Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

England

Instinkt

Worin liegt das Unverständliche dieser Insulaner? Es liegt an der in Europa einzigartigen Einstellung ihrer Psyche. Bei ihnen ruht der Akzent nicht auf dem Bewusstsein, sondern dem Unbewussten. Nicht Verstand, sondern Instinkt, im Höchstfall Intuition, bestimmt ihr Leben. Diesem aber erscheinen sie, als extravertierte Empfindungstypen, d. h. als Menschen, die ursprünglich nach außen zugekehrt, mittels ihres Empfindens ebenso direkten psychischen Kontakt mit ihrer Umwelt haben, wie ihn ein jeder physisch hat, ganz anders selbstverständlich eingefügt als irgendein anderer Europäer. Zu ihrem Wesen findet zumal der Deutsche und der Franzose, d. h. der Denktypus unter uns, nur durch Vergleich mit Tieren verstehenden Zugang. Als Marschall Roberts starb, enthielt ein Nekrolog den Satz: Roberts besaß zwei große Tugenden: erstens seinen Instinkt, zweitens seinen Glauben an seinen Instinkt. Man höre Franzosen einen Foch oder Deutsche einen Moltke so beurteilen! Auf dem Kontinent pflegt man dergleichen allenfalls über prämiierte Jagdhunde auszusagen. Jagdhund mehr als menschenähnlich erscheint nun die englische Veranlagung dem denkenden Kontinentalen durchaus. Der Durchschnittsbrite reflektiert eigentlich nie. Tut er’s, so ist das Ergebnis meist verheerend; gilt letzteres ausnahmsweise nicht, so überkommen uns unwillkürlich die Gefühle, auf die sich das Wort Rivarols bezieht: Si un homme, connu pour être bête, dit un mot d’esprit, cela a quelque chose de scandaleux, comme un cheval de fiacre au galop. Wenn irgendwo, dann gilt im Fall der so exquisiten echten Geistigen Englands, dass die Ausnahme die Regel bestätigt. Die ganze Nation als solche hat gegen Denken und vor allem gegen Insistieren auf geistigen Problemen ein unüberwindliches Vorurteil. Ich begriff nicht, warum englische Kritiker ausgerechnet mir lack of sense of humour vorwarfen, bis ich erkannte, dass dies die englische Art war, ihnen Unbequemes zu erledigen. Wie ein Sozialreformer jenseits des Kanals durch die bloße Insinuation that he sneers at the king ohne weiteres unmöglich zu machen ist (oder doch kürzlich noch war), so wird der Gefahr tieferen Denkens durch die Suggestion dessen vorgebeugt, dass es Humorlosigkeit als lack of sense of proportion beweise. Und ein klargefasster tiefer Gedanke fällt auch wirklich aus dem Normalzusammenhang englischen Lebens heraus. Schon zu Königin Elisabeths Zeiten war der deutsche Geist (er bewirkte bekanntlich die Reformation mit ihrem Anspruch auf Selbstdenken) ein Schreckgespenst für respektable Briten; schon damals galt Geist als solcher als ungesunder deutscher Import. Jedem Philosophen wird drüben deutsche Schwere vorgeworfen. Und nicht mit Unrecht: es ist unmöglich, als Philosoph überhaupt nicht vollkommen unenglisch und in der modernen Welt nicht wesentlich deutsch zu sein, so wie jeder Philosoph in Römertagen wesentlich griechisch erschien.

