Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Der substantielle Geist

Selbstüberwindung

Doch bleiben wir noch einen Augenblick bei der antiken Spiritualität. Bei dieser lag auf dem Erkennen überhaupt kein Nachdruck; die Erkenntnis fing dann erst in der Antike eine Rolle zu spielen an, als ihre spezifische Spiritualität sich zu zersetzen begann. Jede bestimmte Spiritualität legt auf bestimmte Geistesfunktionen den Hauptnachdruck. So die christliche, wie wir im vorigen Kapitel sahen, auf die Liebe, und wie wir später sehen werden, auf die Empfänglichkeit. Was erstere betrifft, so können wir nunmehr auf Grund des früher Ausgeführten über den rein geistigen Charakter dieser bestimmten Liebe vollkommene Klarheit gewinnen. Die Antike kannte diese nämlich überhaupt nicht. Liebe bedeutete ihr einerseits sinnliche oder natürliche im Verstand der elementaren emotionalen Ordnung, oder aber Polarisierung mit Höherstehendem zum Zweck der Teilhabe an der Idee; das war der Sinn der platonischen Liebe. Die Frage eines wertbetonten Ich-Du-Verhältnisses bei anerkannter Einmaligkeit und Einzigkeit jedes Partners stellte die Antike garnicht, und darum setzte Liebe für sie von sich aus keine Gemeinschaft. Vollends fehlte der Antike jedes Verständnis einer Liebe für das, was unter einem steht, für den Kranken, den Sünder, den Mühseligen und Beladenen; Vergebung, Gnade kannte sie nicht. Nun wissen wir längst, wie geistgemäß die christlich verstandene Liebe ist: aber sie ist in unserem Kulturkreis erstmalig durch das Christentum der Welt des Natürlichen eingebildet worden. Sie ist ein reines Geistesprodukt. Sie ist kein erfundenes Zwischenreichsgeschöpf. Wie die Erfahrung von zwei Jahrtausenden beweist, stellt sie eine rein geistige Brücke dar von der Natur zur metaphysischen Wirklichkeit, welche Brücke nicht konstruiert, sondern entdeckt wurde. Diesen tiefsten Sinn der Liebe meint auch die Upanishad, wenn sie lehrt:

nicht um des Gatten willen ist der Gatte lieb,
um des Selbstes willen ist der Gatte lieb.

Ihn meint die gleichfalls indische Lehre, dass man um des Selbstes, nicht um des Bedürftigen willen wohltätig sein soll. Daher die Möglichkeit, Liebe, Erkennen und Werk als gleichwertige Wege zu Gott hinzustellen, welche ursprünglich nur-indische Lehre das durch hellenischen Einfluss vertiefte und auf hellenische Wurzeln bezogene Christentum in der Abwandlung vertrat, dass Liebe, Weisheit und Schönheit letztlich eins seien. Doch, wie gesagt, die antike Spiritualität wusste von der Liebe nichts. Ihr war der Geist wesentlich Formgebung. Ihr war er in erster Linie künstlerischer Geist. Damit bedeutete ihr die Schönheit mehr als irgendeiner Kultur vor- und nachher. Sie bedeutete ihr ein rein Geistiges, den Primärausdruck des Geistes. Der Geist vollendete sich für die Antike in der vollkommenen Verkörpertheit, so wie die Intention des Künstlers im vollkommenen Ausdruck, und damit war die irdisch geschlossene Form zum Sinnbild des höchsten Geistes geworden. Auch beim griechischen Ideal der Kalokagathie lag aller Nachdruck auf der Schönheit, denn die griechische Auffassung vom Guten war nie eindeutig1. Von hier aus begreifen wir endgültig den tiefen und zwar wahren Sinn des antiken Schönheitskults bis zu dessen Übersteigerung zum Kult des göttlichen Kaisers.

