Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Die Welt der Künstlichkeit

Marionettentheater

Verfolgen wir den begonnenen Gedankengang nun weiter. Verkünstlichung bedeutet immer zugleich Mechanisierung. Diese aber bedingt, dass immer mehr von dem, was anfangs geistige Initiative erforderte, automatisch verläuft, und nicht nur in den herausgestellten Schöpfungen des Menschen, sondern in diesem selbst. Alles Eingeübtsein, aber auch alle Anlage gleich der des Schnellrechners bedeutet ein Automatischgewordensein von Prozessen, deren Ablauf sonst der Lenkung durch Wille und Verstand bedarf. Oft verglich ich — und nicht ich allein den Zustand, welcher derjenige technisierter Menschen werden kann, falls sie sich in falscher Richtung festfahren, mit demjenigen der Termiten: diese leisten völlig unbewusst als beinahe reine Automaten einen großen Teil von dem, was der heutigen menschlichen Technik Wunschbild ist. Sollte es da am Ende richtig sein, was ein moderner Denker — sein Name ist mir entfallen — über dieses Thema vortrug, nämlich dass aller Automatismus im Leben das Geronnensein ursprünglich freier Impulse bedeutet? Dementsprechend die Termiten ursprünglich intelligente und freie Wesen gewesen wären wie wir und schließlich in einem Automatenzustand erstarrten? Sollte gar der Automat ein Höheres als der freibestimmende Mensch, sollte Gebundenheit das Ziel der Freiheit sein und dies zwar auf allen Gebieten, nicht nur auf denen des religiösen Lebens, wie es Dostojewskys Großinquisitor meinte und wie dies tatsächlich die Auffassung der meisten Dogmen- und Kirchengläubigen ist?

Diese Auffassung klingt ungeheuerlich. Nichtsdestoweniger ist sie nicht bloß von engen Dogmatikern und Fronvögten, sondern von hohen Geistern mehrfach als Möglichkeit erwogen worden. Einer von diesen war Heinrich von Kleist, und das Symptomatische ist: ich kenne weniges, was intelligente junge Leute mehr beeindruckt, als dessen Marionettentheater, welche Erzählung in dichterischer Form eben diese Möglichkeit erwägt. Ich möchte hier nicht näher auf sie eingehen, diese wenigen Seiten des großen Dichters lese jeder selbst, denn sie gehören zu den Meisterwerken deutscher Prosa. Auf Grund alles Vorhergehenden darf ich mich damit begnügen, eine einzige Satzfolge des Helden zu zitieren und an ihr anzuknüpfen:

…Er versetzte, dass es dem Menschen schlechthin unmöglich wäre, den Gliedermann in der Anmut auch nur zu erreichen. Nur ein Gott könne sich auf diesem Gebiete mit der Materie messen; und hier sei der Punkt, wo die beiden Enden der ringförmigen Welt ineinandergriffen.

Der quintessenzielle Sinn dessen ist der folgende: das Künstliche ist dem Lebendigen überlegen, erst das überlebendige mag dieses übertreffen … Den gleichen Gedanken hat Villiers de L’Isle-Adam, einer der genialst geborenen Dichter des 19. Jahrhunderts, der aber leider seine Vollendung nicht erreichte — seine Landsleute erklärten ihn bei Lebzeiten als Urtypus eines homme de génie raté —, in seinem monumentalen Romane Eve Future nach allen möglichen Richtungen hin durchgeführt. Und er gelangte dabei zu einem noch radikaleren Schluss als Kleist, nämlich zu dem, dass am Maßstabe des Könnens gemessen, absolute Leblosigkeit höher als das höchste Leben stehe. Halady, Villiers’ Idealautomat, kann sich nicht irren, kann nicht falsch handeln, kann nicht sündigen; er oder vielmehr sie ermüdet nie, erkrankt nie … Aber auch der absolute Wissenschaftler denkt, wenn er sich als reiner Fachmann einstellt, nicht grundsätzlich anders. Helmholtz pflegte seinen Studenten zu sagen, falls ihm ein Optiker ein so unvollkommenes Instrument überbrächte, wie die Linse des Menschenauges, er würde ihn als unfähig hinausschmeißen. Und auf der großen deutschen Chemieausstellung des Jahres 1937 erklärte ein namhafter Professor, indem er den neuen deutschen Kunstgummi pries, ungefähr das folgende: Da Gott den Gummibaum erschuf, hatte er nicht den Kraftwagen als Ziel im Auge; kein Wunder daher, dass der Naturgummi nicht allen Anforderungen des Fahrers genügt. Für diesen Zweck hat der Mensch neuerdings einen besseren Gummi erfunden, und so werde es auf die Dauer auf allen Gebieten kommen.

Nun mag man anzweifeln, dass Wissenschaftler notwendig hohe Geister sind. Und Kleist und Villiers identifizierten sich sicher nicht mit ihren Geschöpfen; ebensowenig der jüngste Dichter gleicher Gattung, Aldous Huxley, der scharfsinnige Vorauszeichner Unserer tapferen neuen Welt. Tatsächlich aber sind Heinrich von Kleists Marionette und Villiers’ zukünftige Eva qualifizierte Ausdrücke eines der ältesten Wunschbilder des denkenden Menschen: des Algorithmus, der alles unfehlbar vorausbestimmenden Denkmaschine. Die Inder scheinen dieses Wunschbild zuerst herausgestellt zu haben. Welt bekannt wurde es durch die Araber, dieses phantastischeste und zugleich abstraktionsfreudigste der bisherigen Kulturvölker. Doch auch noch den großen Leibniz beschäftigte es intensiv, und aus diesen seinen Bestrebungen ist nicht allein die Rechenmaschine, sondern auch die höhere Mathematik, soweit diese von ihm ausgeht, hervorgegangen. Man höre nur den Gefühlston heraus, der aus der folgenden Verlautbarung des großen deutschen Philosophen herausklingt:

Ich habe eine Maschine inventieret, deren Zweck ist, durch ein Instrument zu addieren, zu subtrahieren etc., also dass man mit einem Worte garkeiner Gemütsarbeit zur ganzen Rechnung bedürfe,

oder gar aus der Erklärung seines Vorgängers Descartes über die von ihm ersehnte Universalsprache, die von sich aus alles so klar machte, dass Irrtum beinahe unmöglich würde:

Or je tiens que cette langue est possible, et qu’on peut trouver la science de qui elle dépend, par le moyen de laquelle les paysans pourraient mieux juger de la vérité des choses, que ne font maintenant les philosophes.

Greifen wir nun aber von Descartes und Leibniz auf die griechischen Denker zurück, so finden wir, dass deren Gottvorstellung dem Algorithmus nahe verwandt war. Pythagoras hypostasierte die Zahl zur metaphysischen Substanz, nach Plato geometriert die Gottheit. Und der rein kontemplative und dabei alles vernunftgemäß ordnende Weltgeist, dessen Annahme offenbar der Entelechie-Vorstellung des Aristoteles zugrunde lag, hatte seinerseits mit dem Algorithmus viel gemein1. Wie steht es nun mit der alles vorausbestimmenden, allwissenden und allgegenwärtigen Weltvernunft überhaupt, die zwar nicht alle Völker hypostasiert haben, die aber beinahe alle von höherer Verstandesbegabung als Attribut der Gottheit selbstverständlich anerkennen? Verfolgt man die Gedanken, welche jeweils zu dieser Vorstellung führten, dann findet man, dass ihnen allen ein Mechanismus als ideales Endziel vorschwebte.

Dies gilt in so hohem Maße, dass die vorausgesetzte Weltvernunft wieder und wieder nicht als Vollmacht eines freien und aus Freiheit vernunftgemäß handelnden Schöpfers, sondern als oberste Formel vorgestellt wurde, aus welcher alles mit Notwendigkeit folgte. Nichts anderes bedeutet ja schon die allgemeine Vorstellung, dass die Götter an die von ihnen erlassenen Gesetze gebunden sind. Auch heute nun liegen die Dinge für Denkertypen nicht wesentlich anders. Dies beweist allein schon das krampfhafte Weiterkämpfen begabter Forscher, trog aller Evidenz, darum, dass auch das Lebendige mechanisch zu verstehen sein müsse, und der Hass aller Gelehrten, die nichts als Gelehrte sind, gegen das Irrationale; daher deren krampfhaftes Bestreben, es coûte que coûte doch irgendwie zu rationalisieren, und handele es sich um ein so Harmloses wie den Zufall, dessen Vorkommen vom Standpunkt des jeweils Erlebenden überhaupt nicht wegzuleugnen ist. Und nunmehr fordere ich alle Vorsehungsgläubigen heraus, einmal klar und deutlich zu sagen, was sie unter Vorsehung verstehen. Im tiefsten Inneren meinen, soweit ich urteilen kann, alle, denen das Denken ihre persönlich letzte Instanz ist, etwas einer Weltvernunft Vergleichbares, und diese kann anders als Algorithmus-artig vom Verstande nicht konstruiert werden. Daher die ungeheure historische Wirkung von Calvins Prädestinationslehre gegenüber dem Misserfolg im letzten des irrationalen Luthertums. Daher das für so unglaublich viele Einleuchtende von Spenglers mechanistischer Schicksalsidee, daher die neue vogue der Sterndeutung und zwar gerade in der schon von Kepler verworfenen Auffassung ihres Sinns, als sei der freie Mensch nur eine winzige Schraube eines aufgezogenen Uhrwerks. Auch der Gedanke einer ewigen Gerechtigkeit gehört hierher und vor allen Dingen das unausrottbare Vorurteil, dass das Gute notwendig siege. Wenn der Sieg der ewigen Gerechtigkeit und des Guten darin bestehen soll — und sämtliche Tatsachen der Geschichte künden nur von solchem Sieg —, dass Jahrhunderte nach einer Missetat für sich völlig unschuldige Erben längst im Glück verstorbener Verbrecher getroffen werden, dann handelt es sich, sehr milde ausgedrückt, um an den Haaren herbeigezogene Bestimmungen für das Gute, Gerechtigkeit und Sieg. In diesen Zusammenhang gehört auch noch der Karma-Gedanke hinein mit seiner Annahme einer durch verschiedene Personen hindurchwirkenden Kausalität, auf Grund welcher ganz neue Menschen dafür leiden oder belohnt werden, was andere taten oder waren. Schaut man nun alle diese Tatsachen zusammen, so kann man nicht umhin zu erkennen, dass das Denken eine unüberwindliche Neigung hat, das Mechanische gegenüber dem Nicht-Mechanischen zu überwerten.

Kein Zweifel: das Denken hat nicht allein eine ursprüngliche Affinität mit dem Mechanischen — ursprüngliche Affinität hat es allein mit ihm. Von einer anderen Seite her kommend, hat Henri Bergson, dieser Philosoph mit dem größten l’esprit de finesse (man denke an Pascals Unterscheidung zwischen l’esprit de finesse und l’esprit geometrique), den Europa seit dem XVIII. Jahrhundert hervorgebracht hat, letztere These dahin qualifiziert, dass das Denken ursprünglich nur der Materie angepasst ist. Diese Fassung muss schon aus dem grundsätzlichen Grunde beanstandet werden, dass das konkrete Leben zu einem sehr großen Teile selber Materie ist und deren Gesetzen folgt. In meinen Südamerikanische Meditationen; die einen neuen Begriff von der Komplexität des Menschenwesens schufen, wurde gezeigt, dass der Mensch nicht nur Geist und Seele, auch nicht nur Leib und Seele und schon gar nicht eine Leib-Seele-Geist-Einheit ist, sondern ein äußerst vielfältiges und verschränktes Wesen, das mit verschiedenen Teilen und Schichten seiner Natur völlig verschiedenen Sphären angehört. Der Organismus schließt nicht allein mineralische Stoffe ein — mit dem, was man am besten seine Mineralität heißt, gehört er als Dasein dieser Ordnung an. Wäre es anders, Mineralien könnten unmöglich heilend oder aber vergiftend wirken, wie sie es doch tun. Gleichsinnig ist der Mensch Pflanze, Reptil, Kaltblut, Warmblut usf. bis hinauf zum Geist, allemal mit verschiedenen Schichten und Bestandteilen seines Wesens. Auf diesen Sonderebenen sind die sie beherrschenden Gesetze, obschon sie keine spezifisch menschlichen Normen darstellen, dennoch seine Gesetze. Alles nicht ausschließlich Organische im Menschen nun folgt mechanischen Gesetzen im weitesten Verstand. Und zu diesem nicht ausschließlich Organischen gehören nicht allein alle physiologischen Funktionen und Prozesse, die ihren schöpferischen Grund nicht im Freien des Menschen haben (vgl. meine Abgrenzung des substantiellen Freien im Menschen im Kapitel Freiheit des Buchs vom persönlichen Leben), somit alle, deren Ablauf, einmal begonnen, vom Geist nicht abzuändernden Gesetzen folgt: dazu gehören die meisten Erscheinungen, mit denen sich Psychologie theoretisch und praktisch befasst; wer je psychoanalysiert wurde, weiß, wie erschreckend viel bei solcher Kur im gleichen Sinn, wenn auch nicht gleich sicher, vorauszusehen ist, wie bei astronomischen Vorgängen. Es gibt eine richtige Logik der Empfindungen und Gefühle, welche Freiheit nicht abändern kann. Es gibt endlich und vor allem die zwingende Logik des Denkens.

1 Wenn ich hier die Verwandtschaft des antiken Denkens mit dem modern-mechanistischen betone, so leugne ich damit natürlich nicht deren sonstige Verschiedenheit. In seiner Mitteilung Zur Personalität des Welt-Logos an den IX. Internationalen Philosophenkongreß (Paris 1937) schreibt Paul Feldkeller in bezug auf das griechische Denken richtig:
Alles hat Vernunft und Anteil am Denken (Empedokles), die Weltvernunft weilt alles (Anaxagoras), das ganze Sein hat Erkenntnis (Parmenides), alles denkt (Heraklit). Der heutige Mathematiker und Physiker glaubt an keine Eigenlogik der Zahl, er glaubt an ihre Blindheit, ihr Totsein: für den Pythagoreer, den Platoniker war die Zahl sehend, vernünftig, einsichtig, intelligent. Die Zahl wusste um ihre Größe, ihr Vernünftigsein, um ihre Bedeutung, die moderne Zahl weiß nichts davon. Die Zahl ist das Urweise, denn die Natur der Zahl ist kenntnisspendend, führend und lehrend für jeglichen in jedem Dinge, sagt der Pythagoreer Philolaos.
Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Die Welt der Künstlichkeit
© 1998- Schule des Rades
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