Doch derselbe Engländer, der gegen geistige Problematik eine an Ekel grenzende Abneigung spürt, urteilt oft auch auf geistigem Gebiete sicherer als ein nicht hochbegabter Kontinentale, vorausgesetzt, dass das fragliche Problem ihn innerlich angeht. Geht es ihn nicht innerlich an, dann urteilt er andererseits auch nicht. Hier sehen wir wieder den Vorzug tierartiger Anlage: der tierische Instinkt ist unfehlbar; aber er setzt dort allein ein, wo es im Zusammenhang des Tierlebens nötig und richtig ist; ihm nicht Entsprechendes ist für ihn einfach nicht da; es fehlt in seiner Merkwelt. Hier liegt denn der schöpferische Sinn der oft bemerkten Tatsache, dass Engländern die Tat ihr ein und alles ist; junge Leute tun etwas zusammen, sie reden kaum, oder wenn, dann doch nur offenkundig Nebensächliches oder Sinnloses; für alle ist das rising to emergencies typisch — wenn ein bestimmter praktischer Entschluss zu fassen und auszuführen ist, dann fällt er ihnen auch ein; und alle sehen im Daherlaufen hinter einem Ball ein Sinnvolleres als im Lesen guter Bücher, das nicht die Vorarbeit zu irgendeinem praktischen Erfolge darstellt. Hieraus wird weiter klar, inwiefern die so willensmächtigen Engländer, denen self-control Nationalideal ist, doch durchaus keine Willensmenschen sind: der Sinn des self-control-Ideals liegt in andauernder instinktiver Tatbereitschaft; der Hemmungsmechanismus des eigentlichen Willens setzt nur bei Reflexion ein; die Engländer aber leben wie die Tiere aus dem spontanen Unbewussten heraus, die Grundfunktion, mittels deren sie ihre Ziele erreichen, ist folglich, genau gemäß Coué’s Lehre, die Phantasie. Endlich erklärt sich aus ihrer Tierhaftigkeit ihre besondere Härte und Rücksichtslosigkeit. Noch nie vernahm man von einem Löwen oder Wolf, der sich, solang er hungrig war, menschlichen Erwägungen zugänglich erwies; wozu der Instinkt sie treibt, das setzen Raubtiere unbefangen durch. Sind sie satt, dann sind sie andererseits harmloser als Hunde. In der Zeit, da Briten und Franzosen um die Vorherrschaft in Nordamerika stritten, waren beinahe alle Indianer der letzteren Freunde: sie ließen besser mit sich reden. Aber ebendeshalb unterlagen sie.

Ja, der Engländer lebt aus anderen Grundfunktionen heraus als wir. Er ist der Tiermensch. Ist er auf der untersten Stufe Pferdemensch mit entsprechendem Pferdegesicht; ist er im allgemeinen, in der Terminologie der Huterschen Physiognomik, Bewegungstyp, weshalb die hübscheste Miss durch Mangel an Innerlichkeit so oft einem Tennisracket gleicht — wie soll ein Weib sinnlichen Charme entwickeln, wenn es grundsätzlich old girl tituliert wird und das höchste Lob lautet, dass sie good sport sei? wie soll es nicht, so entzückend es in seiner Jugend sei, im selben Sinn, wie der napoleonische Soldat den Marschallstab im Tornister trug, die wetterharte alte Jungfer mit den langen Zähnen und nicht die Geliebte und Mutter im Tornister tragen? —, so ist er im Höchstfall das Idealbild des politischen Tiers. Da nun ist er in politischen Belangen ebenso sicher wie der Vorsteherhund in Rebhuhn-Fragen. Aber er weiß eben auch in der Politik wie ein solcher Bescheid, nicht wie ein denkender Mensch. Meist denkt er sich gar nichts dabei, was er betreibt; wenn im europäischen Sinne denkfähige Engländer — und freilich gibt es solche — darin übereinstimmen, dass to muddle through der Normalweg englischen Vorwärtskommens sei, dass das britische Weltreich ohne entsprechende Absicht entstanden ist, so wissen sie wohl, was sie sagen. Jedenfalls denkt der fähigste englische Kolonialbeamte, dem man die weitsichtigsten Maßnahmen nachweisen kann, für sich selten an anderes wie an Essen, Trinken, Sport, und wenn er jung ist, an Flirt. Das heißt, sein Bearbeiten der Fragen seines Ressorts, und sei dies noch so gründlich, ist nicht Ausdruck primären Interesses, sondern sekundäre Auswirkung instinktmäßiger Orientierung.

