Schule des Rades

Hermann Keyserling

Unsterblichkeit

Über den Unsterblichkeitsglauben überhaupt

Allegorische Mythendeutung

Die beschreibende Eschatologie: es gibt wohl keine mögliche Vorstellung in betreff des Jenseits, welcher die Menschheit nicht irgendwo und wann gehuldigt hätte; vom völligen Verzicht auf Bestimmung bis auf die äußerste Präzision, von der altrömischen Jenseitslehre, nach der es überhaupt kein Jenseits gab und die Toten auf rätselhafte Weise im Diesseits fortlebten, bis auf die materialistische Transzendenz des islamischen Paradieses und das ideale Nichtsein des Nirwâna: zwischen den Grenzen, welche die Endlichkeit des Menschengeists als solche setzt, scheinen alle Stadien durchlaufen — vom Nullpunkt bis zur Peripherie. Hier, wenn irgendwo, hat Phantasie sich vollkommen ausgelebt.

Darum lohnt es sich kaum, die betreffenden Vorstellungen im Einzelnen zu verfolgen1: den Inhalt einer Enzyklopädie aufzuzählen, ist deswegen uninteressant, weil man von vornherein weiß, dass sie alles enthält. Um so interessanter hingegen erscheint die kritische Betrachtung der eschatologischen Phantasieschöpfungen: wir finden nämlich, dass sie desto unpräziser sind, je höher ein Volk steht, je reicher eine Einbildungskraft. Wie ist es, in der Tat, möglich, sich von dem eine präzise Vorstellung zu bilden, was man nie erfahren hat? Oder, falls der überkommene Glaube eine solche Vorstellung schon einschließt: wie soll man sie sich deutlich und verständlich machen? Die christliche Seele z. B. körperlos, aller greifbaren Attribute bar, nichts als Geist: einen Geist ohne Körper vermag keine Einbildungskraft sich auszumalen. Durch die Annahme der Auferstehung des Fleisches wird die Sache aber um nichts besser, eher schlimmer. Voltaire behauptet freilich:

La résurrection est une idée toute naturelle: il n’est pas plus étonnant de naître deux fois qu’une.

Nichtsdestoweniger ist das Auferstehungsdogma vollkommen unbegreiflich. Dem denkenden Kulturmenschen, der am alten Glauben festhält, bleibt daher nichts übrig, als sich jeder bestimmten Vorstellung zu enthalten.

Nichts hingegen fällt dem roh-naiven Menschen leichter, als sich das Unbegreifliche auszumalen. Der Bauer würde lachen, wollte man ihm die Unvorstellbarkeit der Seele darlegen: er sieht sie deutlich vor sich. Ja, ich glaube, dass undifferenzierte Völker und Menschen, wie trüb-verworren ihr Geistesleben faktisch sein mag, für ihr subjektives Empfinden stets völlig bestimmte Vorstellungen besitzen, überhaupt nur solcher fähig sind. Das Undeutliche setzt eine gewisse Kultur voraus. Man denke z. B. an die peinliche Genauigkeit, die wissenschaftliche Gründlichkeit, mit der primitive Maler ihre Höllenillustrationen ausführten; da blieb nichts zweifelhaft. Wogegen schon die Griechen der homerischen Zeit, wohl mehr aus Instinkt denn aus deutlichem Bewusstsein, vor das Jenseits einen Schleier zogen, hinter welchem die Mythologie um so farbigere, schillerndere Formen annehmen konnte. Sie besaßen genügend Phantasie, um sich bei Anregungen zu bescheiden, genügend Stilgefühl, um zu wissen, wo leichte Farben, wo starke Linien am Platze sind; genügend Reserve und Selbstbewusstsein, um vor dem Unergründlichen ehrfurchtsvoll stehen zu bleiben. Das philosophierende Hellenentum hat wohl nie, selbst dort, wo es aufs Bestimmteste die Seelenunsterblichkeit vertrat, etwas Präzises über das Jenseits gelehrt; alle Bilder galten eben als Bilder, nicht als Illustrationen. Und das tiefsinnige Indervolk lehnte jede konkrete Vorstellung von vornherein ab:

Kein Maß kann den bemessen, der hingegangen ist. Von ihm zu reden, gibt es kein Wort. Da alle Daseinsformen aufgehoben sind, sind alle Pfade der Rede aufgehoben.2

