Schule des Rades

Hermann Keyserling

Unsterblichkeit

Mensch und Menschheit

Sollen und Wollen

Die Immoralisten unserer Tage glauben das Problem dadurch zu lösen, dass sie den Pflichtbegriff streichen. Es gäbe kein Sollen; die Natur wisse von Geboten nichts, und die Zeit einer unnatürlichen Ethik sei vorüber. Fragt sich, ob das Sollen wirklich ein unnatürliches, ein willkürliches Kunstprodukt ist?

Hauptärgernis der Immoralisten ist der kategorische Imperativ; gegen diesen werden die schwersten Geschütze aufgefahren, er löst augenblickliche Wutausbrüche bei ihnen aus. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn diese Stellungnahme wirklicher Sachkenntnis entspränge. Aber soweit ich habe ermitteln können, haben die Betreffenden Kant eigentlich nie verstanden und in den seltensten Fällen auch nur gelesen. Es ist ihnen nämlich die Hauptsache entgangen: dass es Kant in erster Linie nicht um die Aufstellung eines Moralsystems, sondern die Feststellung eines Tatbestandes zu tun war1. Er suchte das empirische Faktum nachzuweisen und zu begründen, dass es ein elementares, unzurückführbares Bewusstseins­phänomen gibt, das wir Menschen eben mit Sollen bezeichnen. Und gleichviel, ob Kant hier erschöpfend gewesen ist: dieser Nachweis lässt sich erbringen. Der (logisch berechtigte) Zweifel am faktischen Charakter des Sollens hält der Erfahrung gegenüber nicht stand. Wohl ist fraglich, was unsere Pflicht ist — zumal gegen Kants ethisches System lässt sich Gewichtiges einwenden; aber dass wir sollen — dafür zeugt das innerste Selbstgefühl.

Denken wir, um sogleich den Kern des Problems zu erfassen, an den Menschentypus, welchen die Immoralisten vorzüglich im Auge haben: den schaffenden Künstler. Etwa Richard Wagner, oder auch Nietzsche. Der geniale Künstler ist, par définition gleichsam, extremer Individualist: er will nur sich selbst verkörpern, tritt fremde Wünsche mit Füßen, weist jede soziale Verpflichtung ab. Und doch ist sich gewiss kein affichierter Altruist so sehr einer Aufgabe, die er coûte que coûte erfüllen muss, bewusst, wie gerade er. Er muss verwirklichen, was in ihm liegt; er muss der Menschheit dass Seinige geben — selbst wenn er sie verachtet oder hasst. Man lese die Briefe Richard Wagners, die Bekenntnisse Nietzsches, Beethovens erschütternde Klagen. Sogar der Fall Gustave Flauberts, des Künstlers, welcher die Menschen vielleicht am Wenigsten geliebt hat, gehört hierher: er opferte sich einer Sache, der Idee seiner Kunst. Aber die Sache ist offenbar nur ein vorläufiges Symbol für überindividuelle Zusammenhänge, auf deren nähere Bestimmung verzichtet wird, und diese Zusammenhänge betreffen in letzter Instanz wieder den Menschen, wenn auch nicht das Individuum. Es ist bloß eine Frage der Optik und des Temperaments, ob man einer Sache oder der Menschheit zu leben sich bewusst ist; in wesentlichen Fragen kommt es aufs selbe heraus. Wer nur die Anfangsgründe der Psychologie beherrscht, muss merken, dass kein Künstler, wie einsam er sich fühlen mag, sich selbst genug ist: ihm liegt am Ruhme; und Ruhm ist, wie Ihering treffend definiert,

kein bloßer Tribut der Dankbarkeit, den die Welt zollt, sondern der Ausdruck der fortdauernden Wirksamkeit seines Trägers.

Gar mancher verzichtet gern auf die Anerkennung seiner Zeitgenossen, doch rechnet er um so mehr auf das Verständnis der Nachwelt. Hier gibt es keine Ausnahmen; und ob einem an der Mit- oder Nachwelt liegt, bezeichnet keinen wesentlichen Unterschied. Jeder Künstler lebt also in irgendeiner Form für die Menschheit, ist sich ihr gegenüber einer Pflicht bewusst. Deswegen fühlt er sich in der Regel berechtigt, von anderen unterstützt zu werden, oder — was nur die (negative) Kehrseite des gleichen Verhältnisses bezeichnet — von ihren Ansprüchen verschont zu bleiben. Er hat eben andere Pflichten, aber desto gebieterischere. So mancher Genius hat sich zugrunde gerichtet, auf persönliches Glück verzichtet, nur um seine Aufgabe zu erfüllen; er hat sich seinem Werk, das, einmal vollendet, doch nur anderen, nicht mehr ihm selbst zugute kommt, geopfert. — Man sagt: der Schöpfungstrieb sei eben der souveräne Instinkt des Künstlers. Selbstverständlich. Im selben Sinn war das Pflichtgefühl Bismarcks stärkstes Willensmotiv, im selben Sinne will der Japaner um jeden Preis für sein Vaterland sterben. Auch das Sollen kann nur vermittelst des individuellen Wollens zu Taten führen, und aus dieser Überlegung heraus hält es nicht schwer, jedes Sollen zu leugnen. Nur ist diese Überlegung weder scharf- noch tiefsinnig, schafft die Tatsache des Pflichtgefühls nicht aus der Welt. Es ist doch nicht dasselbe, ob meine Person mir Zweck oder Mittel ist; dieser Unterschied ist sogar der größte, der sich überhaupt denken lässt. Der Künstler, der für Philisteraugen nur sich selbst lebt, lebt in Wahrheit seiner Aufgabe; seine Person ist ihm Mittel, nicht Zweck. Und lässt sich wohl eine bessere Definition des Sollens finden als die folgende: unter dem Gesichtspunkte oder unter der Voraussetzung zu wollen, dass die eigene Person nicht Zweck, sondern nur Mittel ist? Sehen wir nun aber genauer hin, so gewahren wir, dass zwischen dem rücksichtslosen Selbstverkörperungsbedürfnis eines Wagner, dem strengen Pflichtgefühl eines Bismarck und dem unpersönlichen Selbstaufopferungstriebe des Japaners überhaupt kein prinzipieller Unterschied besteht. Wie überraschend dies klingen mag, es ist nicht anders; denn sie alle sind sich im letzten Grunde nur Mittel, nicht Zwecke. Freilich nicht mit der gleichen Bewusstheit, nach der gleichen Richtung oder mit der gleichen Intensität: der Japaner opfert sich triebhaft, ohne Reflexion, seinem Vaterland; Bismarcks Verhalten ward durch bewusste Einsicht, durch strengste Selbstdisziplin diktiert; und wenn Wagner den gebieterischen Drang fühlte, sein Leben der Menschheit zu weihen, so kam dieser Drang zunächst in tyrannischer Selbstbehauptung zum Ausdruck. Doch betreffen die Unterschiede in der Erscheinung, genau besehen, bloß Unterschiede in den Mitteln, nicht im Wesen: Ausgangspunkt und Ziel sind bei allen dreien die gleichen; sie leben sich selbst, aber zugleich und implizite einem Höheren; eines jeden Wollen umschließt zugleich ein Sollen. Ja, es dürfte wohl in keinem Fall gelingen, den Willensimpuls vom Pflichtbewusstsein völlig loszulösen, so fest hängen beide zusammen: sogar der frivole Lebemann, dessen Seinsnotwendigkeit jedem Dritten bestreitbar dünkt, redet sich Pflichten ein, die sein Dasein unbedingt erheischen; und wenn der extreme Individualist, der jede soziale Verpflichtung abweist, von Pflichten gegen sich selbst spricht, so ist das mehr als eine euphemistische Redewendung: der Ausdruck entspricht einem unleugbaren Bewusstseinsphänomen. Was wir sollen, ist in der Theorie ganz unbestimmt, und gar Viele mögen sich praktisch Illusionen darüber hingeben; aber dass er etwas soll, was auch immer, weiß jeder. Hier gibt es keine Ausnahmen. Die Form des Wollens impliziert überall die des Sollens, und dieser formale Charakter ist einzig bestimmend für das Problem.