Nun lebt aber England nicht mehr allein für sich; es muss so tun, als seien seine Eingeborenen Leute wie andere Menschen. Daraus ergeben sich denn die wunderlichsten Situationen. Englische Staatsmänner begründen, als ob sie Franzosen wären, sie bekennen sich zu Programmen und Idealen, als seien sie Deutsche. Doch die Begründungen halten selten dem leisesten Nachdenken stand, die Programme wechseln mit der Windrichtung, und was die Ideale betrifft, so scheint keine Praxis je für Engländer mit diesen in Widerspruch zu stehen. Der naive Kontinentale hat natürlich den Eindruck vollendeter Unaufrichtigkeit, von Perfidie und Charakterlosigkeit. Aber die Folgen der sogenannten Heuchelei, des sogenannten Umfallens, beweisen, dass der Eindruck nicht richtig sein kann. Trotz aller bewiesenen Hypokrisie findet England immer wieder Vertrauen, trotz allem Umfallen verliert es nicht allein seine Würde nicht, es kommt voran, und wie. Während der napoleonischen Kriege verlangte ein spanischer General einmal vom bedrängten Engländerführer, der ihn um Hilfe anging, er solle zuerst auf die Knie vor ihm fallen. Nachher erzählte dieser daheim beim Portwein: down I went, of course… Alle Welt in England verstand. Dank dem hatte er ja gesiegt. All’s fair in love and war. Gerade wo es sich um Ideologien und dergleichen handelt, ist für den Briten expediency das erste und letzte Wort. Wie soll der Durchschnittskontinentale das verstehen? Das meiste und wichtigste dessen, womit sein Bewusstsein sich an erster Stelle befasst, was dieses füllt, bestimmt, spielt beim Briten eine sekundäre Rolle. Auch dieser bekennt hohe Ideale, doch sieht man näher zu, so sind das vom Europäerstandpunkt aus Spielregeln; in welchem Sinn, haben Galsworthys Loyalties enthüllt. Man muss seinem Land, seiner Partei, seinem Stand, seinen Vorurteilen gegenüber loyal sein. Die Frage absoluter Werte stellt sich nicht. Es ist gleichsam Zufall, wenn unsere Ideale mit englischen koinzidieren, was sie übrigens in Fragen des Privatlebens häufig tun; die psychologische Wurzel des Gleichen ist jeweils verschieden. Der Brite lebt aus Instinkt, aus Intuition, braucht den Verstand nur, um diesen den Weg zu ebnen, zumal um Zeit zu gewinnen. Das kann zumal kein Deutscher verstehen, dem abstrakte Erwägungen bestimmende Wirklichkeiten sind.

Aus allen diesen Gründen ist das meiste dessen, was in Deutschland und dem ihm in Verstandessachen so ähnlichen Frankreich über Engländer geschrieben wird, falsch. Und es war wohl immer falsch. Gab es je den berühmten englischen spieen? Dieses Volk hat gewiss mehr Wandlungen durchlebt als irgendeines. Dank seinem unmittelbaren psychischen Kontakte mit der Außenwelt und seiner Unbewusstheit wandelt es sich unwillkürlich in Korrelation mit Zeiteinflüssen. Ganz selbstverständlich will es unter neuen Verhältnissen nicht mehr das Alte. Neue geistig-seelische Impulse dringen beim Engländer, ohne ihm meist bewusst zu werden, viel tiefer als bei anderen ein, sie wirken sich in seiner ganzen Psyche aus und produzieren dadurch Veränderungen, die bei bewussteren Völkern, die überdies an Prinzipien glauben, viel langsamer, wenn überhaupt, erfolgen. Insofern ist es gerade der von den Franzosen so perhorreszierte Empirismus, der den Engländern ermöglicht, zeitgeistbedingte Krisen rechtzeitig vorwegzunehmen. Er bedingt gleichzeitig ihre so glückliche Unsentimentalität, ihr Nicht-an-der-Scholle-kleben, ihr inneres Preisgeben des Unhaltbaren: was beim Bewussten Erinnerung bliebe, setzt sich bei ihnen in aktuelle Neueinstellung um. Die Engländer der Normannenzeit waren baltischen Baronen am ähnlichsten, die des elisabethanischen Zeitalters unterschieden sich nur wenig von den Vlamen der Unabhängigkeitskriege; wenn Shakespeare Brite war, so hätte es fast auch Rubens sein können. Der Puritaner, der Methodist waren jeweils ein völlig Neues, und so hat England auch den Weltkrieg physiologisch am tiefsten erlebt; der zwanzigjährige Brite ist heute dem Bolschewisten verwandter wie seinem victorianischen Großvater. So redet die englische Miss heute ebenso unbefangen von ihrem sexual complex, wie sie früher in Form victorianischer Unschuld unbefangen war. Allein ich zweifle, noch einmal, ob es jemals spleen gab. Die Dinge liegen wohl so: die Kontinentalsperre hatte einfach den insularen Charakter der Eingeborenen der Britischen Inseln zeitweilig überpotenziert. So wirkten sie noch unverständlicher als sonst. Zumal sie zuerst, nach Aufhebung der Sperre, arg exzentrisch auftraten, in Kleidung (die Operetten meiner Jugendzeit enthielten noch das Echo davon) wie auch sonst. Einer der ersten Lords, der den Kanal überquerte, ließ sich in Paris, wo er auch ging, von einem Lakaien einen Papagei vorantragen. Äußerlich berührte sich dies mit der Gepflogenheit des Dichters Gérard de Nerval, auf den Boulevards in Begleitung einer gezähmten Languste zu flanieren. Doch es bedeutete anderes. Beim Franzosen war es die Selbstreklame eines Dichters, der nach Lesern angelte; beim Engländer unbefangener Individualismus.

Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
England
© 1998- Schule des Rades
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