Aber die antike Spiritualität hatte noch eine zweite Hauptkomponente, und diese erklärt, wieso das Urbild antiker Religiosität der Heroenkult sein konnte. Der Heros erwies sich als Verkörperung metaphysischen Geistes mehr noch als durch seine Gestalthaftigkeit durch den ihn beseelenden absoluten Mut, welcher sogar den Kampf mit dem den Göttern übergeordneten Schicksal aufnahm; sein Tragisches war insofern mehr Folge als primärer Ausdruck. Mut ist die innere Kraft, welche die natürliche Angst besiegt. Er überwindet alles natürliche Gefühl, er ist der Ur-Ausdruck und zugleich die ewige Voraussetzung und das Mittel der Selbstüberwindung. Mut überwindet zumal selbstverständlich alle der Ur-Angst heimlich dienstbare Verstandeskonstruktion. Denn der Mut lebt nicht in und von der Sicherheit oder mit ihr als Ziel, er lebt ganz und gar vom Risiko, vom schlechthin Ungewissen. Von sich aus setzt er dieses zusammen mit seinem eigenen Einsatz, nimmt er in erster Linie nicht das Gelingen sondern den wahrscheinlichen Untergang vorweg und auf sich, und die Frage des Erfolges und des Nutzens stellt er überhaupt nicht. Er ist der Urausdruck der Desinteressiertheit, des Selbstvergessens, der Selbstverleugnung, der Bereitschaft zum Opfer alles Gegebenen. Das allein beweist, dass im Mut und durch ihn hindurch eine unbestreitbar geistige Kraft wirkt, ja die unbestreitbarste aller Geisteskräfte überhaupt, denn sie äußert sich von vornherein und durchaus im Gegensatz zur Neigung der Natur. Sie vertritt ganz und gar und unbedingt ihr eigenes Reich. Darum ist der Mut auch der früheste und frühestverstandene Ausdruck des Geistes, der schon im ersten Menschen zur Dominante werden konnte; der animus-Begriff der unphilosophischen Römer war insofern ein Tieferes als alle intellektualistische Geist-Bestimmung. Darum ist der Mut es, welcher das Reich des Geistes auf Erden immerdar behauptet, ist Mut das eine, was völlig spontan bei jedermann Ehrerbietung weckt.

Um mir und meinen Lesern lange theoretische Erörterungen über diesen am wenigsten als Geist verstandenen Urausdruck desselben zu ersparen, weise ich hier am besten, etwas ausführlicher beschreibend, auf das reinste Mutvolk hin, von welchem ich in der Geschichte weiß: auf das japanische. Schlechthin alles an den japanischen Siegen im zweiten Weltkrieg sowie in früheren Kriegen — kein Volk auf Erden wurde je so selten geschlagen — erklärt sich daraus, dass dieses Volk wie kein zweites auf die Bereitschaft zum Heldentode hin gezüchtet und erzogen worden ist. Hier handelt es sich um ein ganz anderes als jenen indianischen Fatalismus, der im mexikanischen viva la muerte! seinen eigentlichsten Ausdruck findet, um ein anderes als den islamischen, der in einem positiven Jenseitsglauben seinen Grund hat, auch um ganz anderes als das urgermanische ja-Sagen zum unerbittlichen und unverständlichen Schicksal, welche Bereitschaft so weit gehen kann, dass gerade der sinnlose Tod gesucht wird. Die japanische Bereitschaft zum Sterben ist gerade im tiefst-Metaphysischen verwurzelt. Bei aller japanischen Erziehung zum Krieger geht die Ausbildung des Geistes aller Technik weit voran, und zwar nicht des militärischen Geistes, sondern des metaphysischen. Die ganze japanische Kriegerkultur hat ihren Ursprung im Zen, dieser sonderlichen Abart des Buddhismus, welche die ursprüngliche Nirvana-Lehre sozusagen mit dem Landsknechtsmotto

