Schule des Rades

Hermann Keyserling

Unsterblichkeit

Individuum und Leben

Individualisationsstufen

Welcher ist der Sinn des Individuums innerhalb der Gesamtheit organischen Geschehens? — Die Beantwortung dieser Frage setzt eine genaue Bestimmung des Individualitätsbegriffs voraus; und unternehmen wir eine solche, so erweist es sich bald genug, dass sie in eindeutigem Sinne — unmöglich ist. Wird überall an diesem Begriffe festgehalten, so muss er für jeden Organisationstypus eigens definiert werden; und in jedem Falle wird die Definition einen anderen Inhalt umschließen1.

In der Tat: wenn Individuum und Lebenseinheit Wechselbegriffe sein sollen, dann muss es Individualitäten verschiedener Ordnung geben. Ein Infusor, das sich ad infinitum zu teilen vermag, kann mit der menschlichen Persönlichkeit nicht verglichen werden. Ebensowenig ist diese mit der Individualität eines Wurms, der ohne Umstände das abgeschlagene Haupt regeneriert, oder eines Seesterns, dessen einzelne Arme ohne Weiteres das Gesamttier durch Knospung wiederherstellen, in gegenständliche Beziehung zu setzen. Das Wesen der Individualität, wie sie uns bei den höchsten Tieren begegnet, ist gesetzmäßige Begrenztheit, vollständige Abgeschlossenheit. Es gibt aber Tierkolonien, welche uns als grenzenlos anmuten (weil die Zahl ihrer Mitglieder beliebig groß sein kann) und die dennoch unbedingt als Einheiten anzusprechen sind, da sie einen einheitlichen Verdauungs- und Zirkulationsapparat besitzen, und auch die Fortpflanzung mehr von der Kolonie als vom einzelnen Mitglied auszugehen scheint. Weiter gibt es Organismen, bei denen die selbständige Individualität nur ein Stadium darstellt und im Laufe der Entwicklung zum Organ sich degradiert. In anderen Fällen wiederum werden aus ursprünglichen Organen späterhin selbständige Lebenseinheiten usw. Hier ist eine eindeutige Definition nicht möglich. Schon im Jahre 1866 konnte Haeckel schreiben:

Die vielfach aufgeworfene Frage nach der absoluten Individualität der Organismen ist dahin zu beantworten, dass dieselbe nicht existiert.2

Wo das Absolute unerreichbar ist, sucht man das Relative wenigstens zu begrenzen: so hat man die verschiedenartigen Individualisations­stufen des Lebens klassifiziert, in Systeme gebracht. Solcher Systeme gibt es viele. Haeckel unterschied seinerzeit sechs Ordnungen:

  1. Plastiden (Cytoden und Zellen oder Elementar-Organismen).
  2. Organe (Zellenstöcke oder Zellfusionen, einfache oder homoplastische Organe, zusammengesetzte oder heteroplastische Organe, Organsysteme, Organapparate).
  3. Antimeren (Gegenstücke oder homotype Teile). Strahlen der Strahltiere, Hälften der Endipleuren (bilateralsymmetrischen Tiere) usw.
  4. Metameren (Folgestücke oder homodyname Teile). Stengelglieder der Phanerogamen, Segmente, Ringe oder Zoniten der Glieder- oder Wirbeltiere usw.
  5. Personen (Prosopen). Sprossen oder Gemmae der Pflanzen und Coelenteraten usw., Individuen im eigentlichen Sinne bei den höheren Tieren.
  6. Cormen (Stöcke oder Kolonien). Bäume, Sträucher usw.;
Jedes dieser morphologischen Individuen verschiedener Ordnung vermag als selbständige Lebenseinheit aufzutreten und das physiologische Individuum zu repräsentieren. Auf der niedersten Stufe der Plastiden bleiben sehr viele Organismen zeitlebens stehen, z. B. die meisten Protisten und viele Algen. Die zweite Kategorie des Form-Individuums, das Organ, erscheint als selbständige Lebenseinheit bei vielen Protisten, Algen und Coelenteraten. Auf der dritten Stufe, dem Antimeren — Zustande, bleibt die Lebenseinheit stehen bei vielen Protisten und einzelnen niederen Pflanzen und Tieren. Die vierte Ordnung, das Metamer, erscheint als Lebenseinheit bei den meisten Mollusken, vielen niederen Würmern, Algen usw. Die fünfte Kategorie, die Person, repräsentiert das physiologische Individuum bei den meisten höheren Tieren, aber nur bei wenigen Pflanzen. Endlich die sechste Ordnung der morphologischen Individuen, der Stock, bildet die physiologische Individualität bei den meisten Pflanzen und Coelenteraten3.

Heute werden freilich andere Klassifikationen bevorzugt. Edmond Perrier unterscheidet Plastiden, Meriden, Zoiden und Demen4; die deutsche Wissenschaft begnügt sich zumeist mit der Unterscheidung von Zelle, Person und Stock. Doch kommt es wenig darauf an, auf welche Weise klassifiziert wird: alle nur denkbaren Einteilungen sind unzulänglich, weil gewaltsam, schaffen dort scharfe Grenzen, wo es nur vermittelte Übergänge gibt. Aber sie alle verleihen wenigstens dem einen Umstande deutlichen Ausdruck, dass der Individualitäts­begriff keinen eindeutigen Inhalt einschließt. Das Individuum ist gleichsam das x des Zoologen, das für jeden konkreten Fall neu definiert werden muss.

Lässt sich der Individualitätsbegriff vielleicht genetisch auf eindeutige Weise bestimmen? Félix Le Dantec schreibt:

L’individu est, dans chaque espèce, la plus haute unité morphologique que puisse reproduire fidèlement l’hérédité.5

Hiernach bedeutet bei Kolonialtieren die Kolonie, nicht deren einzelnes Glied, das Individuum, da aus jedem Keim im Laufe der Zeit und unter günstigen Bedingungen eine Kolonie entsteht; bei Protozoen die Einzelzelle, beim Menschen der Mensch usw. Aber schließlich beweist gerade die Richtigkeit dieser Definition, dass der strittige Begriff, sofern er verständlich sein soll, auf die Gesamtheit der Organismen nicht zu übertragen ist. Ein Begriff, der sich allem anpassen kann, ist an sich selbst vollkommen inhaltsleer. Zweckmäßiger wäre beinahe, in der Kolonie die allgemeinste Lebenseinheit zu statuieren: denn mit Ausschluss der Einzelligen sind tatsächlich alle Tiere Kolonien, und die Unterschiede in der funktionellen Zentralisation (der Grundlage des Individualitätsbegriffs) erscheinen diesem einen durchgehenden Zuge gegenüber so verschwimmend und schwankend, dass man sie leicht als unwesentlich ansprechen mag. Das ist der Gesichtspunkt Edmond Perriers. Aber auch dieser ist nicht allseitig befriedigend. Von der so bedeutenden Klasse der Einzelligen lässt sich nicht absehen, und betrachten wir den Menschen als Kolonie, so ist das wohl möglich und auch richtig, doch fördert es uns nicht: bei den höheren Tieren ist die unbedingte Einheit des Organismus nun einmal der dominierende Zug.

Was sollen wir aus all diesen Unzulänglichkeiten folgern? — Wenn sich auf Grund der Protistenkunde kein Begriff aufstellen lässt, der auf den Menschen passte, wenn umgekehrt der übliche, vom Menschen abstrahierte Individualitätsbegriff anderen Lebenstypen gegenüber versagt — nun dann liegt der Fehler offenbar an unseren Begriffen, nicht an den Tatsachen. Wenn alle Tiere nicht wirklich, wie Perrier dies will, Kolonien sind, so ist das nicht Beobachtungsfehlern jenes hervorragenden Forschers zuzuschreiben, sondern der Sprache und den Worten, die er wohl oder übel verwenden musste. Der Individualitätsbegriff ist rein menschlichen Ursprungs; und jeder Versuch, das spezifisch Menschliche auf die Gesamtheit des Lebens zu übertragen, muss notwendig scheitern. Gewiss bedeuten alle Organismen Lebenseinheiten; doch ist deren Einheit von der unserigen (von der wir unbewusst überall ausgehen) oft derart verschieden, dass unsere Ausdrucksfähigkeit, mithin auch unser Verstehen versagt.

1 Eine erste Schwierigkeit liegt schon in der Nicht-Identität der morphologischen mit der physiologischen Individualität: eine einheitliche Form braucht nicht selbständig zu sein, was als Einheit wirkt, kann der Analyse als vielfältig erscheinen. Je nachdem der Gesichtspunkt ein statischer oder ein dynamischer ist, gewinnt das Problem andere Gestalt. Schon hier beginnen sich also, wie man sieht, die Begriffe zu verwirren. Doch beuge ich in Folgendem dieser ersten Schwierigkeit dadurch vor, dass ich unter Individualität ein für alle Male die aktuelle Lebenseinheit, gleichviel wie diese beschaffen sein mag, verstehe. Dieser Definition fehlt es gewiss an Präzision, doch genügt sie für die Zwecke, die wir im Auge haben.
2 Generelle Morphologie, Berlin 1866, I, 268.
3 Ebd., I. 266.
4 Les colonies animales et la formation des organismes. 2. éd. Paris 1898, S. 721.
5 L’Unité dans l’être vivant. Paris 1902 S. 140.
Hermann Keyserling
Unsterblichkeit · 1907
Eine Kritik der Beziehungen zwischen
Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt
© 1998- Schule des Rades
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