Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

Das Baltikum

Edelmann

Und doch bin ich für nichts dankbarer, als Geist, als gerade für die Tragödie meines Baltentums. Dank dieser habe ich persönlich erlebt, was sonst allenfalls, als halbe Wahrscheinlichkeit, aus mythenhafter Überlieferung rekonstruiert wird. Ich habe ein Volk persönlich entstehen sehen. Als ich ein Kind war, da handelte es sich bei den Esten noch um kein Volk, sondern — ich gebe hier bekannten Wörtern ein wenig abweichenden Sinn — Bauern- und Dienerschaft; Gesinde. Wie denn ein Bauernhof charakteristischerweise bei uns mit dem letzteren Wort bezeichnet wurde. Die Sprache war die eines Urvolks; Abstrakta fehlten fast ganz. Dafür gab es reichste Möglichkeit, die hunderterlei Nuancen zwischen Wald und Moor, zwischen Wiese und Feld, zwischen den verschiedenen Flugarten des Wildes zu bezeichnen. Ungefähr gleichzeitig mit mir erwuchsen die ersten Geschulten und Gebildeten, die sich, da sich in der Heimat kein genügendes Tätigkeitsfeld für sie fand, über das ganze russische Reich verteilten. Wie nun die Revolution kam, da erwies sich urplötzlich ein regierungsfähiges neues Volk als da; so plötzlich, dass ich mir ein für allemal gelobte, eine Wirklichkeit nie mehr nach dem Augenschein zu beurteilen. In meiner Jugend war das Baltikum, politisch beurteilt, deutsch, denn nur die deutsche Oberschicht zählte. Dann erschien es russisch. Im Kriege, als Millionen russischer Soldaten das Gebiet besetzt hielten, erreichte dieser Aspekt seinen Höhepunkt. Aber kaum kamen, 1918, die Deutschen, da war es wiederum, als sei Estland ununterbrochen deutsch gewesen. Und als die deutschen Truppen, im Herbst des Jahres, fort mussten, da war Estland auf einmal ganz unzweideutig estnisch und nichts anders. Wo kamen die betreffenden Führer her? Sie waren natürlich schon früher da, mitten unter uns; nur merkte man sie nicht. So sehr kommt auf die Bedeutung alles an… Gewiss schien manches, was nun vorging, nicht nur gewaltsam, sondern künstlich herbeigeführt. Es musste eine Schriftsprache fertig sein, die allen modernen Anforderungen genügte; sie musste verstanden werden. Die ersten Staatsmänner erfanden persönlich Wort auf Wort. Ich erlebte den Erlass eines Unterrichtsministers, nach dem ein bestimmtes Verbum von nun an anders als bisher zu konjugieren sei. Aber es war doch nicht künstlich, was da geschah, denn das Volk griff das Vorgeschriebene sofort und selbstverständlich auf. Es war, in neuzeitlichem Ausdruck, eben das, wovon die ältesten Mythen berichten: irgendein König erfand die Sprache, schuf die Begriffe, wandelte Jäger zu Ackerbauern um… Das ist auch heute noch möglich, es war nicht nur einmal so. Es bedarf nur der gleichen Bruthitze des Entstehen-Wollens und -Könnens zugleich, und die Schöpfungsgeschichte wiederholt sich in ihrer ganzen alten Unwahrscheinlichkeit.

