Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Gleichgültigkeit und Liebe

Das organische Gleichgewicht

Wenn im Paradiese Löwe und Lamm friedlich nebeneinander schlummerten, so kann dies auch so gedeutet werden, dass sie einander vollkommen gleichgültig waren. Doch wie immer dem damals gewesen sei: ein sehr großer Teil alles Friedens auf Erden und alles dessen, was den naiven Menschen in der Natur als Harmonie beglückt, beruht ganz sicher auf Gleichgültigkeit als Ausdruck von Nicht-Interessiertsein und als Folge des letzteren von nicht-einmal Bemerken. Kaum ein Tier achtet auf etwas, was es im Sinn des Angezogenwerdens oder der geahnten Gefahr nicht unmittelbar angeht; nicht einmal das andere Geschlecht beachtet es außerhalb der Brunftzeiten. Tier-Eltern und -Kinder entfremden, sobald sie einander nicht mehr brauchen. Umgekehrt kommen die phantastischsten Symbiosen einander völlig fremder Kreaturen vor, wo sich deren Bedürfnisse ergänzen, können einmal vorhandene Zusammenhänge zwischen verschiedenen Wesen und Elementen, die überhaupt real aufeinander bezogen sind, auf allen Stufen des Daseins als ähnlich unauflösliche Ganzheiten erscheinen, wie dies vom aus Milliarden zusammenarbeitender Zellen zusammengesetzten Menschenkörper gilt. Tatsächlich sind die meisten Zusammenhänge viel enger und inniger, ähnlich dem eines Atomes oder Sonnensystems. Das Entscheidende bei allen solchen übersehbaren Zusammenhängen nun ist, dass sie geschlossen und ausschließlich sind. Dies ist so sehr der Fall, dass sich Leibniz’ Vorstellung einer Monade ohne Fenster weit besser zur Bestimmung niederer organischer sowie anorganischer Zusammenhänge verwenden lässt, als zu der des begeisteten Menschen, welcher proportional seiner Durchgeistung weltoffen ist. Soweit wir es sicher übersehen können, besteht jeder Zusammenhang in erster Instanz für sich und steht anderen gleichgültig gegenüber. Sieht man sehr genau hin, so trifft dies freilich niemals zu, denn irgendwie, noch so vermittelt und entfernt, ist alles und jedes im Weltall auf alles und jedes andere bezogen; aber diese sozusagen makrokosmische Bezogenheit stellt ein so schwaches Kraftfeld dar gegenüber dem jeweiligen mikrokosmischen Zusammenhang, dass es sinnvoller ist, von jener ganz abzusehen, als alles auf sie zu gründen. Ganz objektiv liegen die Dinge hier ähnlich wie beim Licht, welches sowohl in Form von stetigen und einheitlichen Wellen wie von monadischen Korpuskeln ausstrahlt, womit Wissenschaft bei einer Verstandes­antinomie als letzter Instanz stehen bleiben muss. Doch zum Verständnis des Verstehbaren gelangt man nie, wenn man beim wesentlich Unverstehbaren ansetzt. Zumal wenn die Problemstellung die ist, wie sie die Überschrift vorliegenden Kapitels gegen andere abgrenzt. Dass Einsichtsfähige je darauf kamen, die Schöpfung, so wie sie erfahrungsmäßig ist, auf Liebe zurückzuführen, ist wohl der schlüssigste Beweis dessen, wie sehr der Mensch geneigt ist, im Zwischenreich und nicht im Ursprünglichen seine letzte Instanz zu sehen. Da der gelehrte Jesuit Nicolaus Caussinus, damit im 17. Jahrhundert die markionitische Reformation fortsetzend, den Monoceros als passendes Symbol für den Gott des Alten Testaments erklärte, unter anderem, weil dieser Gott in zornmütiger Weise die Welt in Unordnung gebracht habe wie ein gereiztes Rhinoceros1, bewies er mehr Wirklichkeitssinn als irgendein Denker der Antike und der Christenheit, der demonstrierte, dass alles, so wie es ist, sehr vernünftig oder sehr gut sei oder völlig unverkennbar in der göttlichen Liebe seinen Ursprung habe.

Verweilen wir einen Augenblick bei den allerweitesten nachweisbaren Zusammenhängen. Zweifellos regieren allumfassende und zugleich alles einzelne betreffende Gesetze — und seien diese auch nur statistischer Art und gälten sie auch nur bis zu einem bestimmten kritischen Punkte — die gesamte uns leblos erscheinende Natur. Das Leben wiederum ist überall diesem Allumfassenden eingepasst, und auf seinem Gebiete ist im allerweitesten Verstande das Ganze vor den Teilen da. Wie sehr dies bei jedem Einzelwesen der Fall ist, beweist am eindrucksvollsten die Möglichkeit der Regeneration des Ganzen aus einem geringen abgeschnittenen Teil, welche bei vielen niederen Wesen Regel ist, insofern aber auch bei höchsten vorliegt, als auch bei diesen jedes Einzelorgan vom Ganzen her gelenkt und erforderlichenfalls geheilt wird. Über das Individuum hinaus beweist es die Fortpflanzung des Lebens mittels sich vermählender winziger Keime. Die Korrelation verschiedenster Organismen, deren Abgestimmtheit aufeinander beweist überdies das Dasein eines nicht nur überindividuellen, sondern überartlichen Zusammenhangs, welcher vom Einzelnen her überhaupt nicht zu verstehen ist. Dieser Zusammenhang weist seinerseits auf ein Größtes Ganzes als letzte Instanz hin — aber weil hier Korrelation, d. h. ein Wechselverhältnis vorliegt, kann dieses Größte Ganze andererseits auf jedes einzelne bezogen oder von ihm her bestimmt werden; eine bacillomorphe Weltanschauung wäre nicht widersinniger als eine anthropomorphe, welche wesentlich nicht widersinnig ist. Neuerdings haben sich nun Spezifizierungen dieser grundsätzlichen Einsichten ergeben, von denen ich einige um ihres besonders Eindrucksvollen willen gemäß dem Grundsatz pars pro toto auf Grund von Richard Wolterecks Zusammenfassung anführe. Das organische Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Lebewesen, welche so oder anders aufeinander angewiesen sind, ist so, dass die Verhältniszahlen im großen und ganzen immer die gleichen bleiben und sich im Falle einer Gleichgewichtsstörung immer wieder ausgleichen. Bei Menschen bewirken dies z. B. Seuchen und Kriege, und wo diese ihre naturgewollte Rolle nicht spielen, sind auf Grund aller bisherigen Erfahrung neue Regulative zu gewärtigen; hier könnte die biologische Bedeutung der rapiden Abnahme der Achtung vor dem Menschenleben liegen. Die Natur sieht niemals eindeutigen Sieg vor; der Vernichtungskrieg entspringt dem Geist der Welt der Künstlichkeit.

Im Falle einer heilenden Infektionskrankheit werden nie sämtliche Krankheitskeime zerstört, sondern nur so viele, dass der infizierte Organismus über die in ihm weiterlebende Gefahr die Oberhand behält (wahrscheinlich liegt hier der Schlüssel zum Problem der Immunisierung). Darum kann es nach langer Latenz immer wieder Rückfälle längst ausgeheilter Krankheiten geben. Die Vernichtung eines großen Teils der jeweils Lebenden wirkt biologisch nicht schädlich, sondern günstig; hieraus erklärt sich, wieso geregelter Abschuss dem Wildreichtum zugute kommt und warum es wenige Jahre nach dem ersten Weltkriege viel mehr Menschen gab als vorher. Je weniger zu essen ist und je drohender demzufolge die Gefahr des Hungertodes, desto größer die Fruchtbarkeit; wo eine Tierart eine Massennahrung für andere darstellt, richtet sich jene aber auch nach dem Appetite dieser. Es hat sich erwiesen, dass es immaterielle Konstanten gibt für den Zusammenhang des Lebens, die sich freilich dann allein als Potenzen äußern, wenn materielle Substrata dafür vorhanden sind, jedoch unverbrüchlich gelten; wenn also etwas geschieht, gleichviel aus welchem Grunde, dann erfolgt es in bestimmtem Verhältnis zu den übrigen Komponenten des Gesamtzusammenhangs. Damit allein schon erweist jedes Sonderleben sich von einem Großen Ganzen her bestimmt; es sind nur bestimmte Kombinationen möglich — falls überhaupt etwas geschieht. Endlich erfolgt der individuelle Tod als allgemeine Regel weder auf Grund der Autonomie des Lebens noch infolge äußerer Umstände allein, sondern als Interferenzprodukt verschiedener, voneinander scheinbar unabhängiger Kausalreihen. Genau wie während eines Krieges oder nach ihm, soweit Fortpflanzungsmöglichkeit besteht, mehr Kinder, insbesondere mehr Knaben geboren werden als sonst, so hat das jeweilige Lebensalter, in welchem der Tod typischerweise eintritt, das Aussterben bestimmter Typen und Familien, hat umgekehrt der Sieg neuer Völker und psychologischer Typen ihre tiefste Ursache allemal in sehr weiten Zusammenhängen. Überall gehen organisches Geschick, wie ich es im Kapitel Schicksal der Meditationen bestimmt habe, und Schicksal im geistig-menschlichen Sinne ineinander über, so dass man ohne Vorurteil in allen Hinsichten von einer kosmischen Bedingtheit des Menschen sprechen darf.

1 Vgl. N. Caussinus Polyhistor symbolicus, electorum symbolorum et parabolarum historicarum Stromata 1623 (zitiert nach C. G. Jung).
Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Gleichgültigkeit und Liebe
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