Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

Europa

Tragik des Lebens

Erweist sich das Motto dieses Buchs, das Wort des Heidenapostels: Wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms, den wir vor Gott haben sollten, nicht mehr als gerechtfertigt? Aufmerksam habe ich Kapitel auf Kapitel nach der geschwinden ersten Niederschrift durchdacht: ich habe nicht den Eindruck, dass ich irgendeinem Volke nicht gerecht, gerade gerecht geworden sei. Alle Völker haben ihr Gutes. Aber nicht eines hat ein Götterrecht auf Hochmut. Vor allem aber macht sich jedes lächerlich, das auf andere herabsieht im Größenwahn, das Menschheitsideal zu verkörpern. Wenn etwas allgemein gilt, dann ist es dies, dass die Vorzüge überall durch korrelative Nachteile kompensiert erscheinen. Ich gedenke der gegenseitigen Verunglimpfung, wie sie seit Weltkriegstagen noch gang und gäbe ist: ist nicht herzliches Lachen die mildeste Antwort auf Frankreichs Anspruch, der Lehrer der Menschheit zu sein — denn das bedeutet das klassische Wort magistrature; den Anspruch Deutschlands, der Menschheit Arzt zu sein — denn so allein ist der Satz, dass die Welt am deutschen Wesen genesen solle, verständlich; den schweizerischen, das politische Vorbild zu verkörpern, den englischen, für alle the white man’s burden zu tragen, und so fort? Gegen Alfred Adlers Auffassung des Menschen ist viel zu sagen. Aber die Völker, die sich vor allen überheben, sind letztlich wohl samt und sonders Adlersche Fälle und insofern bemitleidenswert: ihr Großtun bedeutet Minderwertigkeitsgefühl. Zwar hat ein Schüler Freuds jüngst ausgeführt, Alexander der Große habe die Welt nur erobert, um seinen Ödipuskomplex abzureagieren; so mag es unter Nationen auch Freudsche Fälle geben. Jungsche Fälle des Sinnes, dass ein Traum der Größe und Schönheit deren Wirklichkeit vorweggenommen hätte, kenne ich nicht. Denn Völker haben kein Selbst, das zu integrieren wäre. Ist die Psychologie der Massen so viel primitiver als die jedes einzelnen, so ist das sehr einfach daraus zu erklären, dass in der Masse nur die empirisch-psychologischen Elemente, also die bloßen Ausdrucksmittel des Metaphysischen, des eigentlich Menschlichen zur Geltung kommen. Verliert sich der einzelne in ihr, so verliert diese proportional dem Grade an Wert. Völker sind mehr oder weniger günstige Mittel der Selbstverwirklichung. Mehr sind sie nicht und können sie nicht sein.

Hieraus ergibt sich andererseits zugleich, worin berechtigter Nationalstolz besteht. Dostojewsky sagt, für jeden bezeichne seine Volkheit den Weg zu Gott. Jeder, außer dem ganz Großen, ist an das empirische Verwirklichungsmittel seines Volkes gebunden; dieses gibt jeder sinnvollen Zielsetzung die Richtung und setzt ihr Grenzen; insofern bezeichnet die Idee des jeweiligen Volks den Exponenten der Richtung, in welcher jeder seiner Söhne für sich streben soll. Folglich muss die Selbstbestimmung und möglichst vollkommene Erfüllung aller seiner Möglichkeiten jedem Volke Ziel sein, weil psychoanalytische Normalität allein dem Selbst volle Ausprägungsmöglichkeit bietet. Unterdrückte Völker sind immer seelisch häßlich, allzu arme nur ausnahmsweise innerlich frei. Die gleiche Erkenntnis setzt sinnvollem völkischem Selbsterhöhungsstreben zugleich die Grenze. Nicht allein Unterdrückte, auch Unterdrücker nehmen Schaden an ihrer Seele. Nicht allein zu enge, auch zu weite Verhältnisse schaden; jede Betonung des Ich-Pols ohne korrelative Betonung des Du schafft pathologische Verhältnisse. Hier liegt der tiefste Grund der meisten Völkertragödien.

So sind denn die Auswüchse des Nationalismus nur als Krankheitssymptome richtig zu werten. Hier aber wird die Grenze sinnvoller psychoanalytischer Betrachtung am selben ideellen Ort im völkischen Zusammenhang offenbar, wie im individuellen. Ist das Analysierbare nicht letzte Instanz1 dann sind auch die jeweiligen Unzulänglichkeiten völkischer Anlage keine letzten Instanzen. Dann liegen die Dinge bei den Völkern ebenso wie beim einzelnen: recht eigentlich das Unzulängliche ist und macht produktiv. Hieraus erklärt sich denn, warum die problematischen oder Sünder-Völker für den Menschheitsfortschritt mehr bedeutet haben und bedeuten als die Vollendungsvölker. Die Juden sind das unzulänglichste Volk der ganzen Menschheit, die Vorzüge der Hellenen waren durch ungeheure Fehler überkompensiert. Und heute bedeuten Deutsche und Russen mehr als Briten und Franzosen. Auch der letzteren Menschheitsbedeutung stammt aus der Zeit, wo sie noch keinen Grund zur Selbstgerechtigkeit hatten. Wie unbedingt die Dinge so liegen und nicht anders, beweist besonders deutlich Skandinavien. Auch dieser Kulturkreis war eine kurze Zeit lang im höchsten Sinne menschheitsbedeutsam: das war, als die Frau in ihm zuerst im modernen Westen sich ihrer Problematik bewusst ward. Aber nachdem jedes Mädchen in sich ihr Ibsen-Stadium wie eine Embryonalphase erledigt, ist es mit dieser Bedeutung aus.

