Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Der substantielle Geist

Verleugnung des Geistes

Steigen wir nun von diesem höchsten Aussichtspunkte, den wir zur Zeit erklimmen können, wieder auf die Ebene hinab, auf welcher sich unsere früheren Gedankengänge bewegten, dann können wir das zuletzt Gemeinte in der folgenden gemeinverständlichen Formulierung fassen: das Handeln kann dem Verstehen vorangehen, oder auch umgekehrt. Aber wer aus dem Geiste handelt, versteht derweil selten, was er tut; das Verständnis kommt nach —, aber es braucht bewusstermaßen überhaupt nicht zu kommen. Wer auf Verstehen aus ist, kann derweil überhaupt nicht sinnvoll handeln, denn Allverstehen schließt praktisch-einseitige Entscheidung aus. Wem es endlich auf Sein ankommt, der ist einfach; der ist weder auf Verstehen noch auf Handeln aus. Der substantielle Geist ist nun in erster Linie ein Sein. Als solches lebt er in seiner eigenen Welt mit deren besonderen Normen. Aus ihr heraus wirkt er in die Natur hinein, und zwar tut er dies ursprünglich völlig rücksichtslos gegenüber deren Eigen-Sein. Dieses zu verstehen, interessiert ihn ursprünglich garnicht. Erst reifen und späten Zeiten bedeutet Erkenntnis viel und der Sinn für exakte Erkenntnis gar ist, soweit nicht spurlos untergegangene Kulturen ihn nicht bereits ein Mal besaßen, erst im 16. Jahrhundert unserer Zeitrechnung geboren worden. Aus allen diesen Gründen ist dem Geiste, trotz aller Überlieferung, vom Spiegelnden der Erkenntnis her überhaupt nicht nahe zu kommen. Schon garnicht von dem als Spiegel verstandenen Bewusstsein her. Der Spiegel ist nicht das Gespiegelte und auch nicht der, welcher hineinblickt. Das Spiegelnde im psychischen Organismus ist auf seiner Ebene nichts anderes und nicht mehr als ein Organ, wie das gleichfalls spiegelnde Auge. Wäre der Geist nur das, oder vor allem das, dann gäbe es ihn im vorausgesetzten Sinne überhaupt nicht. Und alle Metaphysik und alle Religion könnte als Missverständnis über Bord geworfen werden.

Die großen Zeiten der Mythenbildung und der Gnosis im weitesten Verstand, diejenigen, in denen sich der Mensch seines Geistes bewusst wurde, bevor er die Natur auch nur bemerkt hatte, die Zeiten, wo der Verstand noch keinerlei künstliche Gerüste zwischen dem Menschen und seinem geistigen Ursprung aufgerichtet hatte, wussten dies alles wohl, d. h. sie lebten dieses Wissen, so wenig sie sich darüber klar waren. Gedenken wir an dieser Stelle kurz der Dominanten unter unseren geistigen Ahnen, der Hellenen. Diesen offenbarte sich ihr geistiger Ursprung in Gestalt von Göttern, die ihnen einerseits als Gestalten erschienen, andererseits durch diese hindurchwirkten. Keiner dieser Götter war erkenntnisdurstig; vielleicht waren sie dem Menschen an Wissen weit überlegen — obgleich nicht einmal dieses ganz gewiss ist, denn wieder und wieder gelang es, sie zu täuschen — aber sie interessierten sich nicht dafür, noch interessierten sich die Menschen darum für sie, weil sie mehr wussten. Aber die Götter waren, jeder in seiner Art, vollkommene Persönlichkeiten. Ihre Gestalthaftigkeit war, in Karl Kerényis Worten, ihr Eigentliches und das Bild als solches war das Wesen, welche Auffassung sich später zu Platos Ideenlehre sublimierte. An die Stelle der Gestalthaftigkeit, welche als solche nach Art des chinesischen Wu Wei wirkte, trat im hellenistischen Zeitalter die Vorstellung der wirkenden Kraft schlechthin. Doch blieb diese, solange das heidnische Hellenentum währte, an eine bedeutende und charakteristische Persönlichkeit gebunden. Das heißt: Geist war und blieb ihm streng personal, und dieses persönliche Sein galt zugleich als die wirkende Macht. Da es sich nun aber um göttliches und nicht um menschliches Sein handelte, so musste geistbezogene Betätigung des Menschen anderer Art sein, als die auf irdische Zielsetzungen gerichtete. Sie war wesentlich Kultus. Sie war Ritus. Von der Erdschwere aus beurteilt, war sie Spiel. Und wie dann die Zeit kam — dies geschah im antiken Kulturkreis am ausgesprochensten bei den praktischen Römern, denen die Götter bald zu numina verblassten — wo sich der Mensch mit dem Geist in sich zu identifizieren begann, da führte diese Vergeistigung des Menschen doch zu keinerlei Erkenntnissteigerung und auch zu keiner Höherbewertung des Wissens: das Leben selber wurde sakral. Die Handlungen des täglichen Lebens waren rite auszuführen. Der römischen pietas, so tief sie als sonderliche Religionsform war, kam es einzig auf die richtig (rite) auszuführenden Kulthandlungen und überhaupt nicht auf theologische Vorstellungen an. Wesentlich Ritus war ihnen bei ihrer sakralen Lebensauffassung auch politische und kriegerische Betätigung. Ja sogar juridische. Die Römer sind das eine bahnbrechende Rechtsvolk der bisherigen Geschichte gewesen, weil Recht ihnen und ihnen allein bisher ursprünglich nicht Fixierung von Machtansprüchen, sondern Formung des Rohmaterials menschlichen Gemeinschaftslebens vom Geiste her bedeutete. Eben darum erwies sich das Festhalten an ein für allemal geprägter Form bei ihnen nicht als lebensfeindlicher Formalismus, sondern als Weg der Sinnesverwirklichung. Aber noch einmal: die Römer dachten sich kaum etwas bei dieser Begeisterung der Natur. Beim Rechte dachten sie nicht an Gerechtigkeit in unserem Verstand, Gut und Böse waren ihnen keine entscheidenden Begriffe. Bei ihrem sakral verstandenen Tun dachten sie nicht mehr nach, wie der große Bildhauer bei seinem Meißeln. In der Tat: von den Künsten der Bildhauerei, Malerei, Architektur und besonders der Musik her lässt sich besser erweisen, was Geist dem Menschen ursprünglich bedeutet, als von der Philosophie und gar der Wissenschaft her. Sie alle betreiben Sinnesverwirklichung. Doch im Rahmen der Normen rationalen Verstehens ist dieser Sinn nicht oder kaum zu fassen.

