Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

Das Baltikum

Estnische Revolution

Im Sommer 1920 ward mir zum erstenmal nach der Revolution die Rückkehr in meine Heimat, Estland, gestattet. Ich fand in Rayküll äußerlich nichts verändert. Mein Haus stand noch, genau so eingerichtet, wie ich es 1918 verlassen hatte. Meine alten Leute bewillkommneten mich herzlicher denn je. Meine sämtlichen Gewohnheiten waren bekannt, wurden respektiert.

Wie sollte es anders sein? Vor anderthalb Jahren erst war ich von meinem Stammschloss fortgezogen; den Weltkrieg über hatte ich ununterbrochen dort gelebt. Und doch wunderte ich mich. Und schon in wenigen Tagen ging meine Verwunderung in Schauder über. Ich war als Gespenst heimgekehrt. Wurde ich auch von denen liebenswürdig aufgenommen, welche sich vor dem Umsturz anders zu geben pflegten, so lag dies eben daran: gegen Gespenster ist jeder höflich; man kann nie wissen… Und dann war ich keinesfalls mehr irdische Realität. Ich war in der Tat so heimgekehrt, als wäre ich mein eigener Großvater gewesen: vor 40 Jahren selbstverständlicher Besitzer, nun in keiner Hinsicht mehr am Platz, alle spätere Ordnung störend. Oder vielmehr, die Diskrepanz war eine viel größere noch. Für das Bewusstsein der Esten schieden Jahrhunderte 1920 von 1918. Damals gab es sie als Volk gar nicht, sie waren nur Unterschicht. Nun war ein kaum je ernstlich gehegter Selbständigkeitstraum dank einer einzigartigen historischen Konjunktur, welche die Schaffung der kleinen selbständigen Baltenstaaten als Bollwerk gegen den Bolschewismus den Siegermächten des Weltkriegs erwünscht erscheinen ließ, erfüllt.

Aber warum war ich deshalb zum Gespenst geworden? Hier lag eine wahre Ironie des Schicksals. Wir Balten hatten 1918 die Deutschen ins Land gerufen, weil dies das einzige Mittel war, es vor Zerstörung durch die Russen zu retten. Wir haben also nicht nur alle bisherige Kultur des Landes geschaffen: auch dass sie während des Weltkriegs erhalten blieb, ist unser Verdienst. Doch wir waren eine dünne Oberschicht anderer Rasse, anderer Sprache. Es schlug die Stunde des Aufstiegs derer, die bisher unten waren. Und da wurden wir aus dem Geist desselben Bolschewismus heraus, zu dessen Abwehr die Selbständigkeitswünsche der Esten und Letten Erfüllung fanden, erledigt. Und die Siegermächte unterstützten in diesem Fall noch jenen Geist, weil seine besondere Auffassung von Privatbesitz und -recht die neuen Staatswesen am schnellsten kreditwürdig machte. Dieser Geist des Bolschewismus war — und ist, wo er noch herrscht — von einer Kraft, von der sich keiner eine Vorstellung machen kann, der ihn nicht erlebt hat. Wie selbstverständlich annullierte er Geschichte. Das war in Russland möglich, weil dessen geschichtlich gewordene Struktur im Unbewussten der Mehrheit seiner Bevölkerung nie Wurzel gefasst hatte. Sie glaubte weder an römisches noch germanisches Recht; was die Oberschichten an Ordnung in die Welt gesetzt, war für ihr Unbewusstes nicht verbindlich; sie waren physiologisch die gleichen geblieben wie zur Zeit Stenka Rasins; die marxistische Ideologie war nur ein neues Auswirkungsmittel für uralte Triebe1. Die Französische Revolution ließ die fundamentalen Gesetze, die das frühere Franzosenleben geregelt hatten, psychologisch beurteilt, intakt, denn alle Franzosen erkannten sie, wenn nicht bewusst, so doch unbewusst an; daher die Möglichkeit der späteren Restauration. In Russland fand eine vollkommene solution de continuité statt. Da kamen neue Menschen hoch, denen die Rechte derer, die kürzlich noch geherrscht hatten, nicht mehr bedeuteten, wie heutigen Griechen die Besitztitel der Pelasger. Da sieht man, wie alles letztlich auf die realen psychischen Kräfte ankommt. Recht kann sich nicht halten, wo es nicht anerkannt wird; Besitz ist illusorisch, wo der Glaube an seine Berechtigung schwand. Da beginnt das Leben wirklich vollkommen neu.

Die estnische Revolution war nun ihrem Geiste nach zunächst ein Sonderausdruck der russischen, wie denn in Estland, als sie ausbrach, viel mehr Russen hausten als solche, denen Estland Heimat war; sie war es in dem weitesten Verstand, dass sie Geschichte annullierte. Seit 1918 war es auf einmal, als hätte es uns Balten als eigentliche Eingeborene seit siebenhundert Jahren nicht gegeben. Und es lag wirklich das Äquivalent von Jahrhunderten zwischen 1920 und 1918. Das spürte ich nun von der ersten Minute an. Die sechs Wochen, die ich damals auf alte Art im angestammten Schloss verbrachte, waren die furchtbarsten meines Lebens; vor ständigem Herzklopfen konnte ich kaum schlafen; die äußere Unverändertheit der Umwelt ließ mich das innere Anderssein nur desto stärker fühlen. Und das Gefühl war so entsetzlich vor allem darum, weil ich bald wusste, dass es sich bei dieser russischen Revolution auf baltischem Boden um ein Sinnwidriges handelte. Sicher wäre mir die Abfindung mit dem gleichen Schicksal im eigentlichen Russland leichter geworden, denn dort war es Anangke. Das Baltikum jedoch gehört dem westlichen Kulturkreis an. Das Unbewusste seiner sämtlichen Bewohner hatte kaum mehr lebendige russische Motive in sich, wie das der Franzosen. Der estnische und der lettische Staat leisteten, indem sie den Damm gegen die sarmatische Flut bildeten, genau das gleiche, wie bisher die baltischen Ritterschaften. Der ganze Gegensatz zwischen Deutsch-Balten und Urbewohnern war insofern künstlich konstruiert. Ich wusste, dass Estland sich bald nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich westlich orientieren würde, dass es sich bei seinem Bolschewismus nicht um den Ausbruch der wahren Natur, sondern eine von außen her importierte Seuche handelte…

1Vgl. meine ausführliche Bestimmung des wahren Sinns des Bolschewismus in meiner Neuentstehenden Welt.
Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
Das Baltikum
© 1998- Schule des Rades
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