Schwingen wir uns aber jetzt zum höchsten Gesichtspunkt auf, der erdverhafteten Menschen erreichbar ist, so müssen wir sagen: wie sollte es anders sein, als dass in der Vollendung der Völker als solcher kein letztes Ziel liegt? Dieses Leben ist nur Mittel zu höherem Zweck; wäre es anders, kein Pessimismus erschiene schwarz genug. Die unüberwindliche Tragik des Lebens ist die Voraussetzung aller Geist- und Sinnesverwirklichung. Jedes rein irdische Ziel wird durch die bloße Tatsache seiner Vergänglichkeit ad absurdum geführt. Hieraus allein schon erhellt der grundsätzliche Widersinn jedes statischen Ideals und damit der Widersinn jedes Vorbildlichkeitsanspruchs eines Volks, das sich in irgendeinem Sinn endgültig am Ziele glaubt. Selbstverständlich hat kein nur halbwegs großer Einzelner weder sich selbst noch erst recht sein Volk jemals am Ziel gewähnt. Aber die meisten europäischen Völker dieser Zeit glauben sich entweder am Ziel, als richtige Pharisäer, oder aber sie hoffen es demnächst zu erreichen. Deswegen musste ich sie zunächst nach Möglichkeit lächerlich machen, oder doch wenigstens ihre Bedeutung relativieren. Solange sie so groß von sich denken, wie sie es heute tun, gibt es für sie kein Heil. Und tatsächlich sind alle mehr als unvollkommen. Nicht eines Wirklichkeit entspricht auch nur annähernd dem, was es von sich denkt.

Dies ist die erste Folgerung, die wir, wie mir scheint, aus unserer Reise durch Europa ziehen dürfen. Die zweite ist erfreulicher. Wir dürfen getrost bekennen, dass es auf Erden keine reichere Mannigfaltigkeit gibt als die der kleinen Halbinsel am asiatischen Kontinent, die wir Europäer bewohnen; sogar in Indien nicht, trotz der großen Buntheit dieses Erdteils. Nur im Sinne des Jahrmarkts von Plundersweil ist Indien mannigfaltiger, nicht in dem der Substanz; dies erweist schon der physiologische Monismus aller Inder. Gerade die Substanz nun ist in Europa von Volk zu Volk ganz wunderbar verschieden. Freilich muss man näher Zusehen, um dessen gewahr zu werden. Zu Beginn meiner Weltreise schrieb ich: Europa fördert mich nicht mehr. Zu vertraut ist mir diese Welt, um meine Seele zu neuen Gestaltungen zu zwingen. Und dann ist sie an sich auch zu beschränkt. So konnte ich schreiben, weil mir dazumal der Planet als Ganzes normale Umwelt war. Seit dem Kriege musste ich mich auf Europa beschränken. Und da erging es mir wie während der Kriegsjahre auf meinem estländischen Landsitz: wo ich früher über die geringe Anzahl möglicher Spaziergänge klagte, entdeckte ich nun jeden Monat einen neuen. Und wie ich auf diesen Spaziergängen im kleinen Umkreis mehr Sonderlichkeiten bemerkte, wie ehedem auf meinen weiten Fahrten, so sind mir in Europa mehr Nuancen ins Auge gefallen, als ich auf meiner Weltreise große Unterschiede wahrnahm. Unter allen Umständen aber bietet mikroskopische Schau mehr Kurzweil als teleskopische. Wie soll man über den Sternenhimmel lachen? Jeder Blick ins Menschengetriebe, und desto mehr, um je Intimeres es sich handelt, bietet des Unterhaltenden die Fülle.

Doch unsere Überschau Europas führt noch zu einem dritten Ergebnis. Und dieses bestätigt den Satz des Reisetagebuchs, der unmittelbar auf den zuletzt zitierten folgt: Ganz Europa ist wesentlich eines Geists. In der Tat: gelangten wir nicht unwillkürlich Mal für Mal dahin, die verschiedenen Völker und Länder in Korrelation zueinander zu betrachten, nicht nur das eine auf dem Hintergrund des anderen? Allerdings gelangten wir dahin. Immer wieder ergab sich für uns aus dem Sosein eine Sendung; solche aber setzt offenbar eine vorherbestehende höhere Einheit voraus. Immer wieder bestätigte sich der Titel: die Auseinanderlegung bedeutete wirklich die Spektralanalyse eines nach außen zu einheitlichen Körpers. So bliebe dieses Buch unabgeschlossen, wenn wir auf die Behandlung der Komponenten nicht eine Bestimmung des Ganzen folgen ließen, und zwar nicht als Resümee, sondern eben in dem Sinn, dass die verschiedenen Elemente, die das Spektrum nachweist, als notwendige Bestandteile in einen einheitlichen Körper hineingehören.

1Die Ausführung dieses Gedankengangs enthalten die psychoanalytischen Kapitel von Wiedergeburt.
Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
Europa
© 1998- Schule des Rades
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