Ist nun deutlich, wie falsch das Abendland, seitdem es auf Erkenntnis aus ist, seine Fragen nach dem Geist gestellt hat? Es hat den Geist nicht erst im 19. Jahrhundert n. Chr., sondern schon von Griechentagen an, nur damals undeutlicher, weil die Hellenen auch als Philosophen zum Teil noch Mythenbildner blieben — siehe Plato! — mit dem Verstande identifiziert, einem erdgeborenen, erdverhafteten und auf die Erde ausgerichteten Lebensmittel. Kein Wunder daher, dass der Abendländer, seitdem er den religiösen Bindungen zu entwachsen begann, von Jahrhundert zu Jahrhundert, zuletzt von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer mehr den Kontakt mit dem substantiellen Geist verlor, dass er immer mehr, wo er auch ansetzte und wohin er auch zielte, zum Materialisten wurde. Diesem Schicksal gegenüber bedeutete die auf den verschiedensten Stufen immer wieder versuchte Restauration verjährter Spiritualität wenig, denn die Voraussetzungen, dank denen deren überlieferte Formen echtes Geistbewusstsein weckten oder lebendig erhielten, lebten im Organismus der anders gewordenen Seelen nicht mehr als Dominanten fort. So konnte Rückbekehrung zu irgendeiner Kirche immer mehr nur zu einer Materialisierung dieser führen. Der Wortglauben vieler Gläubigen der heutigen Bekenntniskirchen ist nichts Besseres als Fetischismus, der Sakrament-Glaube sehr vieler heutiger Katholiken nichts besseres als Aberglaube an der Schamanenstufe zugehörige Zauberei. Diejenigen, welche ich hier meine, verstehen das Wesentliche garnicht: nämlich dass die sakrale Handlung, an konsekrierten Gegenständen vollführt, durch die Beziehung des Glaubens des Gläubigen zum Glauben des Priesters ein spirituelles Band schafft, dank welchem auf der Ebene des Geists real geschehen kann, was in einer äußeren Hantierung ohne solchen Glauben überhaupt nicht enthalten ist. Seien wir uns hier ganz klar — ob seiner Wichtigkeit wiederhole ich in anderen Worten noch einmal mit Nachdruck schon Gesagtes. Ist Geist wirklich nichts anderes und nicht mehr als das, als was der Intellektualisierte ihn begreift, dann ist er unzweifelhaft nur ein Organ des Lebens; dann ist er, frei nach der Scholastik bestimmt, Attribut und nicht Substanz. Die Frage nach der ursprünglichen Wirklichkeit des Geistes aber steht und fällt damit, ob es substantiellen und konkreten Geist gibt. Gibt es ihn nicht, dann sind Metaphysik und Religion, wie sie von jeher verstanden wurden, gegenstandslos. Eine Geistreligion ohne Gott, ja ohne anerkanntes Selbst ist möglich, wie der Buddhismus beweist. Echte Metaphysiker sind noch unabhängiger von allen überlieferten Vorstellungen. Sie können, ohne sich selbst zu verleugnen, an Stelle des Höchsten Guts das Nichts setzen. Besonders lehrreich in diesem Sinn ist die folgende Erklärung des Gnostikers Basileides:

