Schule des Rades

Hermann Keyserling

Zur Wiedergeburt der Seele

Heilkunst und Tiefenschau

Schönheit einer Seele

Hiermit gelange ich denn zur Frage des Werts der Psychoanalyse für den strebenden Menschen. Wenn schon das Problem jedes Kranken ein rein persönliches ist, was besagt, dass das lebendige Zentrum des Sinneszusammenhangs, den jeder Einzelne darstellt, unter allen Umständen oberhalb aller allgemein vorkommenden Mechanismen liegt — es kommt darauf an, was sie im gegebenen einzigen Fall bedeuten —, so gilt Gleiches erst recht von der geistig-seelischen Persönlichkeit. Der analytische Tatbestand, und sei er noch so unbezweifelbar festgestellt und medizinisch bestimmt, enthält an sich noch nichts, was über den geistigen Wert und damit den eigentlichen Lebenswert ein Urteil erlaubte.

Diese Erkenntnis leitet nun unmittelbar zu dem Haupteinwand über, welcher den meisten heutigen Analytikern gemacht werden muss, einem Einwand, dessen Triftigkeit mir dadurch allein erwiesen scheint, dass alle Analytiker ohne Ausnahme, die sich zu meiner früheren Behandlung seiner äußerten, durch ihre Reaktion gezeigt haben, dass gerade hier ihr Hauptkomplex sitzt: er fällt mit der Warnung zusammen, zu viel zu analysieren, weil dadurch Wertvolles zerstört werden könne. Auf die eigentümliche Ähnlichkeit mancher vorgebrachter oder aus dem Gesagten als letztlich gemeint herauszulesender Argumente (dass, was weganalysiert werden könne, eben kein Wert war, dass eine richtig durchgeführte Analyse nie schaden könne und notwendig zugleich die Synthese sei, dass doch niemand zum Analytiker käme, welcher nicht reif wäre, dass es um die Frauen, denen Aufklärung geschadet, oder die Männer, deren Gelöstheit Schaden gestiftet hätte, oder die, welche durch diese wiederum geschädigt wurden, eben nicht schade sei[!]) mit denen fanatischer Gläubiger will ich nur flüchtig hinweisen; der Mann des vorwiegend wissenschaftlichen Interesses ist als Arzt gar leicht Vivisektor, und dieser der seelische Bruder des Inquisitors; auch die Tatsache möchte ich gerade nur berühren, dass das Verhalten gewisser Analytiker, von denen mir Kunde ward, nur dadurch erklärbar scheint, dass die Analyse ihnen Selbstzweck ist und nicht der Kranke, somit einen Sport bedeutet, und dass das Insistieren anderer auf dem Vorhandensein bestimmter Komplexe trotz allem kaum eine andere Deutung zulässt als die, dass sie aus vorgefasster Meinung keine Folter scheuen, bis dass ein noch so unwahres Geständnis erpreßt ist.

Der wahre Sachverhalt liegt — ich führe hier in etwas anderen Worten noch einmal aus, was schon im vorigen Aufsatz ausgesprochen war — folgendermaßen: Analyse ist aus zwei allgemein zu bestimmenden Gründen ein gefährliches Instrument: erstens, weil jede Persönlichkeit einen ganz bestimmten Sinneszusammenhang darstellt, der mit dem Sosein seiner Elemente steht und fällt; zweitens, weil das Durchschauen eines Sinnbildes dieses zerstört. Hieraus folgt einerseits gewiss, dass der Starke und Überlegene das Allermeiste verträgt, und dass in Symptomen sich äußernde Fehler durch Analyse sehr oft am besten beseitigt werden. Andererseits jedoch, dass der Schwache bestimmte Ein- und Ausblicke nicht vertragen mag — und die Meisten, die an Analyse zu denken Anlass haben, sind irgendwie schwach. Wenn jede Persönlichkeit das, was sie darstellt, in Funktion eines ganz bestimmt-begrenzten Zustands ist, so ist ein Mädchen, dem man vorzeitigen Einblick in die Abgründe des Trieblebens gab, sofern es ein Erlebnis auslöste, die Person nicht mehr, die sie war; ob sie ein Besseres wird, hängt ausschließlich davon ab, ob sie einen neuen seelischen Zusammenhang — wie solchen das normale Liebeserlebnis selbsttätig auslöst — zu schaffen weiß, der das dem früheren nicht Assimilierbare assimilieren kann. Grundsätzlich kann der Analytiker genau so Traumen schaffen wie der berühmte Schreckeindruck des Kindesalters; es ist nicht wahr, dass nur früheste Erlebnisse dauernde Störungen auslösen.

