Schule des Rades

Hermann Keyserling

Unsterblichkeit

Über den Unsterblichkeitsglauben überhaupt

Seelenwanderung

Ich möchte noch einmal auf den Seelenwanderungsmythos zurückkommen. Dass er vielen fremdartig scheint, beweist nicht seinen Widersinn, sondern nur, wie festgefahren sie in ihren gewohnten Vorstellungsreihen sind; freiere Geister haben sich stets wesentlich anders zu ihm gestellt. Ich denke hierbei nicht an die Neobuddhisten und Theosophen, sondern an kristallklare Köpfe, denen wohl kein naiver Christ derartige Vorlieben zutrauen dürfte: z. B. Lichtenberg und David Hume.

Lichtenberg gesteht einmal: Ich kann den Gedanken nicht los werden, dass ich gestorben war, ehe ich geboren wurde;
und Hume schreibt: The metempsychosis is the only System of this kind, that philosophy can hearken to.

Wirklich ist dieser Mythos von allen schon deswegen der rationellste, weil er allein auf die Frage eine Antwort weiß, woher die Seele denn gekommen ist, der für die Zukunft ewige Dauer bevorsteht. Diese Erwägung hat wahrscheinlich die Ägypter, sicherlich Platon dem Seelenwanderungsglauben zugeführt. Der Vorzug, der Ewigkeit die Einsinnigkeit und Einseitigkeit zu nehmen, wiegt die kritischen Bedenken in betreff der beschränkten Zahl möglicher Seelen, welche dieser Glaube voraussetzen muss usf., reichlich auf. Deshalb haben sich gerade so viele Philosophen zum Seelenwanderungsmythos bekannt. Dem naiven Menschen aber, für den Erkenntnisgründe nicht schwer ins Gewicht fallen und der bloß sein Gerechtigkeitsbedürfnis befriedigt wissen will, muss er noch um vieles plausibler erscheinen: denn das Dasein erscheint unter seiner Voraussetzung in jedem Falle gerechtfertigt. Jede scheinbar unverdiente Unbill des gegenwärtigen Lebens gilt als Buße für in früherer Existenz verübtes Unrecht und wird andrerseits der nächstfolgenden Verkörperung gutgeschrieben. Das Einzige, was dieser Theorie vielleicht vorgeworfen werden kann, ist ihr allzu verständiger Charakter. Sie ist ein Produkt der Reflexion, des abstrakten Erklärungsbedürfnisses, einer ersten kritischen Philosophie — nicht der unmittelbaren inneren Anschauung, wie der spontane Glaube sie verlangt. Sie ist nicht aus sich selbst evident, sie überzeugt aus Gründen. Daher rührt es wohl, dass sie bei den intuitiven, irrationellen Europäern nie viele Freunde erworben hat. Den Indern hingegen, denen die Dialektik so sehr im Blute lag, dass auch der gemeine Mann mit vollem Verständnis den Predigten Buddhas folgen konnte, die uns eher als logische Collegia anmuten, in welchen der normale Student unfehlbar einschläft, war eine solche Theorie gerade recht.

Die Metempsychose ist nämlich als biologische Theorie viel tiefer, als gewöhnlich angenommen wird. Uns stört ihre Voraussetzung des moralischen Charakters alles Naturgeschehens — aber sind nicht auch unsere Prämissen oft bedenklich genug? Sehen wir von dieser ab, so liegen die Vorzüge der Theorie offen zutage. Erstens einmal erfüllt sie das Postulat bedingungsloser Kausalität besser als irgendeine andere: denn die naturgemäße Ursächlichkeit alles Geschehens erstreckt sich nach ihr auch aufs moralische Gebiet, umschließt die Idee der Gerechtigkeit, für welche in unseren natürlichen Welterklärungen kein Raum ist; in der Form, wie die Theosophie des modernen Indiens die Seelenwanderung vertritt (als Vervollkommnung von Verkörperung zu Verkörperung), impliziert der normale Naturverlauf sogar die reinmenschliche Idee des Fortschritts dem Ideale zu. Weiter statuiert die Metempsychose überall die Kontinuität, welche die Erkenntnis als zum Wesen des Lebens gehörig nachweist, welche das Denken fordert, und die doch mit der aktuellen Diskontinuität innerhalb der organischen Welt schwer zu vereinen ist. Ferner wird niemand bestreiten, dass der Verpflanzungsgedanke rationeller ist, als die Vorstellung der Auferstehung des Fleisches; er bedeutet eine gute und sogar antimetaphysische Interpretation des Sterbens, im Falle Fortdauer des individuellen Lebensprinzips und moralische Weltordnung vorausgesetzt sind. Endlich eignet der Metempsychose ein unbedingter kritischer Vorzug vor allen nur möglichen Eschatologien: die Fortdauer ist ihr ein Werden. Und da des Lebens Wesen fortschreitende Bewegung ist, so liegt auf der Hand, dass eine Theorie des Werdens diesem Wesen besser gerecht wird, als eine Theorie ewigen, beharrlichen Seins. Ein Sein dieser Art kann nur dem überindividuellen, transzendenten, schlechthin metaphysischen Prinzip des Lebens zukommen, — nenne man es Atman, Typus, Idee oder oberstes Gesetz. Und hier liegt der Punkt, von dem aus wir begreifen können, inwiefern es möglich ist, dass eine der Religion entstammende Theorie fähig gewesen ist, das überirdische Bedürfnis des Menschen zu befriedigen und doch keine übernatürlichen Postulate in das Weltgeschehen hineinzubeziehen:

In der Seelenwanderung kommt eine Potenz zum Ausdruck, die über die Person hinauswirkt und eine endlose Reihe von Existenzen innerlich bedingt. Das Vorhandensein derartiger Potenzen ist wissenschaftlich unbestreitbar: schon das Beharren der generellen Gestalt im Wechsel der Individuen bedeutet eine solche. Wir Europäer vermögen uns fortwirkende Prinzipien dieser Art nicht lebendig vorzustellen, weil wir im Individuum das Erste und Letzte sehen und nur zu sehr geneigt sind, in allem Überindividuellen eine menschliche Abstraktion, anstatt einer übermenschlichen, weil kosmischen Realität zu erkennen. An diesem Missverständnis ist die Kantische Philosophie, vor allem diejenige seiner mehr gläubigen als einsichtigen Jünger, nicht ganz unschuldig. Den Asiaten ist der Blick durch die Überschätzung des Individuums nicht getrübt; sie sehen in der Person kein Absolutum; ihr Standpunkt ist der Wirklichkeit näher. So war es dem metaphysischen Volk des Ostens, den Indern beschieden, eine Eschatologie zu ersinnen, die trotz aller ihrer Mängel naturgemäß erscheint.

Die Person ist Erscheinung, das Wesen ein Überpersönliches. Da nun der Wunsch nach Fortdauer nur auf die Person Bezug haben kann, das ewige Wesen aber jenseits aller zeitlichen Dauer liegt, so spaltet sich der Unsterblichkeitsgedanke in zwei Kategorien: das fortwährende Werden und das ewige Sein. Dieses wird von der empirischen Kausalität, sei sie mechanisch oder moralisch, nicht berührt; zeitlos beherrscht es den Wandel der Phänomene. Jenes bleibt (da alles Werden zur Erscheinung gehört) notwendig an dieser haften, reicht aber dennoch über die Person hinaus: ein endloses Geschehen kann sich in dessen endlicher Dauer nicht erschöpfen. Hier lehrt Vernunft das Gleiche wie der Unsterblichkeitsinstinkt. Aber wie nun ohne übernatürliche Postulate den Wechsel der Individuen mit dem Fortleben der Seele vereinen? — Nur auf zweierlei Weise scheint dies möglich: durch die Vorstellung, dass die Kinder das Leben der Eltern fortsetzen, oder durch den Mythos der Seelenwanderung. Indien hat sich für die zweite Auffassung entschieden. Es wollte die Person retten, wie gering es sonst von ihr denken mochte, weil es wusste, dass alles lebendige Geschehen an Individuen gebunden ist und eine moralische Weltordnung ohne persönliche Verantwortlichkeit ihres unerlässlichen Substrates entbehrt. Aber die Rettung misslang; sie war eben nicht möglich. Die Seele trägt in jeder Inkarnation einen anderen Charakter, ein anderes Bewusstsein, die Fortdauer findet nur objektiv, nicht subjektiv statt; die auf diese Weise errungene Unsterblichkeit ist eine unpersönliche. So führt auch die Vorstellung einer diesseitigen Fortdauer — das andere Extrem aller möglichen Eschatologien, deren erstes und dem letztgenannten entgegengesetztes die mystische Lehre von der Identität des Ich mit Gott bezeichnet — zur Leugnung der persönlichen Unsterblichkeit.

Hermann Keyserling
Unsterblichkeit · 1907
Eine Kritik der Beziehungen zwischen
Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt
© 1998- Schule des Rades
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