Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

Italien

Fascismus

Nun zum jüngsten, dem fascistischen Italien und darüber hinaus zu dem, worin Italien menschheitsbedeutsam erscheint in der neuentstehenden Welt. An erster Stelle seien einige landläufige Missverständnisse berichtigt. Die Fascisten selbst und deren Freunde in der ganzen Welt meinen, mit dem Fascismus sei ein im theoretischen Sinn absolut höheres Regierungssystem zur Herrschaft gelangt. Davon ist natürlich keine Rede. Es gibt überhaupt keine absolut besseren oder schlechteren Regierungsformen, sondern nur dem faktischen Zustande besser oder schlechter angepasste, insofern sie diesen mehr oder weniger gut in Form bringen und zur Höchstleistung anregen. Und die jeweilige Fortschrittslinie, die man konstruieren mag, gilt nie in einem anderen Sinn, als dass sich die Seelen höherentwickelt haben und der äußere Zustand diesem Umstand Rechnung trägt. Dass nun die Fascisten in diesem Verstand ihren Vorgängern überlegen wären, wird kein Unparteiischer behaupten: sie sind unstreitig primitiver, wilder. Der ganze Vorzug des Fascismus als politischer Form beruht auf dem Relativum, dass einem von Instinkts wegen anarchischen, seit Jahrhunderten keiner starken nationalen Staatlichkeit teilhaftigen, dank der ihm unkongenialen liberalen Ära politisch demoralisierten Volk eben das not und gut tat, was Deutschland zuletzt seiner Kraft verlustig gehen ließ: Etatismus. Auch für Deutschland war Etatismus einmal von reinem Vorteil; sonst stände es heute noch da, wie vor Napoleon. Doch nachdem der lebendige Impuls zur toten Routine geworden, wirkte er Unheil; ebendeshalb frommt Deutschland heute gerade Demokratie, denn nur dank ihr kann das Erstarrte sich verflüssigen. Aber auch der Fascismus wird für Italien genau nur so lange Heil bedeuten, als sein lebendiger Impuls währt. Sobald die sich schon bildende fascistische Bürokratie ihrerseits in ihre Erstarrungsphase eintritt, wird wiederum anderes frommen. Denn noch einmal: nicht das Prinzip ist wichtig, sondern die lebendigen Kräfte sind es, die es auslöst. Und es gibt nur ein politisch absolut Schlechtes: die Routine an sich.

Aber ebenso falsch, wie die doktrinären Pro-Fascisten, sehen die Lage ihre doktrinären Gegner an. Zweifelsohne widerstreitet die fascistische Praxis nicht nur dem Buchstaben, sondern auch dem Geist des liberalen Ideals, und zweifelsohne vertritt dieses Menschheitswerte. Aber nicht immer sind sie von ihm her zu verwirklichen. Da der eine Feind alles Lebens die Routine ist, so ist sogar ein erstarrter theoretischer Idealzustand ein reines Übel. Zu seinen Ungunsten sprechen weiter die folgenden Momente. Das liberale Ideal mit seinem absoluten Gerechtigkeits- und Billigkeitsanspruch basiert alles Leben sozusagen auf wohlerworbenem Recht. Es berücksichtigt gar nicht, dass das Leben ein Prozess des Werdens und Vergehens zugleich ist; es eskamotiert den Tod. Deswegen züchtet es zwangsläufig unheroische Gesinnung. Aus diesen Erwägungen folgt nun, dass es im Guten nur Endzuständen entspricht. Ebendeshalb aber muss es bei jedem Neuanfang fallen. Es muss, der Gerechtigkeit und Billigkeit zum Trotz, mit Veraltetem aufgeräumt werden, wenn neues Leben aufblühen soll. Alles Sterben ist vollendet unbillig und vollendet ungerecht, denn vom liberalen Standpunkt hat jeder Lebende, je länger er lebt, auf desto längeres Leben ein desto besser erworbenes Recht. So ist gegen die Gewaltmethoden des Fascismus wenig zu sagen, vorausgesetzt, dass sich das italienische Leben dank ihm tatsächlich erneut. Wann kam die Erneuerung je anders? Jeder große König verfuhr, wenn es radikale Reform galt, bolschewistisch.

Es stellt sich also weder die Frage, ob der Fascismus ein absolut bestes Regierungssystem eingeführt hat, noch ob er als Totengräber des Liberalismus zu verurteilen sei, sondern einfach, ob er Italien und davon ausstrahlend die übrige Welt als Zeiterscheinung fördert. Dies tut er nun ohne Frage. Er tut es allein aus dem einen, aber letztentscheidenden Grund, dass das Prinzip des Heroischen sein Α und Ω ist. Dieses aber ist das Höchste, aus welchem Völker überhaupt leben können. Doch auch dieser Umstand hat mit der fascistischen Idee an sich nichts zu tun: einmal löste der liberale Gedanke Heroismus aus. Kann er es heute nicht mehr tun, so liegt das daran, dass er psychologisch seinen Kreis durchlaufen hat. Damit gelangen wir denn zum Hauptaktivposten des Fascismus. Zur Fortentwicklung bedarf es heute nicht nur der Akzentlegung auf Heroismus überhaupt, sondern extremer Akzentlegung. Warum? Weil die liberale Ära die der dominierenden abstrakten Herausstellungen war, der Programme, der Ausgleichsvorstellungen, der Sachen; der lebendige Mensch blieb außer Spiel wie nie zuvor. Da musste denn dieser mit primitiver Urgewalt einsetzen, um die Kruste der starren Sachlichkeiten zu sprengen. Hieraus erklärt sich denn in erster Instanz, wieso gerade zurückgebliebene Länder dieses Mal als Stoßtruppen des neuen Zeitgeists wirken konnten; denn nicht nur Russland und die Türkei müssen als solche gelten, auch Italien. Nicht allein hat dieses Land die Industrialisierungsstufe der großen Westmächte nicht erreicht, gleiches gilt von der Zivilisierung. Man lese Mussolinis Biographie: die Romagnolen, unter denen er aufwuchs, waren rechte Wilde; und nicht minder primitiv und wild sind Mussolinis eigene Instinkte. In zivilisatorisch zurückgebliebenen Ländern war es ebendeshalb leichter als anderswo, die Form der liberalen Ära zu durchbrechen. Dann waren die Instinkte seiner Bewohner kräftiger. Endlich leisten die Massen dort dem Führer den geringsten Widerstand. Von hier aus übersehen wir denn, wieso gerade das primitive Italien in dieser Wende nicht allein für sich viele Etappen überspringen, sondern in einigen Hinsichten an die Spitze der europäischen Entwicklung gelangen konnte.

Doch das bisher Gesagte genügt zur Erklärung noch nicht. Dass Italien so dastehen kann, wie es dies heute tut, liegt weiter an dem, dass es in einer Hinsicht den anderen Völkern psychologisch unmittelbar voraus ist: es hat die große Umwälzung, welche der Weltkrieg im übrigen Europa erst einleitete, schon mit Cavour durchlebt und ist insofern sozial um drei viertel Jahrhundert älter. Ihm wurde ferner das Glück zuteil, in der Zwischenzeit zwischen damals und heute, an äußeren Erfolgen arm, nahezu unbeachtet zu bleiben, weshalb die intimen Kräfte der Nation sich nicht in äußerer Schaustellung vorzeitig verbrauchten. Die Gründung des dritten Italiens zerstörte, in der Tat, das vorangehende nicht minder gründlich, wie dieses Weltkrieg und -revolution mit Mittel- und Osteuropa taten; sie leitete eine grundsätzlich gleiche Veränderung und Verschiebung aller bestehenden Verhältnisse ein. In den langen Jahrzehnten von Cavour bis 1914 erwuchs, unsichtbar zunächst, ein neues lebendiges Gleichgewicht von Volkskörper und -seele. Kein Wunder denn, dass die Schmelzhitze der Kriegszeit, die im übrigen Europa Zerstörung bedingte, in Italien das genaue Gegenteil: die neue Synthese schuf. Dass im übrigen zu diesem Ergebnis auch sogenannte Zufälle beitrugen, ändert nichts am Sachverhalt: ohne sinnvolle Zufälle kam noch kein geschichtliches Ereignis zustande. Die Zufälle, die Italien zu Hilfe kamen, waren allerdings selten sinnvoll. Der Ausgang des Krieges hat bewirkt, dass dieser für Italien, und zwar für Italien allein, völlig gleichgültig, aus welchen Beweggründen es zunächst in den Krieg mit eintrat, eine unbedingte praktische Rechtfertigung idealer Gesinnung bedeutete. Italien hatte zwar gesiegt, doch nicht soviel, dass dies von Hause aus brutalem Machttrieb das seelische Übergewicht gewinnen konnte; es hatte materiell nur wenig, ideell und moralisch unermeßlich viel gewonnen, denn in seinem Fall bedurfte, nicht anders wie einstmals bei der Erschaffung des Preußenstaates, die reine Selbstsucht der Anerkennung idealer Werte, um sich befriedigt zu fühlen; und diese musste Italien innerlich desto mehr betonen, als es wohl wusste, dass sein Verhalten vor und während des Krieges nicht immer ideal gewesen war. So hat erst der Weltkrieg das dritte Italien geboren. Alles Vorhergehende gehört ins Gebiet der Embryologie.

Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
Italien
© 1998- Schule des Rades
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