Ich kann aus eigener Erfahrung nur von Estland reden. Aber in Lettland war es nicht viel anders. Und Litauen bot, trotz der einmaligen historischen Selbständigkeit und Größe der Litauer, insofern ein noch extremeres Bild, als es diese Nation seit langem kaum mehr gab; sie musste nicht nur befreit, sondern zum Teil neu erfunden werden. Aber ähnlich war es letztlich wohl überall, wo in Europa als Folge des Weltkriegs neue Völker entstanden. Darüber muss man sich klar sein, um die Gewaltsamkeit ihrer Politik zu verstehen. Toleranz ist der Normalausdruck innerer Sicherheit. Selbst England war immer nur dann liberal, wenn es sich auf lange hinaus als ungefährdet fühlte. Die meisten Sukzessionsstaaten entstanden nun künstlich, unvorbereitet, dabei in den meisten Fällen im Rahmen nicht naturgemäßer Grenzen, so wie sie eben Lehrer der Mathematik und Religion abstecken, wenn sie Geographie behandeln, und dabei in erster Linie darauf bedacht sind, durch Sicher-Tun Autorität zu behaupten. So konnte ihr innerer Zustand auf lange hinaus auch im Frieden nur ein Kriegszustand sein. Die Expropriation- und Minoritätenpolitik erklärt sich so allein. Der eine neue Staat, der innerlich vollkommen reif zu seiner Entstehung war, Finnland, hat sie ja in keiner Weise mitgemacht. Äußerlich lagen die Verhältnisse dort nicht viel anders wie im Baltikum. 90 Prozent Finnen, 10 Prozent Schweden; beide lieben sich nicht. Aber in beiden prädominiert das Gefühl des Finnländertums und der gemeinsamen Geschichte. Damit war eine radikale Politik wie die der meisten anderen Sukzessionsstaaten psychologisch ausgeschlossen. Äußerlich war diese überall wohl russisch inspiriert. Ohne das Beispiel, dass eine Klasse andere mit gutem Gewissen einfach vernichtet, dass sie den Besitz glatt konfisziert, wie Ähnliches zuletzt unter der spanischen Inquisition, und auch da nur im Fall von Individuen geschah, hätten Tschechen, Rumänen, Serben, Esten, Letten usw. nie daran gedacht, ihre Heimatgenossen anderen Volkstums so zu behandeln, wie dies geschehen ist. Gewiss musste die Landfrage eine neue Lösung finden; wo einmal die alte Herrenschicht zur bloßen Minorität geworden war, entsprachen die alten Besitzverhältnisse nicht den neuen historischen Umständen. Auch Härten wären keinesfalls ganz zu vermeiden gewesen, denn jede Annullierung von wohlerworbenem Recht durch neues wirkt als solche. Doch die besonderen Härten, die in dieser Krisis bestimmend wurden, sind nichts als mehr oder weniger gelungene Bolschewismus-Imitation. Die Völker, die sich ihrer schuldig machten, werden sich einmal ihrer schämen, ökonomisch erscheinen die betreffenden Reformen schon überall ad absurdum geführt. Und ebenso dämmert es den jungen Völkern schon fast überall, so wenig sie’s noch zugeben, dass es ein Widersinn war, die Minoritäten ausschalten zu wollen. (In diesem Sinn hat gerade Estland mit seiner Gewährung der Kulturautonomie einen vorbildlichen Schritt einer besseren Zukunft zu getan.) Nach der furchtbaren Zerstörung des Weltkriegs und nach dessen Folgen ist die Sammlung aller besten Kräfte zu gemeinsamem Werk schlechthin überall die erste Voraussetzung zum Neuaufbau. Überdies stirbt, gerade auf Grund der neuen Karte Europas, die so viele Fremdvölker neuen und deshalb besonders intoleranten Nationen einverleibte, der alte Nationalitätsbegriff. Der Staat wird sich notwendig viel mehr spezialisieren müssen als früher der Fall war, das Volkstum unabhängig vom Staat eine Bedeutung gewinnen, die es nie früher hatte1. Und dann bedeuten Katastrophen im Völkerleben nie viel. Wohl mögen Verträge die wahren Kräfteverhältnisse lange verschleiern: auf die Dauer setzt es sich durch. Die ruinierten Minoritäten kommen, wo sie etwas taugen, erst recht wieder hoch. Unterdrückung stärkt: sonst wären die Tschechen usw. nie Nationen im modernen Sinn geworden. Unterdrückung stärkt erst recht, wenn innerlich starke Minoritäten entwurzelt werden: dies beweisen die Juden. Seit Urzeiten wurden gerade politisch Machtlose typischerweise reich. So werden