Schüler, und doch hat er recht und fördert er mit seiner Zensur. Paris nun handhabt sein Amt des Zensors dank seiner ästhetischen Einstellung, seiner ungeheuer reichen Erfahrung, seinem sicheren Geschmack, seiner logischen Sicherheit, der großen Distanz, aus der es alles Fremde betrachtet, und last not least aus dem Geist seiner traditionellen Courtoisie heraus mit einer bonne grâce, die auf Erden nicht ihresgleichen hat. Ist da ein Wunder, dass die meisten auf Qualität beruhenden Weltreputationen in Paris gemacht werden? Mag Paris noch so vieles nicht verstehen: wer sich in Paris bewährt, hat sich vor der Menschheit bewährt.

Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
Frankreich
© 1998- Schule des Rades
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