Die Frage ist hier wie überall, was einer an Einsicht verträgt. Wer jemand in seinem derzeitigen Zustand Unerträgliches zumutet, der muss gleichzeitig den Zustand zu verändern, d. h. eine neue Persönlichkeitssynthese zu schaffen wissen — dies aber ist (hier greife ich später Auszuführendem vor) nicht die Aufgabe des Analytikers, sondern des geistigen Führers, der als solcher an eine geistige Wirklichkeit, welche oberhalb alles Analysierbaren liegt, glauben muss. Wenn die Analytiker, die dies verkennen, nicht längst durch Erfahrung ad absurdum geführt erscheinen, so hängt dies damit zusammen, dass solche in der Mehrzahl der Fälle nur mit richtiger Krankheit zu tun haben, deren Heilung meist vom ursprünglichen Zusammenhang her möglich ist. Aber was ich im Auge habe, ist ein Wesentlicheres als Krankheit: die Schönheit einer Seele, d. h. ihre innerliche, von richtiger Proportioniertheit abhängige Wohlgestalt. Und sehr, sehr viele, durch Analyse medizinisch vielleicht Geheilte sind durch sie seelisch häßlich geworden, denn ihren ganzen inneren Halt haben sie durch sie verloren. Deshalb hört man wieder und wieder seitens solcher Ärzte, welche die Verantwortung des Seelenführers fühlen, davon berichten, dass Analyse ein Seelengefüge aufgelöst und einen Menschen damit seelisch herabgemindert hätte. Solche Unglückliche kann nur ein wissender Führer neu zusammenschließen und auf ein höheres Niveau bringen. Dass dies unter allen Umständen selbsttätig geschähe, ist nicht wahr. Nur dort ist, noch einmal, Analyse zugleich Synthese, wo das Gesamtniveau sich die neuen Inhalte ohne weiteres eingliedern kann.

Hier liegt denn auch der Angelpunkt zur Lösung des Problems, warum jeder schöpferische Mensch sich vor zuviel Analyse scheut. Ich sagte: ein durchschautes Symbol ist eben damit tot. Goethes Fischer lässt sich wie wenige Gedichte auch analytisch deuten, und diese Deutung trifft unter anderen sicher zu. Aber hätte Goethe sein herrliches Gedicht geschrieben, wenn solche Deutung ihm, gar als einzig mögliche, bekannt gewesen wäre? Ganz sicher nicht. Und an dem Kunstwerk liegt gewisslich mehr als an seiner Triebgrundlagendeutung. Der schöpferische Kern des Menschen ist ein überaus zartes, empfindliches, leicht vergrämtes Wesen. Er ist, wie dies unter Analytikern meines Wissens allein Beatrice M. Hinkle einigermaßen erfasst hat, recht eigentlich ein anderer Mensch im Menschen, von ähnlichen Lebensbedingungen wie die des Fötus im Mutterleib. Jede vorzeitige Belichtung des Werdens kann hier tödlich wirken. Wenn das Ausgesprochene sich in allen Fällen vom Menschen ablöst und seine Bildungskraft im Menschen verliert (daher der Begriff Verreden, vgl. Erscheinungswelt und Geistesmacht in Philosophie als Kunst), so muss die Grundbedingung der Analyse, dass alles sofort auszusprechen sei, vom Schöpfer-Standpunkt unmittelbar als Hinrichtungsaufmachung empfunden werden. Was geht es den Schöpfer, und das ist das Wesen, für das allein das empirische Ich des Künstlers lebt, denn an, wenn dieses an nervösen Störungen leidet, zumal wenn diese auf jenen anregend wirken? Und diese Erwägung ergänzt eine weitere: zum großen Schriftsteller vollendet sich, bis auf seltene Ausnahmen, nur der psychologische Typus, dessen Anlage bedingt, dass er schreiben muss, um selbst zu wissen, wie denn wohl alle Kunstschöpfungen in diesem Sinn, medizinisch betrachtet, Lösungen innerer Schwierigkeiten in der Vorstellungswelt bedeuten; nur wer aus persönlichen Gründen auf bestimmte Weise schaffen muss, hat je Großes geschaffen.

