Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Instinkt und Intuition

Mensch als Verstandeswesen

Auch das vorhergehende Kapitel klang aus in Sehnsucht nach dem Ursprünglichen; nach Ursprünglichem im Unterschiede von den Konventionen des Zwischenreichs im allgemeinen und im besonderen den Künstlichkeiten, welche das Denken schafft. Man kann nun aus der bloßen Wortwahl in allen den Fällen, wo diese nicht in Nachahmung konventioneller Redensarten erfolgte, meistens schließen, wie es der Wählende wirklich meinte. Und dies zwar weniger darum, weil das Wort ursprünglicher und unmittelbarer Sinnesausdruck ist — die meisten verwenden Worte nicht aus tiefstem Wortgewissen heraus, ihnen sind sie übernommene Verkehrsmittel — als darum, weil, wie die Tiefenpsychologie mit aller auf diesem Gebiet erreichbaren Genauigkeit festgestellt hat, jeder Einfall aus der Wirklichkeit des Unbewussten heraus geboren wird als Ausdruck von dessen realen Strebungen. In unserem Fall nun leuchtet das, was mit dem Wort ursprünglich gemeint ist, ohne irgend eine Erklärung oder Bestimmung jedermann, welchen solche Probleme innerlich angehen, ohne weiteres ein, zumal wenn er es durch das Vergrößerungsglas des mythischen Bildes unserer religiösen Überlieferung betrachtet: dann springt in die Augen, dass der Mensch als Mensch letztlich nicht Schöpfer, sondern nur Geschöpf ist. Als Mensch lebt er nicht aus seinem eigenen Ursprung heraus, aus dem ist er gefallen. In der Tat, so lange er am Zwischenreiche seine letzte Instanz hat, solange er erfindet und denkt und nicht aus dem Jenseits dieser Betätigungen lebt, aus welchem sie stammen, handelt und leidet er nicht aus seinem Ursprünglichen heraus. Es fühlt indessen jeder, dass es dieses Ursprüngliche nicht nur gibt, sondern auch, dass er mit ihm bewussten Kontakt gewinnen kann. Ferner fühlt jeder, dass er diesen Kontakt gewinnen muss, so er sich selber ganz verwirklichen will. Darum strebt jeder Aufrichtige nach absoluter Wahrheit: ihm ahnt, dass deren Besitz ihn mit seinem Ursprung vereinigen würde; er hofft durch Ur-Wissen zum Ur-Sein zu gelangen.

Gibt es nun eine dem Bereich des Erkennens zugehörige Fähigkeit, die aus dem Ursprung stammt, aus diesem heraus schafft und damit tieferen Grund hat als Erfinden und Gedankenkonstruktion? Ja. Es ist die, welche jedermann meint, wenn er das Wort Intuition ausspricht. Ich sage meint, denn bisher kenne ich keinen dem Gemeinten wirklich gemäßen Begriff, und wahrscheinlich ist ein solcher garnicht aufzustellen, weil eben ein Begriff etwas, was jenseits der Sphäre möglicher Begriffe west, nicht mehr be-greifen kann. Von der intellektuellen Anschauung Plotins und Schellings, auch derjenigen der neueren französischen Philosophie kann, sofern deren Bestimmungen wörtlich genommen sein wollen, bewiesen werden, dass es sie nicht gibt. Eine intuitive Methode gar kann es jedenfalls nicht geben, weil alle Methodik der Denk-Ebene zugehört; eine intellektuelle Anschauung aber gibt es deshalb sicher nicht, weil die Schau gerade nicht intellektuell ist; eben darum ist es auch irreführend, auf diesem Gebiete just von übersinnlichen Erkenntnissen zu reden. Was die Tiefenpsychologie über das Sonderliche der Intuition unter anderen psychischen Fähigkeiten aussagt, ist zwar richtig beobachtet und gut beschrieben, es dringt jedoch nicht bis zur Wurzel des Problems vor. Zweifellos bedeutet Intuieren direktes Wahrnehmen von Unbewusstem durch das Unbewusste und bezieht es sich mehr noch auf das Mögliche als das Gegebene. Doch durch zur-Kenntnisnahme solcher Bestimmung wird man zunächst nicht weiser, denn sie zeigt nicht deutlich, inwiefern Intuition mit aller sonstigen Geist- und Seelenbetätigung unvergleichbar ist; vor allem lehrt sie nicht, wie man sich selbst auf seine intuitive Fähigkeit einstellen soll. Die Wurzel des Problems, mit deren Realisieren wahres Verständnis dessen, was Intuition bedeutet, steht und fällt, ist aber sehr wohl, wenn auch freilich nur formell, zu fassen: Intuieren heißt erstlich und letztlich von der eigenen Ganzheit her ohne Vermittelung Ganzheit wahrnehmen und das eigene Ursprüngliche mit fremdem Ursprünglichen polarisieren.

Damit ist Intuition einerseits eine ursprüngliche Fähigkeit der Synthese, andererseits eine ebenso ursprüngliche Fähigkeit des Durchschauens. Vom tierischen Instinkte her, welcher im genau gleichen Sinne wie die Intuition dem Denken ein Rätsel darbietet, gelingt es am leichtesten einzusehen, was unsere Bestimmung besagt, weil die Instinkthandlung, ohne es im geringsten zu sein, den Eindruck eines Mechanismus macht, was allein schon dem Denken einen Ansatz bietet, von dem aus es in rechter Richtung weiterkonstruieren kann. In jedem Organismus ist das Ganze vor den Teilen da, bestimmt das Ganze jede Einzel-Erscheinung und -Leistung. Bei der Instinkthandlung äußert sich eben dies auf der Ebene des sozusagen freien Verkehrs. Das Tier als Ganzes weiß unmittelbar, wenn es Gegeben- und Begebenheiten seiner normalen Umwelt gegenübergestellt wird, wie es sich zu ihnen zwecks Erreichung eines optimalen Ergebnisses verhalten soll. Dieses Wissen hat genau den gleichen Sinn, wie das Wissen des Körpers, welcher in ununterbrochener Tätigkeit fort und fort von seinem Ganzen her die zum Bestehen und Wachstum und Gedeihen dieses Ganzen erforderlichen Organe und Funktionen schafft, erhält, verändert, heilt, abstößt oder wiederherstellt. Schon im ersten Kapitel wiesen wir auf das Ergebnis jüngster Forschung hin, dass der Nestbau des Vogels nicht anders zu beurteilen ist, wie der Bau des Skeletts im Körper-Inneren. Bei allen echten Instinkthandlungen handelt es sich um Wesensgleiches. Für uns nun ist der folgende Aspekt dieses Sachverhaltes der entscheidend wichtige. Das Wirken des Instinkts setzt ein Hineinverwobensein des Organismus in den Gesamtkosmos voraus; als Instinktwesen steht der Organismus dem, was er (scheinbar) nicht ist, nicht einsam gegenüber: er ist ursprünglich Teil des Ganzen, in allseitiger Beziehung zu allen dessen Teilen, und darum weiß er selbstverständlich, wie jedes Element auf Grund seines spezifischen Agierens und Reagierens wüßte, wenn es Bewusstsein hätte, wohin er gehört und was er jeweils zu tun hat. Als Instinktwesen steht der Organismus damit oberhalb dessen, was beim Menschen das ihn monadisch ein- und abschließende Ich wäre.

Das Tier verzehrt nie giftige Pflanzen, kennt ursprünglich seine geborenen Feinde, rechnet richtig mit den Gezeiten, den Jahreszeiten, weiß das Wetter voraus, kennt sogar die seinen Lebensraum betreffende Geographie, vom nie verfehlten Wechsel im fremden Revier bis zu den Zugstraßen der Vögel über Kontinente und der Fische durch die Weltmeere hindurch. Hierbei aber handelt es sich, was zu betonen besonders wichtig ist, um nicht absolut Festgelegtes: ändert sich das Gesamtgleichgewicht der Welt, in welche ein Wesen ursprünglich hineinverwoben ist, dann ändert sich auch sein instinktives Verhalten. Das muss ja wohl auch möglich sein, wenn anders ein Organismus große Wandlungen seiner Umwelt überleben soll, was er freilich nur in verhältnismäßig seltenen Fällen tut, denn grundsätzlich liegen die Dinge beim Instinkte ähnlich wie beim Körper, der sich auch nur innerhalb bescheidener Grenzen einer Umwelt, für die er nicht geboren wurde, einzupassen vermag. Bei solcher Änderung nun handelt es sich um direkte Verwandlung, auch wo es so aussieht, als habe das Tier aus Erfahrung im menschlichen Sinn gelernt (obschon auch letzteres in dem Maße vorkommt, als es eben auch über Intelligenz verfügt). Die Wandlungen, die ich hier meine, sind solche, die in einem dem Einzelnen übergeordneten höheren Zusammenhang, welcher Leben und Umwelt und innerhalb jenes mehrere Arten zugleich einfasst, ihren Ursprung haben. Über welche real nachweisbaren Zusammenhänge das nächste Kapitel Näheres bringen wird. Hiermit wäre denn der Grundunterschied zwischen instinktiver und aus Nachdenken geborener Handlung bestimmt: der Instinkt geht von der Ganzheit aus als richtig eingestellter Bestandteil eben dieser Ganzheit.

Dem Menschen als Verstandeswesen ist diese selbstverständliche Eingefügtheit und damit seine Instinktsicherheit zum größten Teil verloren gegangen. Er muss auseinanderlegen und künstlich wieder zusammensetzen, er muss aus Erfahrung lernen, indem er sich über deren Bedeutung klar wird, um zu wissen. Sogar über das Geschlechtliche, das Allerwichtigste für den Fortbestand des Lebens, muss er aufgeklärt werden, um Bescheid zu wissen: nicht einmal, was ihm als Speise frommt, weiß er unmittelbar. Hier bestätigen die Ausnahmefälle die Regel. Ohne Künstlichkeiten im Sinne unseres ersten Kapitels kann sich der Mensch nicht behaupten; Naturmenschen im wörtlichen Verstande gibt es überhaupt nicht. Aber mit einer Fähigkeit, wenn sie entwickelt ist, gewinnt der Mensch den Zusammenhang mit dem Gesamtgeschehen auf höherer Stufe, der Stufe relativer Freiheit, wieder: das ist eben die Intuition. Nur dass diese sich bei einem in zivilisierter Umwelt aufgewachsenen Menschen — bei nicht entarteten Wilden scheint es oft noch anders zu sein — ausschließlich oder wenigstens hauptsächlich auf Psychisches und Geistiges bezieht. Mittels der Intuition, wo vorhanden, nimmt auch der Mensch Ganzheit unmittelbar wahr und wirkt er aus ihrem Geist; als Intuitiver handelt auch er aus einem höheren Zusammenhang, welcher sein Ich mit einschließt, heraus und damit nicht als einsamer Mensch, sondern als integrierender Bestandteil des kosmischen Werdens. Dieses offenbart sich am auffallendsten und überzeugendsten zugleich beim großen Strategen und Staatsmann, — am überzeugendsten, weil sich die Richtigkeit der Intuition in dessen Fall am unleugbaren praktischen Erfolge erweist und weil es sich um erdverhaftete Betätigungen handelt, die darum mit Instinkthandlungen besonders leicht zusammenzuschauen sind.

Die Machtkämpfe der Menschen und Tiere sind letztlich eines Sinns, die strategischen Punkte entsprechen beinahe genau den Wechseln des Wildes und werden aus ähnlicher Anlage gefunden und eingehalten und die Fähigkeit der Menschenbeurteilung, des Behandelns von Völkern und Heerscharen ist eine nur wenig andere als die des Tierzähmers und -dresseurs. Aber diese Fähigkeiten aus der menschlich-tierischen Grenzregion kann gleichwohl nur Intuition sinngemäß lenken; einen sogenannten politischen Instinkt gibt es nicht: der Instinkt steht und fällt mit einer Festgefahrenheit in ein bestimmtes Geleise, die ihre Träger als Führer und Herrscher sofort zum Scheitern brächte. Die Intuition des großen Strategen und Staatsmanns geht andererseits im selben Sinn auf Ganzheit und ist selber ein Agens dieser Ganzheit, wie dies auf anderer Daseinsebene vom Instinkt gilt. Der große Heerführer und Völkerlenker weiß unmittelbar, welche Züge auf dem Schachbrett der Geschichte jeweils von seiner besonderen Position aus möglich sind, genau zu welcher Stunde und wie weit sie führen dürfen. Als integrierender Bestandteil dem historischen Werden eingefügt, der Ganzheit des Geschichtsprozesses unmittelbar bewusst, weiß er ganz selbstverständlich, was von seinem Standpunkt jeweils nottut und möglich ist, welche Richtungen in die Zukunft hinausweisen, welche Menschentypen den Anforderungen der Stunde gewachsen sind und welche nicht.

Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Instinkt und Intuition
© 1998- Schule des Rades
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