die verlorenen Vermögen gewiss, so oder anders, neu entstehen. Die Minoritäten haben aber vor allem deshalb Zukunft, weil ihr Schicksal sie zwingt, für das der neuen Zeit Gemäße einzutreten, weil also ihre politische Zurückgebliebenheit, wo sie vorlag, jetzt aus reinem Selbstinteresse in Vorwegnahme fernerer Zukunft Umschlägen muss. Ja, gerade die Minoritäten, die für erledigt gelten, sind heute die wahren Wegbereiter des neuen Europas. Der Staat verliert an Bedeutung: es liegt im Interesse der Minoritäten, und nicht in dem der Majoritäten, die insofern die Reaktion vertreten, sich für das neue Verhältnis von Staat und Nation einzusetzen. Das Majoritätsprinzip hat sich dadurch, dass es Minoritäten entrechtete, vom Standpunkt der fortschrittlichen Menschheit ad absurdum geführt: da muss, auf dass die Zukunft besser werde, neues, neu zu schaffendes Recht eingreifen. Hier handelt es sich darum, dass das Individuum als solches — nicht etwa die Minoritäten als solche, denn dann muss den Majoritäten logischerweise das gleiche internationale Recht zugestanden werden, und alles bleibt grundsätzlich beim alten — zum internationalen Rechtssubjekt, zum Träger gewisser unveräußerlicher Menschenrechte werde, die ihn erforderlichenfalls vor seinem eigenen Staate schützen. Dann allein und erst dann, wenn solches neues Recht besteht, wird die Zugehörigkeit zu diesem oder jenem Staat, zu dieser oder jener Nation, keine gefährlichen Reibungen mehr schaffen. Schon im Augenblick der Weltkriegserklärung zeigte es sich, dass die alten Begriffe und Normen überall der Revision bedürfen. Überall erwies sich ein erheblicher Teil gerade der tätigsten Bevölkerung als dem Lande, das sie bewohnte, staatlich nicht zugehörig. Nun konnte ihnen auf Grund des bestehenden Rechts, falls sie feindlichen Staaten angehörten, alles genommen werden. Welch ein Unterschied gegenüber noch der Krimkriegszeit, da der damalige Generalgouverneur von Estland, ein Herr von Gruenewaldt, sich sorgte, ob sein Kaiser nicht gar zu ungehalten darüber sein werde, dass einige in Reval ansässige englische Kaufleute nicht so bequem mitsamt ihrer Habe abziehen konnten, wie sich’s ziemte! Die traditionelle Symbiose verschiedener Nationalitäten stammt aus der Zeit vor dem Sieg der Idee des reinen Nationalstaats. Der Weltkrieg hat erwiesen, dass diese und Zusammenleben überhaupt sich, in Anbetracht immer neuer möglicher Kriegsgefahr, gegenseitig ausschließen. Die bestehende Unvereinbarkeit trat denn nach Friedensschluss überall in grotesker Kolossalität in Erscheinung. Die in den Siegerländern verbliebenen Vermögen der Bürger besiegter Staaten wurden konfisziert, als ob wir zur Zeit des Sulla lebten. Ja, die Bürger des eigenen Landes, soweit sie der Nationalität besiegter Staaten angehörten, wurden unter Zustimmung der Weltmeinung entrechtet. Dies führte denn seinerseits zu grotesken Gegen-Erscheinungen: ausgerechnet jetzt, wo die Menschheit sich wie nie vorher vereinheitlicht, wo gebieterisch erscheint, um neuen Konflikten vorzubeugen, dass zwischen Gebieten hohen und niederen Bevölkerungsdrucks ein Ausgleich stattfände, schließen sich die Länder, vielleicht um kein zweites Mal in die Lage zu kommen, fremdes Geld zu rauben, wie nie früher gegen Einwanderung ab. Und andererseits wimmelt die Welt, wie nie vorher, von Staatenlosen und solchen, die beliebige Staatsbürgerschaft erwarben. Es ist nämlich in einigen Hinsichten wiederum praktischer als früher, nicht Bürger des Staats zu sein, den man bewohnt. Überdies fühlen sehr viele schon instinktiv, dass die Zeit der Bedeutsamkeit des Staats im Vorkriegssinne um ist. 1917, als Russlands Zusammenbruch drohte, überlegte ich mir, welche Staatsbürgerschaft meinem ferneren Leben am besten entsprechen dürfte; und entschied mich in der Idee zunächst für Monaco, weil es dort die geringsten Steuern gab und Kriegsgefahr ausgeschlossen schien. Leider erfuhr ich bald, dass dieser vorbildliche Staat grundsätzlich keine Fremden naturalisiert…