Es gab einmal eine Zeit, da war nichts da; doch auch das Nichts war nichts, was existierte, sondern, um es nackt und ohne Hintersinn, ohne jedes Sophisma zu sagen: es war überhaupt garnichts da. Wenn ich aber das Wort Es war ausspreche, so meine ich nicht: Es war da, sondern ich rede so, um das auszudrücken, was ich klarmachen will, nämlich dass überhaupt rein garnichts da war. Es ist nämlich jenes nicht einfach unaussprechlich, was so genannt wird; wir nennen es nur unaussprechlich, es ist aber garnicht unaussprechlich; was aber garnicht unaussprechlich ist, darf auch nicht einmal unaussprechlich genannt werden, sondern es ist erhaben über jede Benennung mit einem Namen.

Man denke ferner an Liä Dsi, der da im Wahren Buch vom quellenden Urgrund schrieb:

Was durch Zeugen erzeugt wird, ist der Tod; aber das, wodurch das Zeugen zum Zeugen wird, ist noch nie zum Ende gekommen. Was durch das Gestalten gestaltet wird, ist die Masse; aber das, wodurch das Gestalten zum Gestalten wird, ist noch nie ins Dasein getreten. Das alles seien die Wirkungen des Nichtseienden und Liä Dsi zitiert weiter: Im Buch des Herrn der gelben Erde steht: wirkt die Form, so entsteht nicht Form, sondern Schatten; wirkt der Ton, so entsteht nicht Ton, sondern Echo; wirkt das Nichtsein, so entsteht nicht Nichtsein, sondern Sein.

Der Metaphysiker mag auch ablehnen, wie dies der Zen-Buddhismus tut, die letzte Wirklichkeit anders als mit dem Worte Dassheit (suchness) zu bezeichnen. Das Großartige und gerade heute wie nie früher im gleichen Maße Zukunftsträchtige des Zen liegt gerade darin, dass dieser schlechthin jede innere Festlegung theoretisch vermeidet und praktisch jeder durch die Übungen, welche er vorschreibt, soweit als menschenmöglich, vorbeugt. Damit erzieht er seine Jünger dazu, ohne jegliches Vorurteil und unabhängig von allen Zwischenreichs­gestaltungen, von solchen der Künstlichkeit zu schweigen, mit ihrem realen Urgrund Fühlung zu gewinnen. Und da dieser zunächst völlig unbekannt ist, so kann er gegenständlicher als mit dem Wort Dassheit kaum bezeichnet werden. Alle überlieferten materialisierten Vorstellungen sind Zwischenreichs­gestaltungen und können darum, ohne dass die ursprüngliche Wirklichkeit damit in Frage gestellt würde, durch andere oder auch garnicht ersetzt werden. Aber die Wirklichkeit des Geistes oder geistige Wirklichkeit überhaupt kann keine Metaphysik noch Religion leugnen, ohne sich selber aufzuheben. Solche Selbstaufhebung ist aber möglich, genau wie Selbstwiderspruch oder Selbstmord; so unermeßlich groß ist des Menschen Freiheit. Und jede Behauptung bestimmten Sinnes oder auch Widersinns führt auf Grund des Korrelationsgesetz es von Sinn und Ausdruck zu entsprechender Gestaltung. Heute nun besteht, wahrscheinlich zum ersten Mal in der Menschengeschichte, tatsächlich die Gefahr, dass der Geist geleugnet werde und nur der Verstand als wirklich anerkannt bliebe; damit aber würde wirklich in der Erscheinung, was wesentlich noch so unwahr ist. Die bolschewistische Gottlosenbewegung ist eine Realität, und was deren Un-Geist aus dem vormals so tief zugleich Gott- wie Erd-verbundenen Russen gemacht hat, liegt jedermann vor Augen. Ebenso sind erschreckend viele Völker des Ostens in Gefahr, sich von allen Lebensformen, welche den Geist im Zwischenreich festhalten, zugunsten des rein irdischen Ideals höchstmöglichen Wohllebens loszusagen. Nicht umsonst war schon lange Amerika sehr vielen westlich gebildeten Chinesen das kritiklos bewunderte Vorbild, nicht umsonst neigen viele Führer der indischen Freiheitsbewegung zu Sowjet-Russland. Stellt man nämlich alle Fragen vom Verstande her, dann kann lediglich Materialismus in irgendeiner Form eine angemessene Antwort geben.

Unter diesen Umständen liegt Verleugnung des Geistes auf Erden in nie dagewesenem Umfang wirklich im Bereich der Möglichkeit. Welche Folgen sie zeitigen würde, lässt sich bereits an dem ermessen, was bis zum zweiten Weltkriege und während dessen geschah. Darum tut dringend not, den Geist neu zu fundieren und dies zwar zeitgeistgemäß. Auf tote Glaubensformen darf man sich dabei nicht stützen. Es muss davon ausgegangen werden, dass die Ära, welche an Abstraktionen glaubte und sich von diesen bestimmen ließ, nunmehr kompensatorisch dazu von einer solchen extremen Konkretismus abgelöst wird. Nur das konkret Gegebene leuchtet als wirklich ein. Also gilt es, um den Geist zu retten oder zu restaurieren, dessen Souveränität, Substantialität und konkreten Charakter nachzuweisen.

Eben dieses haben wir in vorliegendem Kapitel unternommen, indem wir an das Problem des Geistes von einer im Westen völlig ungewohnten Fragestellung her herantraten. Schreiten wir nun auf der gleichen Bahn exakter Bestimmung weiter fort. Doch da wir gerade bei der Entchristlichung dieses Zeitalters hielten, so dürfte es dem konkreten Verständnis zu Gute kommen, wenn wir, ehe wir uns neuen abstrakten Überlegungen zuwenden, zunächst einmal auf die Wendezeit zurückblicken, da Europa christlich wurde. Der spätantiken Intellektualität eigneten im großen Ganzen die gleichen Fehler wie der modernen. Auch ihr war der Verstand oberste Instanz, auch sie sah alles von außen her; nur Augenscheinliches und Handgreifliches ließ sie als Wirklichkeit gelten, nichts Innerliches war ihr mehr gewiss, kein Überliefertes heilig. Zumal in Rom, einst dem Horte der pietas wurden Götter nur mehr nach ihrem möglichen Nutzen beurteilt; es wurden schließlich alle, deren man habhaft werden konnte und die sich irgendwo als mächtig erwiesen hatten, importiert, so wie heute Kolonialwaren eingeführt oder Kaffee- und Gummibäume in neuen Erdteilen angepflanzt werden; die spätantike Toleranz war Ausdruck nicht der geistigen Überlegenheit, sondern der vollendeten Gleichgültigkeit. So fanden hohe Geister in der Unerschütterlichkeit der Stoa ein letztes geistiges Asyl, so waren die Massen so kraß materialistisch, wie dies eben in einer noch wenig technisierten und doch noch vielfach magisch bestimmten Welt möglich war. Das Urbild des Geistigen war jener Zeit der Sophist, der an nichts glaubte aber alles zu beweisen unternahm. Geist überhaupt wurde schließlich weniger ernstgenommen und erhob zuletzt noch weniger Anspruch auf Ernstgenommenwerden, als je der französische esprit; vielen unter den Bedeutendsten galt er damals als bloßes Irrlicht oder als Schwindler. Da traten die Christen als Zeugen für die Wahrheit auf, als Märtyrer. Sie glaubten allem Augenschein und aller Verstandesüberlegung zum Trotz an eine Lehre, die dem Wohlleben in dieser Welt direkt widersprechende Normen aufstellte; für ein Jenseits gaben sie freudig alles Diesseits preis, zum Besten des Geistes verzichteten sie auf alle natürlichen Bande. Dieses Beispiel machte von Jahrzehnt zu Jahrzehnt stärkeren Eindruck. So sehr, dass sich das römische Reich selber zuletzt zum Christenglauben bekehrte, weil es sich, um sich überhaupt zu halten, zu ihm bekehren musste. Was war es nun, was solchen Eindruck machte und dermaßen werbend wirkte? Es war das lebendige Beispiel substantiellen und konkreten Geists. Der schon lange für unwirklich gehaltene Geist leuchtete in dieser neuen, von allem Hergebrachten gänzlich verschiedenen Form erneut als Wirklichkeit ein. Als Substanz, als konkrete Wirklichkeit. Und damit hub ein neues Zeitalter der Geistbestimmtheit an, das in dieser Grundform beinahe zweitausend Jahre gedauert hat.

Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Der substantielle Geist
© 1998- Schule des Rades
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