Phantasiearmut bewirkt das Gleiche, wie mangelnde Differenziation: dies erklärt, warum auch entwickelte Völker oft beängstigend deutliche Vorstellungen vom Unwissbaren besitzen. So die alten Ägypter. Diese wussten so genau über die Toten Bescheid, dass sie darüber die Lebendigen übersahen. Desgleichen erklärt sich der beispiellose Erfolg von Mohammeds Religion, die doch sonst recht wenig Neues brachte, durch ihre gewinnend präzise Jenseitslehre: die Araber waren, wenn auch nicht im gleichen Grade wie die Ägypter, ein überaus phantasiearmes Volk. Man sollte endlich begreifen, dass es kein Zeichen von Imaginationsreichtum ist, wenn die Gebilde der Einbildungskraft gar zu feste Gestalt annehmen: was sofort auskristallisiert, beweist eben dadurch seinen Plastizitätsmangel. Plastisch ist aber synonym mit reich, wo vom Geist die Rede ist, woraus folgt, dass eine reiche Phantasie niemals zu steinernen, unveränderlichen Gestalten führen wird. Und was gar das Abenteuerliche, das wild-Phantastische betrifft, so ist es immer ein Zeichen imaginativer Dürftigkeit. Wer am Liebsten das völlig Heterogene verbindet — so Menschenleiber mit Vogelköpfen usw. —, beweist damit, dass es ihm an Sinn für die Nuance, das einzig Unüberbrückbare fehlt; ein reicher Geist verbindet gesetzmäßig, wie die Natur.

Doch kompliziert sich das Problem außerordentlich durch die Umbildungen und Umdeutungen, welche die religiösen Mythen im Lauf ihrer Geschichte erfahren: Vorstellungen, wir in ihrer jüngsten Gestalt als barbarisch ansprechen möchten, waren ursprünglich oft zartsinnig und tief und verrohten erst durch das fortwirkende Missverstehen der Generationen. Hierher gehört die Metamorphose der Logos-Idee, die wir bereits berührten: aus einem tiefen Gedanken entstand ein plumpes Dogma bloß deshalb, weil die griechische Vokabel unübersetzbar war, weil man die übernommenen Gedanken nicht mehr zu denken wusste und so das Wort zum Götzen erstarrte.

Das Phänomen ist übrigens allgemein, ließe sich im Entwicklungsgange jeder Religion nachweisen. Darum will ich etwas näher auf dieses merkwürdige Verhältnis eingehen.

In ihren frühesten Stadien ist die Sprache nicht nur konkret, sondern wesentlich mythenbildend; sie kann einen Gedanken gar nicht anders als metaphorisch oder bildlich ausdrücken, und jede Metapher bedeutet, an sich selbst betrachtet, einen Mythos. Hier ist jeder Satz ein Gleichnis, jedes Urteil eine Trope. Der Mythos bedeutet nicht nur die erste Erklärung, er ist der erste sprachliche Ausdruck der Natur, schlechthin die letzte Instanz, das letztmögliche Symbol. Wer in diesem Entwicklungsstadium eine mythische Vorstellung aussprach, sagte damit alles, was er überhaupt sagen konnte; da er nicht in Begriffen dachte, lag ihm jedes weitere Kommentieren fern.

Das erste ist also der Mythos; wörtlich, schlechthin symbolisch zu verstehen. Mit der Zeit wird das Denken abstrakter; zu den gegenständlichen treten immer mehr Beziehungssymbole; die Fähigkeit, Beziehungen als Beziehungen aufzufassen, losgelöst von den aufeinander bezogenen Gegenständen, nimmt zu. Nun ist der Mythos das Letzte nicht mehr: jenseits des Bildes droht der Begriff. Beide sind häufig inkommensurabel, können in erbitterten Streit miteinander geraten.

Die Inkongruenz zwischen Bild und Begriff korrigiert sich schnell genug in natürlichen, praktisch kontrollierbaren Zusammenhängen; sie verschärft sich hingegen bei fortschreitender Entwicklung zwischen dem immer kritischer werdenden Erkenntnistrieb und dem religiösen Mythos. Denn da dieser als Glaubensobjekt unverändert fortlebt, das Denken sich aber immer mehr emanzipiert, so wird aus der ursprünglichen Harmonie mit der Zeit ein Gegensatz. Zuletzt löst er sich meist im Ruin des Glaubens. Zuerst aber gilt der Mythos als absolute, unbezweifelbare Wahrheit, mit der sich die Erkenntnis, so gut es geht, abzufinden hat. Was ursprünglich nur Form, nur Ausdruck war, wird nun zur Substanz, zum Dogma. Und da die Wahrheit im Dogma für gegeben gilt, mithin gar nicht erst gesucht zu werden braucht, das Denken aber im Mythos selbst die letzte Instanz doch nicht mehr anerkennen mag, so äußert sich die früheste wissenschaftliche Kritik im Kommentar.

Hier gibt es nun vor allem zwei Deutungsmöglichkeiten, die wohl stets nebeneinander verwirklicht worden und nicht selten ineinander übergegangen sind: die historische und die allegorische. Der Mythos wird entweder wörtlich genommen und als zeitliches Ereignis interpretiert, oder er wird allegorisch verstanden, als Verbildlichung abstrakter Gedanken. Den ersten Fall brauche ich nicht erst besonders auseinanderzusetzen, da er schon von den Griechen her jedem Gebildeten geläufig ist. — Viele der wundervollen Mythen, deren Tiefsinn schon ihren geistigen Ursprung erweist, galten zuletzt bekanntlich als Vorgeschichte des Hellenenvolks. Der allegorischen Mythendeutung müssen wir aber eingehendere Aufmerksamkeit zuwenden, weil sie — da der Mensch naturgemäß das Bestreben hat, das Irrationelle, das er glaubt, mit seinem Denken und Wissen irgendwie in Zusammenhang zu bringen — außerordentlich häufig gewesen ist und sich überdies stets als über die Maßen verhängnisvoll erwiesen hat.

Zu Zeiten grassierender Allegorie geht nämlich jedes Verständnis für das Symbol verloren. Die allegorische Ausdeutung schändet den Mythos, vermisst sich über etwas hinauszugehen, was seinem Wesen nach nur ein Letztes sein kann. So kommt es, dass gerade in späteren, soi-disant aufgeklärten Epochen, aus tiefsinniger Symbolik oft krassester Aberglaube entsteht. Dank ihrem unreinen Denken, das keinem Bild mehr gerecht werden konnte, gelang es der kirchlichen Exegese aus den erhabenen mystischen Lehren Christi, aus den tiefen Ideen des späteren Griechentums eine haarsträubende Theologie zusammenzubrauen. Alles Mythische ward entweder allegorisch oder historisch gefälscht, jedes unverstandene Wort erstarrte zu barbarischem Dogma. Die schärfsten Geister solcher Zeiten wetteiferten in unfruchtbaren Fälschungsarbeiten, erschöpften sich im Verflachen und Verderben des Erhabenen. Was lässt sich z. B. Unerfreulicheres denken, als das Lebenswerk Philos von Alexandrien, das darin bestand, in die mosaische Religion (an deren Wahrheit Philo nie zweifelte) die spätgriechische Philosophie (deren subtile Gedankengänge er souverän beherrschte) hineinzudeuten, oder was kann uns wehmütiger stimmen, als einen so edlen Geist wie Marsilio Ficino Jahre darauf verwenden zu sehen, aus Platons Symposion das Dreieinigkeitsdogma abzuleiten? Auf allegorischem Wege lässt sich eben alles erreichen. — Die Allegoriker sind oft sogar frech genug gewesen, dem exoterischen Mythos ihre wirren Begriffe als esoterischen Gehalt zugrunde zu legen; so sehr fehlte ihnen alles Anstandsgefühl. Sie begriffen nicht mehr, dass die genannte Scheidung nur bei symbolischen Vorstellungen einen Sinn hat, und dass deren eigene Bedeutung auf einer völlig anderen Ebene liegt, als was Verstand in sie hineinlegen kann. Hinter dem symbolischen Ausdruck liegt lebendige geistige Wirklichkeit. Allegoriker hingegen suchen hinter ihm den abstrakten Begriff. Das Sublimste verzerrt sich so greulich im Spiegel der Kommentare. — Da sieht man, wie gefährlich und oft ungerecht es ist, alte Mythen nach ihrem jüngsten Ausdrucke zu werten. — Erst spät, nach dem trüben allegorisierenden Durchgangsstadium, klärt sich das Denken, reinigt es sich. Aus gläubigem Kommentar wird sachliche, echte Kritik. Zugleich erwacht aufs neue der Sinn für das Symbolische, und der Mythos tritt als Sprache des Geist-Erlebens in seine Herrscherrechte wieder ein.

1 Jedes Lehrbuch der Religionsgeschichte enthält die betreffenden Daten — z. B. dasjenige von P. D. Chantepie de la Saussaye (3. Auflage, Tübingen 1905). Von älteren Werken möchte ich besonders Edmund Spiess’ Entwickelungsgeschichte der Vorstellungen vom Zustande nach dem Tode (Jena 1877) empfehlen; lesenswert ist auch Louis Bourdeau, The problème de la Mort, ses solutions imaginaires et la science positive, 5me éd Paris 1924.
2 Buddhistischer Spruch nach Oldenberg, vgl. Buddha, S. 323.
Hermann Keyserling
Unsterblichkeit · 1907
Eine Kritik der Beziehungen zwischen
Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt
© 1998- Schule des Rades
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