Ja, die Minoritäten haben eine große Zukunft vor sich. Und dies hat nicht nur empirisch-politische, es hat metaphysische Gründe. Zweifellos waren die vormals Herrschenden oder Privilegierten auch schuldbelastet; noch nie kam es vor, dass eine Klasse ihre Vormachtstellung nicht auch missbraucht hätte. Aber diese Schuld ist nunmehr reichlich gesühnt. Von den Ländern und Fällen, wo die Verfolgung bis ans Leben ging, sehe ich ganz ab: die bloße Tatsache des Sturzes und Ruins bedeutet für den durch hohe Stellung Typisierten seelisch tausendmal mehr als für den kleinen Mann, und verträgt er ihn innerlich, so bedeutet das tausendmal mehr, als wenn ein Bauer sich heraufarbeitet. Welcher Umstand dadurch potenziert wird, dass eine höherorganisierte Seele einer feineren Umwelt unbedingt bedarf. Das ist es, was die jetzt in den gemeinten Ländern Vorherrschenden vollkommen verkennen: genau so wie die Bolschewisten, insofern ihnen persönlich Gefängnis, Verschickung und dürftigste Lebensfristung in fremdem Land als normale Lebensbedingung erschien, die allerletzten waren, um die Wohnungsfrage gerecht zu lösen, genau so sind alle Wertmaßstäbe, die jene bei der Entschädigung (wo solche überhaupt vorgesehen ist) anlegen, von Hause aus verfehlt. So haben denn die einstmals Privilegierten schon heute alle Schuld überreichlich abgebüßt. Aber jetzt winkt ihnen ein neues Privileg: Böses mit Gutem dadurch zu vergelten, dass sie alle Kraft daran setzen, Ungerechtigkeit für die Zukunft unmöglich zu machen. Das Häßliche und Grausame, das sich in der Seele der Neuhochgekommenen so hochgradig manifestiert, ist zu einem sehr großen Teil die Folge früher fehlender Aufstiegsmöglichkeit: solch seelischen Verbildungen muss für die Zukunft vorgebeugt werden. Es darf überhaupt keine Bedrückten und Nicht-Geachteten mehr geben. Den verfolgten Minderheiten steht insofern eine unmittelbar messianische Aufgabe bevor.

Was grundsätzlich von allen Minoritäten gilt, gilt im höchsten Grade von den Deutschbalten. Diese haben in keiner Weise historisch ausgespielt. Erstens einmal setzen die Esten und Letten in allen Hinsichten das fort, was wir begannen; und wo keine wirkliche solution de continuité vorliegt, kann auch die Vorstellung nicht dauernd lebendig bleiben. Die kultivierten Wälder, das Hauptkapital der jungen Staaten, sind unsere eigenste Schöpfung; stemmen sich Eesti und Latwiya als Glieder der westlichen Völkergemeinschaft Russland entgegen, so setzen sie damit, noch einmal, nur die traditionelle Politik der baltischen Ritterschaften fort. Wir aber denken nicht daran, auszusterben. Der ausgewanderte Teil wird natürlich in den jeweiligen Asyl-Völkern aufgehen. Aber sehr viele sind geblieben, ein ursprünglich Emigrierter nach dem andern kehrt heim. In der Arche Noah rettete sich von jeder Tierart nur ein Pärchen, und mehr als genügend Tiere zählt dieser Planet: bei uns sind weit mehr als ein Paar fast jeder Familie daheimgeblieben. Und die Daheimgebliebenen erscheinen, als Gesamtheit, innerlich nicht geschwächt, sondern gestärkt. Obgleich sie ruiniert sein sollten, erhalten sie mehr deutsche Schulen als je zuvor; ihr geistiges Leben ist intensiver geworden; wo sie der Scholle näher kommen, wie in Litauen und Lettland, wo Restgüter erhalten blieben, jedoch so klein, dass ein Herrenleben nicht mehr möglich ist, dort wird auf die Dauer eine Verjüngung der Rasse die Folge sein: immer erneut ersprießen Kulturen aus Bauerntum hervor. Und dann ist unser Typus wesentlich gefahrenfroh: wir waren verknöchert, weil wir zu lang zu sicher waren. Nunmehr erwacht aufs neue die alte Kraft. Ich weiß von nur sehr wenig Balten, die so herabgekommen wären, dass kein Neu-Aufstieg mehr, wenn nicht für sie, so doch für ihre Kinder, wahrscheinlich wäre. Das ist für mich der entscheidende Beweis dafür, dass adelige Gesinnung absolut höher steht als bürgerliche. Die Balten sind nämlich ein rein aristokratischer Menschentyp, darin in Europa den Ungarn nächstverwandt. Auch die dem Stande nach Bürgerlichen — im Baltikum hieß man sie Literaten — sind als Typen, verglichen mit den Reichsdeutschen, reine Herrenmenschen; bei allem Gemeinschaftssinn fühlt jeder Balte sich an erster Stelle einzig. Natürlich tritt dieses heute nach Verlust der äußeren Herren-Position nicht mehr so deutlich in die Erscheinung. Aber wie prachtvoll mannigfaltig war auf Grund des herrenmäßigen Einzigkeitsbewusstseins das alte baltische Leben! Ich lebte in Rayküll immer als Einsiedler. Aber fuhr ich je zu Festen auf andere Schlösser, dann freute ich mich desto mehr daran, wie jeder einzelne im besten Sinn Original war; jeder war da ein Typus für sich, wie jeder einzelne homerische Held; es hätte eigentlich, genau wie dazumal, nur Vornamen zu geben gebraucht. Um dieses Einzigkeitsbewusstseinswillen vertrugen die Balten denn auch ihren Sturz wie keine andere gestürzte Oberschicht in dieser Zeit. Von den Männern will ich schweigen. Aber man nenne mir ein modernes Äquivalent des Folgenden. Als die Deutschen über den Sund nach Estland einzumarschieren drohten, wurden sämtliche männlichen Mitglieder des Adels, derer die Bolschewisten habhaft wurden, in zwei Viehwaggons gepfercht und nach Sibirien verschickt (bis auf zwei kehrten sie alle ungebrochen wieder heim); sämtliche Edelfrauen jedoch über dem Minen- und Torpedolager der baltischen Flotte interniert. Ein Matrose stand mit einer Lunte Wache: kaum kämen die Deutschen über das Eis, so sollte das ganze Gebäude in die Luft fliegen. Nicht eine Edelfrau bewies die geringste Furcht; es herrschte vielmehr ausgelassene Heiterkeit — von den niederen Mordgesellen lassen wir uns doch nicht imponieren. Eben deshalb wurden sie baldigst freigelassen.

Ja, adelige Gesinnung ist die menschlich höchste im absoluten Sinn, Der Bürger ist der Mensch der Sicherung, der Adelige der Mensch der Gefahr, des Risikos. Gesichertheit nun widerspricht dem Sinn des Lebens, auf das ja unter allen Umständen Todesstrafe steht. Insofern der Bauer im Erdenschicksal verhaftet ist, ist auch er kein Mensch der Sicherung. Aber ganz sinngemäß gestaltet ist einzig der Typ des Edelmanns. Deshalb werden wir Balten bestimmt nicht untergehen, solange wir uns nicht verbourgeoisieren. Überall schlägt heute eine neue Adelsstunde, so sehr, dass vielfach von einem Wiederanknüpfen an die Zeit von vor 1789 die Rede ist: dies liegt eben daran. Und in der Tat ist die neuentstehende Welt den noch so ruinierten Edelleuten am meisten, den Proletariern am wenigsten hold. Diese drohen in einem Grad zu verbourgeoisieren, wie dies von keinem Bürger jemals galt. Man prophezeit den Niedergang Frankreichs von wegen seiner Rentnerpsychologie: was war das französische Rentnertum je, an Zahl sowohl als an Grad, verglichen mit dem Sozialrentnertum, das sich in Deutschland bildet? Von den Krankenkassen über die Arbeitslosenversicherung bis zur Altersfürsorge: alle neueste Sozialgesetzgebung zielt dahin, den Arbeitern Rentner-Seelen zu schaffen. Schon heute ist es vielfach so, dass wer nicht durch irgendwelche Schiebung mit 40 Jahren gesicherter Sozialrentner ist, sich deklassiert glaubt… Bleibt es dabei, dann geht Deutschland, wie jedes Land, das ähnlich gute Gesetze gibt, unfehlbar zugrunde. Doch es kann nicht so bleiben. Schon ist der Zirkel durchlaufen. Wenn privilegierte Könige, privilegierte Priester, privilegierte Edelleute, trotz ihrer geringen Zahl, sich als für die Dauer untragbar erwiesen, so wird dies erst recht von privilegierten Arbeiterschaften gelten. Wo sich die ganze Welt industrialisiert und kein außereuropäisches Volk noch den Gedanken des Sozialrentners gefasst hat, ist klar, dass Europa die Konkurrenz nur aushalten wird, wenn es wieder gefährlich zu leben lernt. Tut es dies aber, dann wird der Edelmann ganz von selbst wieder zum Führer werden.

1Die bisher beste Untersuchung des sich neubildenden Verhältnisses Von Staat und Volkstum enthält eine Abhandlung gleichen Titels von Gerhard von Mutius in der Europäischen Revue vom September 1927.
Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
Das Baltikum
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