Hierzu geben die Analytiker selbst das lehrreichste Beispiel ab. Die Berufenen unter diesen sind, soweit ich sehe, lauter solche, die im Analysieren anderer eigene Konflikte abreagieren. Mir scheint es nun durchaus kein Zufall, dass die Bahnbrecher der Analyse — relata refero — nicht oder doch nicht annähernd vollständig analysiert sind und gegen Analyse ihrer Person die gleiche Abneigung gezeigt haben wie andere Künstler. Und in diesem Zusammenhang ist die Bemerkung vielleicht nicht uninteressant, dass Freud persönlich alle Anzeichen eines typischen Adlerschen Falles aufweist, weshalb es schwerlich einen Zufall bedeutet, dass er als ersten Häretiker eben seinen Schüler Alfred Adler abgespalten hat1 … Soll der psychologische Typus des produktiven Menschen wirklich verschwinden, damit das Dogma der Analytiker bestätigt bleibt? Ich denke nicht. Schon Buddha wusste, dass Denken das Triebleben tötet. Er war insofern der erste Analytiker. Er war jedenfalls der beste Erkenntniskritiker unter ihnen, insofern er lehrte, dass ein belichtetes Dunkel eben kein Dunkel mehr ist, d. h. zu sein aufhört. Insofern Buddha nun den Menschen sich aus aller Erscheinung hinauszudenken lehrte, mag er wohl Größeres gepredigt haben als das Evangelium des Künstlertums. Der Analytiker, der das höhere Leben weganalysiert, auf dass das niedere desto bewusstseinsbetonter bliebe, kann gleiche Überlegenheit für sich nicht in Anspruch nehmen2.

Eine Psychoanalyse, welche die Triebwurzeln freilegt, ist eben unter allen Umständen ein tiefer operativer Eingriff; und ein solcher erscheint, grundsätzlich gesprochen, auch auf seelischem Gebiete dann allein berechtigt, wenn er notwendig ist und der Patient ihn ganz gewiss verträgt. Schon deshalb allein darf niemals tiefer und auch nicht längere Zeit hindurch analysiert werden, als zur Wiederherstellung des alten Gleichgewichts oder zur Begründung eines höheren unvermeidlich ist. Eine Blinddarmoperation bedeutet oft die Rettung, aber man schneidet dabei nicht den ganzen Darm auf und pflügt keinesfalls jahrelang weiter im Unterleib herum. Und hier gelange ich denn zur Kunst des Arztes zurück. Nur der kann helfen, der die erforderliche Neu-Synthese von sich aus, von vornherein intuiert und seine Fragen, Anregungen, Vorschläge dergestalt disponiert, dass sie von sich aus, als Reaktive, die Synthese einleiten. Und dieses vermag wiederum nur der, welchem Erschaffung der neuen Persönlichkeit, also der geistigen Einheit oberhalb aller Elemente, einer Einheit, deren bloßes Dasein die Krankheit erledigte, bewusstes Ziel ist. Wer hier keine Initiative beweist, sondern, der Theorie entsprechend, lediglich bewusst macht, hilft keinem, der nicht auch ohne diesen Arzt genäse, denn was die Krankheit schafft oder erhält, ist ja gerade der Wille zu ihr, das Festhalten am gestörten Gleichgewicht. Tatsächlich handelt auch kein Arzt der Theorie gemäß.

Durch seine Deutungen lenkt unbewusst auch der, der sich selbst rein passiv dünkt, denn jede Deutung erfindet doch eben er. Aber viele Analytiker behaupten immer noch, dass sie den Patienten gar nichts suggerieren. Und damit behaupten sie einfach Unwahres, weil Nichtsuggerieren in der gegebenen Situation rein technisch unmöglich ist. Dies erweist schon die eine Erwägung, dass es ein Bewusstmachen ohne implizites Deuten nicht gibt und keine Deutung je als die einzig mögliche gelten kann, auch vom Patienten-Standpunkt nicht; dass es sich also überall und ausnahmslos um einen Auswahlvorgang handelt. Der Wert des Arztes bemisst sich nun ganz danach, wie er diesen einleitet und durchführt. Er muss erkennen, welche Richtungen unter den unendlich vielen, in denen die Seele sich auslebt, die wesentlichen sind, welche Bilder und Einfälle in bezug auf Vergangenheit und Zukunft bedeutsam. Und hieraus folgt wiederum, dass noch so unbewusste Intuition unter allen Umständen den Fragen und Deutungen die Richtung weist, denn jeder Arzt will doch etwas erreichen und erfüllt damit wenigstens theoretisch die obige Forderung. Wer nun aber das Wesentliche nicht richtig erkennt und nicht so auszudrücken weiß, dass es als Reaktiv wirkt, der kann nur durch Zufall helfen, im Sinn der ersten Betrachtungen dieses Aufsatzes, insofern er überhaupt anregt oder überrascht und das beweglich gewordene Unbewusste nun von selbst die erforderlichen Prozesse vollendet. Es mag sein, dass beim Arzt, der nur einen früheren psychophysischen Gleichgewichtszustand wiederherstellen will, ein verstehendes Folgen (das aber seinerseits Intuition voraussetzt, denn Verstehen ist schon Schaffen!) dem Eigenwillen des Unbewussten oft genügt, da der Kranke ja gesund werden will und insofern grundsätzlich weiß, wessen er bedarf, und nur Unterstützung braucht. Wo geistig-seelische Höherentwicklung in Frage steht, genügt es sicher niemals. Hier kommt alles darauf an, was ich die magische Formel heiße — und dass meine Auffassung gerade an diesem Punkte auf ihren zweiten energischen Widerstand seitens der Analytiker gestoßen ist, betrachte ich wiederum als Beweis dessen, dass ich den eigentlich wunden Punkt berührt habe.

Gemäß dem Korrelationsgesetz von Sinn und Ausdruck kann nur der genau entsprechende Ausdruck einem neuen Sinn zur Wirklichkeit verhelfen. Schon bei der richtigen Diagnose, deren entscheidende Rolle keiner anzweifelt, handelt es sich ebendarum. Gleiches gilt aber in noch weit höherem Grade dort, wo ein neuer Sinn im anderen bewusst und insofern wirksam gemacht werden soll. Auf die ungeheure Bedeutung des richtigen Wortes bei der Suggestion wies ich schon öfters hin: das Unbewusste folgt den Direktiven des Bewusstseins so genau, dass der geringste Ausdrucksfehler schwerwiegendste Folgen nach sich zieht. Aber beim Lösen oder Auslösen handelt es sich um genau Gleiches. Nur der findet lösende Worte, der aus der Intuition heraus handelt, was gerade in dem Fall gesagt werden muss, um im Unbewussten des Anderen eine gewollte Neuorganisation hervorzurufen. Wer dies, unter Analytikern, nicht anerkennt, scheut eben die Verantwortung. Und die ist beim Analytiker genau so schwerwiegend wie beim suggestiv behandelnden Arzt, weil jedes Wort, wenn es überhaupt aufgenommen wurde, suggestiv wirkt. Deshalb gilt in bezug auf die Psychoanalyse unter anderem das Folgende: Wer aus dogmatischen Voraussetzungen heraus in der Seele des Anderen etwas finden will, was nicht da ist oder doch nichts oder wenig bedeutet, der macht es wirklich.

In einem Sinneszusammenhang spiegelt eines immer das andere; deshalb ist jede Deutung grundsätzlich möglich, macht jede angenommene Akzentuierung diese notwendig wirklich, wenigstens für eine Zeit. Dass eine Deutung einleuchtet, beweist eben deshalb noch lange nicht ihre Richtigkeit: keine kann je ganz falsch sein. Insofern hat so mancher Analytiker recht eigentlich die Rolle der Circe gespielt. So bedeutet der Widerstand gegen die Analyse in überaus vielen Fällen den Widerstand gegen das Schwein, das im Arzt sitzt und in das er nun auch sein Opfer verwandeln will. Mit dem Begriff des Widerstandes ist es überhaupt eine eigene Sache: so zutreffend er, richtig verstanden, sei — wieder und wieder wird er so verwendet, dass der Arzt unter allen Umständen recht behält; wenn jemand analytische sog. Wahrheiten nicht anerkennen kann, so bedeute dies eben Widerstand gegen die Analyse; wenn einer bestimmten Suggestionen des Arztes zu folgen außerstande ist, gleichfalls. Kann es denn nicht vorkommen, dass der Arzt eine falsche Richtung in seiner Forschung einschlägt, welche der Kranke aus Selbsterhaltung abweisen muss?…

1 Wie sehr Freuds Psychoanalyse überhaupt persönlich bedingt ist, erweist das höchst interessante Buch von Edgar Michaelis Die Menschheitsproblematik der Freudschen Psychoanalyse, Urbild und Maske, Leipzig 1925. J. A. Barth. Danach war Freud ursprünglich ein hochgesinnter Idealist, der auf Grund schwerer Erlebnisse sein Bestes und Höchstes verdrängt hat.
2 Vgl. hierzu den sehr interessanten Aufsatz Paul Dahlkes über Psychoanalyse in Die Brockensammlung 1924, S. 65 (Neubuddhistischer Verlag, Frohnau bei Berlin).
Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele · 1927
Heilkunst und Tiefenschau
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME