Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Ursprünglichkeit und Primitivität

Goethekult

In den Südamerikanische Meditationen schrieb ich: im Anfang war nicht der Mann, sondern das Weib, nicht die Wahrhaftigkeit, sondern die Lüge, woraufhin ich weiter ausführte, dass und inwiefern sich alle Ur-Geistbestimmtheit in Schauspielertum äußert. Selbstverständlich gilt gleiches mehr oder weniger auch von Männern, aber es gab und gibt keinen Mann, der in den ersten entscheidenden Jahren seines Lebens nicht von Frauen erzogen wurde und sie sind unter allen Umständen die Hüterinnen jeder bestimmten Überlieferung und damit auch Kultur, da sie allein mit voller Überzeugung am jeweiligen Zwischenreiche hängen und aus diesem wesentlich nicht hinausstreben. So erhalten sie auch von jeher die Kirchen im weitesten Verstand am Leben. Der Kultus, welcher zu aller Zeit bis auf ganz seltene Ausnahmen Männerangelegenheit war — der männliche Priester übertrug gelegentlich der geweihten Frau eine bestimmte Rolle in ihm — ist nämlich völlig anderen Ursprungs als die Kirche. Er bedeutet Handeln aus dem Geist heraus und damit persönliche Ausstrahlung, so wie der Priester im Gottesdienste Gott vertritt — die Kirchen als solche sind nur konservierende Behälter für den Geist, ihre Aufgabe ist Weiblich. Etwas Kirchenähnliches bedeuten Frauen auch sonstige Geistestraditionen, und hier tritt ihr nur mittelbares Verhältnis zum Geist besonders deutlich zu Tage. Wenn der Geist ihnen wesentlich in zwischenreichlicher Verkörperung zugänglich ist, so bevorzugen sie auf diesem Gebiet des profan-Geistigen unwillkürlich irreellen Geist: d. h. Geist, welcher ihnen nicht etwa ursprünglich Geistiges vermittelt oder von diesem her die Natur, wie sie ist, durchleuchtet, sondern Geist als Beschönigung, als Weg der Flucht aus dem unmittelbaren Erlebnis, ja als Arabeske.

Der weibliche Goethekult hat seinen Grund vor allem hier, denn von allen großen Geistern hatte Goethe am meisten die Neigung, das Unangenehme und Schwere dieses Lebens zu ignorieren und diese ursprüngliche Neigung ist es, welche die Frau bei Goethe am meisten beglückt. Und weiter. Frauen reden häufiger, mit größerer Betonung und besserem Gewissen davon, dass sie die Wahrheit sprechen, als solches jemals seitens echter Männer geschieht: ich gewann schon in meiner Jugend die noch durch keine Erfahrung widerlegte Überzeugung, dass wo eine Frau ihre Wahrhaftigkeit betont, und dies zwar ehrlich und mit gutem Gewissen, sie eine geborene Lügnerin ist, physiologisch unfähig, die Wahrheit zu sprechen außer in den Fällen, wo Wahrhaftigkeit unmittelbar praktisch oder unbedenklich ist: sie weiß einfach nicht, was echte Wahrhaftigkeit bedeutet; mit ihrem gelegentlichen Bekenntnis zur Wahrheit will sie sich stichwortartig davor sichern, ertappt zu werden. Die Dinge liegen hier genau so, wie im Fall der Erfahrung wohl aller vielerfahrenen Männer aller Zeiten, dass eine Frau, welche viel und gern von schlüpfrigen Dingen redet, wenig oder nichts dergleichen tut und umgekehrt.

Das ganze äußerlich sichtbare Gebaren naturnaher Frauen gehört in das Gebiet der Toilette, die gerade darum so abwechslungsreich als möglich sein muss, weil dank solchem Wechsel die in stetem Wandel begriffene Natur am leichtesten zum Ausleben gelangt. Darum lieben und heiraten vorurteilslose Frauen von polygamer Anlage nacheinander möglichst verschiedene Männertypen. Bei einem Philosophen, welches zeitweilig von einer erdnahen Frau leidenschaftlich geliebt wurde, konnte ich feststellen, dass sein unmittelbarer Vorgänger ein Meister-Ruderer gewesen war, sein Nachfolger ein geistreicher Geistverleugner und dessen Nachfolger wiederum ein völlig törichter jedoch sehr schöner Filmstar. Ich bin äußerst gespannt auf die Reaktionen, welche die Uniformierung der europäischen Weiblichkeit der Zeit, in welcher ich dieses schreibe, in der Folge zeitigen wird. Sie können umwälzend werden. Und ebenso gespannt bin ich auf die Reaktion auf die heute herrschende Nacktkultur. Selbstverständlich tragen die Frauen dieser Zeit ihre Haut auf ihre Weise nur darum völlig unbefangen zu Markt, weil sie diese letzte Hülle als gerade moderne Toilette empfinden; nicht anders sahen sie ja, soweit meine Erinnerung reicht, die Decolletage an. Weniges ergötzte mich mehr, als das kleine Schwimmbad-Erlebnis, wo ein vom Männer-Standpunkt so gut wie nacktes Mädchen vor Scham vergehen wollte und hysterische Weinkrämpfe bekam, weil die Kostüm-Andeutung, welche es trug, gerade an der völlig unverfänglichen Stelle nicht fest saß, wo die Mode des betreffenden Jahres dieses verlangte.

Selbstverständlich übertreibe und karikiere ich in dieser meiner Charakteristik der naturnahen Frau: dies sei allen denen ein für alle mal gesagt, die meine Schilderung ärgern sollte. Aber wesentlich trifft sie, glaube ich, hundertprozentig zu. Die modernisierten und vermännlichten Frauen dieser Zeit mit ihren proklamierten ganz andersartigen Anschauungen verkörpern keinen Gegenbeweis, weil es sich hier um mimicry, um instinktive Anpassung an ein der Frau gegenüber besonders verständnisloses Zeitalter handelt. Diese Fähigkeit zur mimicry geht bei der Frau ja so weit, dass sie üppig oder schlank, vollbrüstig oder brustlos ist, je nachdem in welcher Form sie am besten gefällt.

Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Ursprünglichkeit und Primitivität
© 1998- Schule des Rades
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