Schule des Rades

Hermann Keyserling

Unsterblichkeit

Über den Unsterblichkeitsglauben überhaupt

Wort und Übersetzung

Die Menschheit kann also schon deshalb nicht von der Unsterblichkeit der Seele zeugen, weil sich ein bedeutender Teil ihrer die Frage überhaupt nicht stellt. Ein weiterer Grund, weshalb es nicht angeht, von der Allgemeinheit des Unsterblichkeitsglaubens zu reden, liegt nun darin, dass Seele kein allgemein-menschlicher Begriff ist. Ich stehe nicht an, zu behaupten, dass alle die gutgemeinten Bücher, welche auf Grund der eschatologischen Vorstellungen fremder Völker die Ubiquität des Unsterblichkeitsglaubens (so wie wir das Wort verstehen) beweisen wollen, schon darum verfehlt sind, weil jene Vorstellungen einer Übersetzung in unsere Denkart unfähig sind. Man sollte doch endlich begreifen, dass Worte nur dort einen Sinn haben, wo ihnen ein bestimmter Inhalt entspricht. Zwar gebrauchen wohl die meisten Menschen Ausdrücke, mit denen sie keinen persönlichen Inhalt verbinden (dies ist, nebenbei bemerkt, die Kehrseite der oft betonten Tatsache, dass große Schriftsteller ihren Worten stets eigentümliche Bedeutung verleihen): einen sozialen Inhalt haben diese stets. Im 20. Jahrhundert und in den literarischen Kreisen Deutschlands bezeichnet das Wort Genie z. B. eine recht bestimmte Geistesorganisation. Darum hat es einen Sinn, selbst wenn es einmal von jemand angewandt wird, der sich gar nichts Deutliches darunter zu denken weiß; es hat einen zeitlich sozialen Sinn. Derselbe Ausdruck kennzeichnete aber zur Zeit des jungen Goethe einen formlosen Kraftmenschen und im Altertum einen Schutzgeist und weiter nichts. Was bedeutet denn nun Genie im Allgemeinen? Gar nichts; entweder etwas zeitlich Bestimmtes oder nichts. — Das Wort Sophist bezeichnete ursprünglich einen philosophischen Ehrentitel; sogar der Weltschöpfer wurde zu jenen Zeiten gelegentlich, und ohne Ironie, ein Sophist genannt1. Desgleichen verstand man unter einem Skeptiker zuerst bloß einen gründlichen Denker, der nicht alles auf Treu und Glauben hinnahm. Wie soll nun ein Leser, der nur die moderne Bedeutung dieser Worte kennt, die Gedanken entlegener Zeiten richtig nachdenken! Und es handelt sich nicht einmal um entlegene Zeiten: schon die Sprache des 18. Jahrhunderts ist, dünkt mir, den Meisten missverständlich. Die Klangfarbe des damaligen Denkens wich von der heutigen ab; feine Ohren muss der besitzen, der sie deutlich wahrnehmen will. Was Diderot unter raison oder d’Holbach unter nature verstand, davon haben sogar die Franzosen unserer Tage in der Mehrzahl kaum eine Ahnung, geschweige einen Begriff.

Darum ist eigentlich schon jede bloß zeitliche Übersetzung unmöglich. Verstehe ich einen Ausdruck der Aufklärungszeit — ich habe speziell das Wort Humanität im Ohr — modern, so übersetze ich damit schon und — fälsche zugleich:

Les mots sont comme les monnaies: ils ont une valeur propre avant d’exprimer tour les genres de valeurs,

sagt mit Recht Rivarol. Noch unmöglicher (man verzeihe den Komparativ) ist die Übersetzung einer durch Blut und Milieu gänzlich verschiedenen Denkart in die unserige. Hier ist Missverständnis kaum zu vermeiden. Wo es sich um Symbole für konkrete Gegenstände handelt (etwa Baum, Hund usw.), da sind die verschiedenen Sprachen noch ungefähr zur Deckung zu bringen, obschon auch hier die Inkommensurabilität eine sehr große sein kann, wie der Vergleich der japanischen mit den arischen Mundarten beweist2; bei Begriffen und Ideen, d. h. bei Beziehungssymbolen fehlt jegliche Kongruenz. Jedes Volk fasst die Beziehung zwischen den gleichen Gegenständen aus einem anderen Gesichtswinkel auf, sieht sie aus besonderer Perspektive. So hat das Relationssymbol Liebe (graphisch gesprochen) schon andere Koordinaten als amour oder love — von den asiatischen oder afrikanischen Synonymis zu schweigen. Und Konstruktionen, die sich perspektivisch voneinander unterscheiden, sind niemals miteinander zur Deckung zu bringen; man kann sie bloß ineinander umdeuten — damit geht aber gerade das Wesentliche verloren. Eine wirklich treue Übersetzung ist ein Ding der Unmöglichkeit. Und denken wir nun gar an durch Jahrtausende geschiedene Kulturepochen! Unsere ganze Theologie, ja unsere gesamte Philosophie ist sozusagen aus missverstandenem Griechisch hervorgegangen! Das nebelhafte Denken der Syrer, das ungeschlachte der Germanen übernahm die subtilen Ideologien des hellenistischen Alexandrien. Was war die Folge? — Eine Dogmatik so abenteuerlicher Art, eine derartig wilde Metaphysik, wie sie kaum ein menschenfressendes Naturvolk schlimmer ausgeheckt. Wo man mit Begriffen operiert, die man nicht begreift, wird man unverantwortlich. Die Völker sind wie die Kinder: sie übernehmen zwar das Wort, schaffen ihm aber selber den Sinn; deshalb kann von Gedankenübernahme kultur-historisch füglich kaum die Rede sein. So erging es dem griechischen Worte Logos. Der Logos, schreibt Harnack3,

offenbarte sich allmählich als die bequemste Variable, die sich durch jede neue Größe, welche in den theologischen Ansatz aufgenommen wurde, sofort bestimmen ließ.

Die Theologen gingen da allerdings rücksichtslos ins Zeug: aus der so tiefen, aber schlechterdings unübersetzbaren Logos-Idee der griechischen Kultur entstand die rohmaterialistische Lehre von der Gottessohnschaft Christi! Das Johanneische: das Wort ward Fleisch wurde wörtlich aufgefasst, und da sich bei dieser Vorstellung schwer etwas denken ließ, so glaubte man blindlings und verdarb sich das ohnedies nicht allzu scharfe Denken vollends durch das Bestreben, den Glauben durch Verstandesargumente zu begründen. Überhaupt pflegen tiefsinnige Mythen, die ursprünglich reinsymbolisch gemeint waren, dank dem Missverständnis späterer Zeiten gemach zu den starrsten Verstandesdogmen auszukristallisieren …4.

Jede Sprache verbindet zu einer bestimmten Zeit mit einem bestimmten Wort einen bestimmten Sinn: dieser Satz hat axiomatische Gültigkeit. Woraus unabweisbar das Weitere folgt, dass es allgemeine Begriffe, die zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern verschiedenen Inhalt hätten, gar nicht geben kann5. Halten wir diese Erkenntnis fest; sie ist grundlegend: denn jetzt erst sind wir in der Lage, unserem Probleme kritisch näherzutreten.

1 Vgl. Max Müller, The science of thought, London 1887, S. 612.
2 Vgl. namentlich Percival Lowell: The Soul of the Far East, S. 78 ff. und natürlich auch Professor B. H. Chamberlains grundlegendes Werk The japanese language.
3 Dogmengeschichte, 3. Aufl., I, S. 654.
4 Die deutlichste, mir bekannte historisch-kritische Darstellung der Logos-Lehre befindet sich in Max Müllers Theosophy or Psychological Religion (The Gifford Lectures, delivered before the University of Glasgow in 1892, lecture XII). Doch will ich weder Müller noch Harnack noch sonst jemand die Verantwortung für meine Deutung dieser Verhältnisse aufbürden.
5 Vgl. über die Ausschließlichkeit jeder Sprache meine Abhandlung Die begrenzte Zahl bedeutsamer Kulturformen in Philosophie als Kunst, Darmstadt 1920, Otto Reichl Verlag.
Hermann Keyserling
Unsterblichkeit · 1907
Eine Kritik der Beziehungen zwischen
Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt
© 1998- Schule des Rades
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