Ich hab’ mein’ Sach’ auf Nichts gestellt

verknüpft. Der Zen meint den christlichen Satz, dass man sein Leben verlieren muss, um es zu gewinnen, viel ernster, als es je das Christentum tat. Er lehrt grundsätzlichen Verzicht auf alle Sicherung körperlicher sowohl als seelischer und geistiger Art. Beim Schwertkampf muss der Zen-Jünger ausschließlich an das Kämpfen an sich und überhaupt nicht an seine Verteidigung denken. Er muss den Krieg als reinen Opfergang auffassen, welcher damit, was immer er politisch bezwecke, zu einem heiligen Kriege wird; Sieg wird darum nie als Erfolg erlebt, schon garnicht als Belohnung, sondern als Auswirkung sakralen Opfergeistes. Wer auf dem Wege des Zen nach Selbstüberwindung strebt, hat, obschon der Zen grundsätzlich alles Leben in allen seinen Formen bejaht, härter gegen sich zu sein als ein Spartaner. Die Zen-Meditation aber lehrt, schlechthin alle intellektualistischen und moralistischen Überbauten zu durchstoßen und sich dem hinzugeben, was jenseits dieser west; darum sind die Meditationsaufgaben der Zen-Schüler vom intellektuellen Standpunkt samt und sonders unsinnig; genau so unsinnig, wie vom Standpunkt des klugen Feiglings der Einsatz des eigenen Lebens ist. Das Jenseits der Überbauten aus dem Zwischenreich wird aber überhaupt nicht qualifiziert, es wird genau so als Preisgabe des Empirischen nicht nur hingenommen, sondern gefordert, wie der Tod. Keine Gottvorstellung, keine bestimmte Metaphysik dient dem Wahrheitsucher auf dem Wege des Zen zur Sicherung oder Verankerung, keine Hoffnung auf Gnade erleuchtet die Bitternis des Aufgebens alles dessen, was einem auf Erden lieb ist. Aber eben durch diesen Mut zur schlechthinnigen Hingabe alles Empirischen und zur Aufgabe desselben gewinnt der Zen-Aspirant Vereinigung mit dem metaphysisch-Wirklichen, wovon er sich aber weder ein Bildnis noch ein Gleichnis macht2. Durch diese grandiose Kultur der Selbst-Preisgabe und des Opfers gewinnt nun der Japaner häufiger als irgendein anderer Mensch dieser Zeit reale Vereinigung mit dem übernatürlichen Geist.

Er als erster hat ihm die Maschine unterworfen, und so erwuchs in Japan aus dem Geist des Yoga, der auf dem Wege der Wahrheitssuche nach Selbstverwirklichung strebt, im 20. Jahrhundert sogar eine Kultur des heiligen Sports. Was immer der Japaner von je her an eigengewachsener Körperübung trieb, alles war ihm ein Weg zum Ziel: Kendo, das japanische Schwertfechten, war ihm der Schwertweg, Judo, das japanische Ringen, der Weiche Weg, weich, weil er durch Nachgeben zum Siege führt, Kyudo, das japanische Bogenschießen, — alles war ihm in erster Linie ein Weg der Selbstzucht (Do bedeutet sittlicher Weg, und wir finden es sowohl im Bushido, dem Weg der Krieger, wie im Sado, dem Teepfad, der feierlichen Zeremonie beim Teetrinken zur Erlangung des seelischen Gleichgewichtes wieder). Die japanische Körperkultur war seit Urzeiten und ist noch heute rein kultisch. Bei den großen öffentlichen Ringkämpfen gab und gibt der Schiedsrichter dann erst das Zeichen zum Beginn, wenn beide Gegner den gleichen Atemrhythmus erlangt haben und damit ihre seelischen Gleichgewichtslagen übereinstimmen. Das Schwert gar spielt in Japan eine durchaus magische Rolle. Sein Schmieden ist Ausübung einer schwer, und nur von Berufenen zu erlernenden Geheimwissenschaft. Das Recht zu seiner Führung aber bedingt für den Japaner Pflicht zu sittlicher Haltung. Der Schwertweg gilt als Erziehung zur menschlichen Ganzheit. Das japanische Fechten ist auf die katzenartige Gesamtausbildung des Körpers gerichtet und in eine die japanische Gesamterziehung beseelende Schulung des Konzentrationsvermögens eingefügt. Die Fechtstunde wird mit Atemübungen eingeleitet, durch gewaltiges Ein- und Ausatmen; dabei wird mit freispielendem Brustkorb in wilder markerschütternder Weise geschrieen. Im Gegensatz dazu ist es beim Judo still wie in der Kirche. Die gegnerische Widerstandskraft wird im Nachgeben zu brechen gesucht, in völliger Beherrschtheit, Zurückhaltung, ohne jedes Zeichen innerer Erregung, jäh unterbrochen durch blitzschnell einsetzende Entschlusskraft. Ebenso still geht es beim Bogenschießen zu. Es ist kein Wettschießen, sondern ein sich Üben in der Selbstzucht und in der Weihe ritueller Handlung; jede Bewegung ist genau vorgeschrieben und muss in der gleichen Reihenfolge und mit der gleichen Ruhe ausgeführt werden. Das Treffen des Ziels wird dabei gewissermaßen als selbstverständlich vorausgesetzt. Bogenschießen ist für den Japaner eine Auseinandersetzung mit sich selbst; er lernt dabei, unbewegte Mitte zu sein.

Wir müssen, lehrt ein moderner japanischer Meister, die Herrschaft des Ich über den ganzen Körper herstellen. Wir müssen diesen benutzen wie unsere Kleider, um unsere edlen Ziele zu erreichen. Befehlen wir dem Körper, dass er unter einer kalten Dusche bei rauhem Wetter nicht erschauert, durch schlaflose Nächte nicht nervös wird, dass keine Nahrung ihn krank macht, dass er unter dem Messer des Chirurgen nicht stöhnt, nicht erliegt, wenn er einen ganzen Tag in der Hochsommersonne stehen muss und sich im Getümmel des Schlachtfeldes nie erregt.

Schon aus dieser Betrachtung der Körperkultur ist ersichtlich, dass der japanische Krieger das genaue Gegenteil eines Raubtieres ist, welches blindem Drange nachgebend Leben vernichtet. Er strebt auf seine besondere Art nach reiner Geistigkeit im Sinn schlechthiniger Naturüberlegenheit. Das besonders Grausame des Harakiri, welches streng rituell als sakrale Handlung ausgeführt werden muss, hat gleichfalls seinen Seinsgrund hier. Dem Japaner ist der Mut der Urausdruck des rein Geistigen und damit Übernatürlichen. Und das ist er in der Tat.

1 Sehr charakteristischer Weise reden noch die Neu-Griechen von kalós, wo sie von einem Menschen Positives meinen und gebrauchen das Wort agathós meines Wissens nur im Zusammenhang mit Tydie, was ein Mittelding zwischen Schicksal, Zufall und Glück bedeutet. Der Zuruf agathetyche, tycheagathe! entspricht ungefähr dem französischen bonnechance! Wenn Plato als höchste Idee diejenige des Guten hinstellte, so meinte er damit Ähnliches, wie Kant mit einem Grenzbegriff: er suchte es nie weiter zu definieren. Das praktisch Gute unterschied sich für ihn, den Griechen, wenig vom Vernünftigen und Nützlichen, es fehlte in ihm jedes Element von Liebe und schenkender Tugend; gleichsinnig bedeutete Freundschaft den Hellenen den Kult der zu Geistigem veredelten Interessengemeinschaft.
2 Nähere Ausführungen über andere wichtige Aspekte des Zen findet der Leser in meinen Betrachtungen der Stille S. 91 ff.
Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Der substantielle Geist
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME