Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

Die Schweiz

Neutralität

Hier wäre denn der Ort, einige Worte über das Schweizerisch-Nationale zu sagen. Sicher äußerte sich die schweizerische Verkrampftheit nicht so, wenn die Schweizer nicht Deutsche wären. Das sind sie nun so sehr, dass das nationale Schweizertum als Karikatur des Deutschtums am besten zu bestimmen ist. Denn der Deutsch-Schweizer hat der Schweiz diesen Typus gegeben, die erst später dazu gekommenen Welschen sind nur angeschweizerte Romanen. Dies hat der Weltkrieg mit seinen Folgen bewiesen. Nirgends findet Léon Daudet ein so großes und begeistertes Publikum, wie in der französischen Schweiz, und speziell von Lausanne zirkuliert das Witzwort: Peut-être que Paris pardonnera un jour aux Allemands; Lausanne — jamais. Die französischen Schweizer sind ihrem Wesen nach französische Protestanten aus besonders enger Provinz, die in der Fusion mit dem wesentlich deutschen Schweizertum an Feinheit und Differenziertheit, zumal der Gefühlssphäre, verloren und dafür ein gut Teil Derbheit und pompousness (wie der Engländer die betreffende deutsche Untugend unübersetzbar gut bestimmt) eingetauscht haben; so wirken sie heute im ganzen als die schlimmsten der französischen Bourgeois — als die schlimmsten, weil sie die unschlichtesten, aufdringlichsten und seelisch dürrsten sind; sie fühlen sich eben sowohl als Franzosen wie als Schweizer nicht ganz sicher. Die Schweiz ist unter allen Umständen die Karikatur des Deutschland, das zwangsläufig entstehen wird, falls die jetzt herrschende demokratische Ordnung und die Bevormundung seitens der anderen Mächte andauert. Denn dann wird auch Deutschland bedingungslos neutral bleiben müssen, um sich zu halten. Dann wird diese Neutralität auch ihm sehr großen materiellen Gewinn bringen. Und dementsprechend wird der Typus des Neutralen national-bestimmend werden. — Also: der Kantönli-Geist ist die Karikatur des deutschen Partikularismus. Die Bedeutung der Bodenständigkeit in der Schweiz ist die Übersteigerung des allgemein deutschen Heimatsgefühls; in der Schweiz bedeutet Bodenständigkeit beinahe noch so viel wie Bürgerschaft in den antiken Republiken. Die Neutralitätsstellung der Schweiz ist der Höchstausdruck dessen, wozu deutsche Sachlichkeit im Schlimmen führt: dem vollkommenen Überwiegen des Billigkeits- über den Gerechtigkeitsgedanken. Die Billigkeitsforderung bedeutet nämlich in allem die Negation des Gerechtigkeitssinns, denn sie setzt Gleichberechtigung unabhängig vom Wert. Wo Gerechtigkeit gilt, muss der jeweils Entscheidende den Mut zur Parteinahme haben; nämlich zur Parteinahme für das qualitativ Bessere. Geraten ein Heiliger und ein Schurke in Konflikt, so ist es zwar billig, wenn sich beide auf mittlerer Linie begegnen, so dass beider Interessen gewahrt bleiben, doch einzig gerecht, dass der Schurke unschädlich gemacht wird. Vom Billigkeitsstandpunkt hat kein Schiedsrichter Höheres zu tun, als zwischen zwei Tatbeständen, unabhängig vom Wert, ein Kompromiss zu schaffen, was keinerlei persönliches Risiko involviert, denn jedes Urteil lässt sich rein sachlich motivieren. Hier entscheidet tatsächlich Unparteilichkeit, aber eben damit Feigheit und letztlich Gemeinheit. Was auch in Deutschland seit Versailles — ich will nicht sagen immer mehr, aber doch sehr unerfreulich deutlich — in die Erscheinung tritt, ist in der Schweiz konsolidierter Nationalcharakter. Und zwar haben die Umstände dort eine Hypertrophie der Unparteiischkeit im schlimmsten Sinn herbeigeführt. Die Schweiz muss, seitdem sie nicht mehr für sich leben kann, zwischen Mächtigen lavieren; sie muss Geschäfte machen, um zu leben, wie es gerade geht. Daraus hat sich denn sehr natürlicherweise auf die Dauer vollkommene Gesinnungslosigkeit auf allen Gebieten ergeben, wo persönliches und nationales Interesse dies praktisch erscheinen lässt. Neutralität an sich schon ist recht eigentlich Gesinnungslosigkeit. Sie ist, wie der große Ethiker Albert Schweitzer jüngst so erfreulich stark betont hat, an sich unethisch1; zwischen Neutralität und Schiebertum fehlt jede feste Grenze. Wird sie nun gar, vom Unbewussten her beurteilt, nicht aus innerer Schiedsrichter-Anlage, sondern zu persönlichem Vorteil geübt, so muss sie verbildend wirken, und zwar zwangsläufig mehr von Jahr zu Jahr. Selbstverständlich sind im Falle der Schweiz die Umstände schuld. Aber gleiches kann auch der Eingeweidewurm für sich sagen. Und sind Schweizer in anderen Hinsichten desto aufrechter, zeigen sie desto mehr Idealismus dort, wo ihre Interessen dies gestatten, sind sie also auch sachlich und billig im besten Sinn — z. B. in der Asylfrage, in der Behandlung von Kriegsgefangenen usw. —, so ändert das doch nichts an der anderen Seite, desto weniger, als dieses Gute Erbe aus andersgearteter Vergangenheit ist und deshalb unter den neuen Verhältnissen aussterben kann. Auch hier erweist es sich, dass alle Schweizer Tugenden einen engen Rahmen voraussetzen. Blieb das einzelne Bergdorf neutral, wo sich die Städte stritten, so war dies nicht verwerflich, denn des Dörflers Horizont reicht tatsächlich nicht bis zur Stadt; hier entscheidet das Motiv, dass er seine Scholle gegebenenfalls todesmutig verteidigt hätte. Doch beim Baseler, beim Zürcher, beim Berner Patrizier früherer Tage lagen die Dinge schon anders, und ganz anders liegen sie bei der heutigen beinahe als Großmacht anerkannten neutralen Schweiz; ganz anders liegen sie bei jedem einzelnen Schweizer, dessen psychologische Struktur verbietet, die Achtung vor dem anderen, was immer er tue, als letztes Motiv gelten zu lassen. Neulich las ich auf einem Hause eines Schweizer Bergdorfs die Aufschrift: Der eine betracht’s, der andere acht’s, der dritte veracht’s, was macht’s! Bei jedem Gebildeten und in höherer sozialer Stellung Befindlichen bedeutet solche weltfremde Gesinnung Gesinnungslosigkeit.

Und wenn die deutsche Billigkeit und Sachlichkeit in der Schweiz ihre Karikatur findet, so tut es auch die deutsche Persönlichkeit, die überall herrschende Sachlichkeit kompensiert. In Deutschland, wo immer nur von der Sache geredet wird, entscheiden weit mehr als in Frankreich letztlich persönliche Motive; das zeigt sich vor allem in der Politik und in Gelehrtenfehden. In der Schweiz tritt das gleiche grotesk in die Erscheinung. Ich zitiere aus einem Aufsatz Drei Jahre Schweiz von Herbert Schäffler, dessen Inhalt offenbar von den Schweizern selbst nicht beanstandet wird, da ihn der löbliche Berner Bund höchstselbst abgedruckt hat:

Ich erlebte eine Reihe von Wahlen, Pfarrerswahlen, in der Presse, Lehrerwahlen in meinem quasi-Berufsbereich. Da bin ich als Demokrat vor dem Volk erschrocken. Es wurde da von Machenschaften, Umtrieben, Eifersüchteleien, Eigennützigkeiten gesprochen, die für mich völlig unerwartet das Bild der Sachlage rasch trübten. Der Volkswille stand plötzlich als Kegelklubwille, als Gesangvereinswille, als politisch-parteilich bedingter Kommissionswille, als Lokalclique oder Freimaurerzusammenhalt da. Auch das würde mich nicht erschrecken, wenn ich nicht verschiedentlich das Gefühl gehabt hätte, dass schließlich von sachlichen Gesichtspunkten kaum noch etwas zu hören war. Eine Reihe von Schweizern, mit denen ich diese Dinge durchsprach, steckten mir noch ganz andere Lichter auf. Und weiter: Eine andere Frage erhebt sich dem denkenden Betrachter angesichts der Nachkriegsentwicklung. Das Schweizervolk ist zahlenmäßig nicht stark. Es wird zu internationalen Aufgaben, zu Missionen aller möglichen Art immer stärker herangezogen. Es wächst wie kein anderes in die Organisation des Völkerbundes hinein (schon gibt es, wie ein vor mir geprüfter Abiturient, ein Genfer Adliger, zu erkennen gab, in Genf eine Völkerbundskarriere, die man bereits in den mittleren Gymnasialjahren sich vornehmen kann). Geht die Entwicklung auf dem sich immer deutlicher abzeichnenden Wege weiter, so wird die Schweiz mehr und mehr Ausgleichplattformen für die europäische, ja für die Weltpolitik. Und da fragt sich der, der die Schweiz liebt, ob hiermit nicht ein sehr starkes Schicksal auf Schultern gelegt wird, die nicht immer dem allem gewachsen sein könnten. Diese Frage stand zum ersten Male an einem Winterabend vor drei Jahren vor meinen Augen, als mir Ahnungslosem ein Schweizer erzählte, dass die internationalen Möglichkeiten einen Ausgleich schaffen helfen für die ungenügende Dotierung und vor allem Pensionierung hoher eidgenössischer Beamter. Ich war über diese Ansicht der mir sehr ernsten internationalen Dinge etwas verblüfft und hielt das Vorgebrachte für persönliche Meinung. Bei anderen Gelegenheiten hörte ich als Ergänzung, dass der Direktor einer solchen internationalen Stelle ja doch nicht so viel zu tun habe, dass die Arbeit ja mehr unter ihm erledigt werde. Es darf doch mit aller Bescheidenheit gesagt werden, dass die Welt schwerlich den Haag und Genf und die Berner und sonstigen internationalen Ämter als Versorgungsstellen betrachtet. Die ernste Frage ist nun die: Wird die Schweiz immer imstande sein, den großen, ihrer harrenden weltpolitischen Aufgaben gerecht zu werden? Wird man immer Dutzende von klugen, energischen Persönlichkeiten für die zu besetzenden, immer wichtiger werdenden Ämter und Kommissionsposten zur Verfügung haben, oder wird dort die Reihenfolge: Jetzt ist der Thurgau dran — jetzt muss die juristische Fakultät einer anderen Universität drankommen auch Geltung erlangen? Das sind ernste Dinge, und je lieber jemand die Schweiz ist, desto mehr muss ihm daran liegen, dass sie nach möglichst vielen Seiten gut vertreten ist.

Und wie das Schweizer Volk in seiner Sachlichkeit und Billigkeit die Karikatur des Deutschen darstellt, so tut es dies in seiner Bürgerlichkeit. Es ist heute das Prototyp eines Kleinbürgervolks; es ist absolut auf den kleinen Mann hin typisiert. Auch der deutschen Mehrheit fehlen die adeligen Instinkte, sie erkennt diese aber immerhin als höherwertig an. In der Schweiz hat historische Entwicklung bedingt, dass das Beste der Majorität ihrer Bewohner, ihr Freiheitsbewusstsein und ihr Mannesmut, in Gegensatzstellung zu jeder Art von Vornehmheit erwuchsen. So ist denn Plebejismus dort heute Ideal. Unter kleinen und armen Leuten oder solchen in niederer Stellung führt dies, wie gesagt, zu keiner Häßlichkeit, denn da entsprechen sich eben Sinn und Ausdruck. Bei sozial Höherstehenden hingegen hat es das zur Folge, warum nur den vornapoleonischen Kulturtypus perpetuierende oder aus der Art geschlagene Schweizer in Gesinnung und Form europagültig wirken. Seit langem studiere ich die Ausdrucksweise der Schweizer besonders genau, denn sie lässt tief blicken. Wo der bessere Deutsche überlegen sagt, sagt der Schweizer pfiffig. Das Schweizer Synonym für selbstbewusst ist wichtigtuerisch. Wo jener höchstenfalls das Wort Gemeinheit verwenden würde, braucht dieser Niedertracht. Er sagt ruchlos, wo der Deutsche höchstens häßlich sagen würde. Lässige Freiheit heißt er Liederlichkeit, Schroffheit ruppig. Die allgemein-deutsche Grobheit erlebt in der Schweiz eine phantastische Übersteigerung. Was aber doch nie, wie in Holland, zu einer Kultur der Häßlichkeit führt, sondern eben rein, d. h. kulturlos häßlich bleibt. Doch genug davon. Jedem Kenner der Schweiz werden auf meine Ausführungen hin viele andere Parallelen einfallen. Nur noch fünf harmlosere Vergleichs-Beispiele von Deutschland und der Schweiz. Auch in Deutschland ist der höhere Mensch notwendig isoliert; es gibt da keine anerkannten Eliten wie in Frankreich. Aber in der Schweiz muss er sich unmittelbar verstecken: so groß sind dort der Neid und der Abscheu gegenüber menschlicher Überlegenheit. Auch in Deutschland gibt es Kastenunterschiede. Aber sie liegen offen vor Augen, weshalb Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu ihnen keine Verdrängung schafft. Die Genfer gens bien, die Züricher obersten Fünfhundert, die Baseler Patrizier hingegen leugnen offiziell jedes Ungleichheitsbewusstsein, schließen sich dafür aber faktisch desto hermetischer ab; was denn gar oft bis zum Erstickungstod der Seele führt. Auch der bedeutende Deutsche ist grundsätzlich nicht repräsentativ, wie der bedeutende Franzose, sondern Kontrastprodukt gegenüber der Majorität. In der Schweiz gilt gleiches in dem Maß, dass nicht nur der bedeutende, sondern schon der angenehme Schweizer aus wohlhabenden Kreisen, außer im Fall der schon angeführten, immer seltener werdenden aus bester Vergangenheit überlebenden Kulturtypen oder in dem der Berufe, für welche Schweizer prädestiniert erscheinen, als solche Ausnahme wirkt, dass jeder ihn instinktiv außerhalb des Rahmens seines Volks sieht und beurteilt. Auch der Deutsche ist geborener Gastwirt. Wo er hinkommt, bewährt er sich als solcher. Das heutige Schweizer Volk ist im selben Sinn als Gastwirtsvolk schlechthin zu bestimmen, wie andere Völker als Krieger- und wieder andere als Seefahrervölker. Endlich: auch der Deutsche tritt gern in Fremdendienst. In der Schweiz war das Reislaufen von jeher nationale Angelegenheit. Die Schweizer Garde der nicht mehr regierenden Päpste ist die amüsantest denkbare Persiflage des Schweizergeists.

1Vgl. Kultur und Ethik, S. 250.
Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
Die Schweiz
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