Ich fasse mich hier kürzer, als es zur Klarlegung dieses äußerst wichtigen Verhältnisses vielleicht ersprießlich ist. Die Anlage dieses Buchs verbietet mir ein umständlicheres Eingehen. Meine Aufgabe ist jetzt die, die zum Verständnis der unbestreitbaren Tatsachen einzig zulänglichen Prämissen aufzudecken.

Hier tritt uns sofort eine ernste Schwierigkeit entgegen. Wir wissen, dass Sinn und Zweck des Lebens in ihm liegen, nicht außerhalb2. Jede andere Auffassung schlägt den Tatsachen ins Gesicht, führt zu absurden Konsequenzen. Lebe ich einer Idee, so tue ich’s, weil diese Zwecksetzung mir Lebensbedingung ist; diene ich der Wahrheit, so ist es, weil ich ohne zu erkennen nicht dauern kann; ist eine Person mir Lebenszweck, so beweist das, dass ich ohne sie nicht existieren kann. Das Leben ist sein eigener, einziger Zweck. Wie reimt sich nun diese Erkenntnis, die sonst für gesichert gelten darf, mit der Tatsache zusammen, dass wir unsere Person der Sache opfern, dass wir Pflichten anerkennen, die über uns hinausweisen, dass wir einer Idee halber willig in den Tod gehen und in unserer Person, wie sich vorhin erwies, nur ein Mittel, nicht den Zweck erblicken? Liegt hier kein Widerspruch vor? — Ich glaube nicht; es gilt bloß, schärfer zu präzisieren. Wohl ist das Leben sein eigener, einziger Zweck, nicht aber die Person. Die letzte Prämisse des Einzelnen ist allerdings sein Leben, nicht aber sein empirisches Ich. Jeder Mensch weiß sich ursprünglich als Teil eines höheren Ganzen; dieser überindividuelle Zusammenhang ist die tiefste und letzte Voraussetzung des ethischen Selbstbewusstseins.

Diese Voraussetzung klingt befremdlich, und doch: wie käme der Mensch darauf, für Andere nicht nur zu leben, sondern sich seines Lebens überhaupt erst in bezug auf die Anderen bewusst zu werden, wenn es sich anders verhielte? Es ist ja Tatsache, dass jeder Mensch, gleichviel wie seine Natur orientiert sein mag, seinen eigentlichen Sinn, seine raison d’être in der Menschheit sieht. Auch das abgeschlossenste, schroffste Selbstbewusstsein ist an ein Nicht-Ich gebunden. Alles Werten ist ein In-Beziehung-setzen; selbst seines absoluten, seines unvergleichlichen Werts kann sich der Einzelne nur in bezug auf Andere bewusst werden. Das Ich postuliert als Korrelat ein Du. Wenn dem aber so ist, dann ist die Voraussetzung, dass das sittliche Bewusstsein ursprünglich nicht von der Person, sondern von höheren Synthesen ausgeht, unumgänglich: denn unter keiner andern sind die Tatsachen zu verstehen. Und es ist eben Tatsache, dass eines jeden Streben über die Person hinausweist. Auch der Nihilist lebt einer Idee, auch der Anarchist sucht auf seine Weise der Menschheit zu dienen, sogar der Ästhet ist sich im tiefsten Grunde mehr Mittel als Zweck: Mittel zum Lebenskunstwerk, zur ästhetischen Vollendung des Daseins, die er als objektiven Wert setzt. Oscar Wilde war es zweifellos ernst, als er sich aus dem Grunde den Gerichten (denen er sich sehr wohl entziehen konnte) stellte, auf dass seinem sonst vollkommenen Leben auch die Tragödie nicht fehle, und die Tragödie ward ihm bitter genug. Unter der genannten Voraussetzung allein scheint verständlich, inwiefern, was als Tatsache gewiss ist, zwischen dem rücksichtslosen Selbstverkörperungsbedürfnis eines Wagner, dem strengen Pflichtgefühl eines Bismarck und dem unpersönlichen Selbstaufopferungstriebe des Japaners kein prinzipieller Unterschied besteht: der überindividuelle Zusammenhang ist eben ihrer aller gemeinsame Voraussetzung. Der Künstler strebt bloß deshalb rücksichtslos nach seiner eigenen höchsten Vollendung, weil er nur auf diese Weise seinen Platz in der Menschheit ausfüllen kann, welches Ziel dem Japaner durch Selbstaufopferung, einem Bismarck durch pflichttreue Arbeit im Dienst der Sache am Besten gelingt. Ja man kann diesen Satz sogar umkehren, so geschlossen ist der Kreis, der den Menschen mit der Menschheit verbindet: Wagner konnte sich selbst nur dadurch vollenden, dass er ausschließlich sich selbst lebte, Bismarck hingegen nur dadurch, dass er Anderen diente. Und erinnern wir uns jetzt der Tatsache des flüssigen gegenseitigen Verhältnisses von Selbst- und Volksbewusstsein, wie es unser ethnologisch-historischer Streifzug enthüllte, so erscheint es sicher, dass jener überindividuelle Zusammenhang dem ursprünglichen Bewusstsein eine Realität, nicht, wie dem reflektierenden Denken, eine abstrakte Idee bedeutet.

Jetzt sind wir in der Lage, die Stellung des Sollens im Zusammenhang des Wirklichen zu begreifen, zu erkennen, dass die sittliche Welt in keinem Gegensatz zur natürlichen steht: das Sollen ist nichts anderes, als das Wollen als Teil einer höheren Einheit. Kants Gebot:

Frage dich selbst, ob die Handlung, die du vorhast, wenn sie nach einem Gesetze der Natur, von der du selbst ein Teil wärest, geschehen sollte, sie du wohl als durch deinen Willen möglich ansehen könntest —

dieses so vielfach bekämpfte, weil unverstandene Gebot weist unmittelbar auf unsere Voraussetzung hin; die Naturtatsache des Pflichtgefühls ist unter einer anderen nicht zu verstehen. So aber erscheint sie begreiflich genug: wenn die ursprüngliche Basis des sittlichen Bewusstseins nicht die Person, sondern eine überpersönliche Synthese ist, dann versteht es sich von selbst, dass wir sollen, dann verliert das Phänomen, dass der Mensch sich selbst nicht Zweck, sondern nur Mittel ist, seinen befremdenden Charakter.

Denken wir aber zum Schluss an unsere früheren Gedankenreihen zurück, so gewahren wir, dass wir nichts Unbekanntes entdeckt haben; unser Weg hat uns zu vertrauten Breiten zurückgeführt. Wir erkannten seinerzeit, dass das Ich, auf welches Selbsterhaltungstrieb wie Unsterblichkeitsbedürfnis sich beziehen, mit der Person nicht zusammenfällt; es ist ein Überindividuelles, für das wir leben. Deckt sich dieses Ergebnis nicht mit der Voraussetzung, zu der wir zuletzt gelangt sind? — Freilich: damals hatten wir bloß die sukzessive Einheit des Ich, seine zeitliche Dauer im Auge; jetzt handelt es sich um einen allseitigen Zusammenhang.

Aber die Wirklichkeit, um die es sich handelt, ist die gleiche. Wir kommen von einer anderen Seite her zum gleichen Schlusse: dass wir im tiefsten Grunde mit unserer Person nicht identisch sind.

1 Vgl. hierzu außer Kants eigenen Schriften Georg Simmels Vorlesungen über Kant, S. 80 ff., und H. S. Chamberlains Kant, S. 702 ff.
2 Vgl. den Epilog zu meinem Gefüge der Welt.
Hermann Keyserling
Unsterblichkeit · 1907
Eine Kritik der Beziehungen zwischen
Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME