Schule des Rades

Leo Frobenius

Paideuma

I. Paideumatische Studien

4. Erleben

Das Problem, welche Kräfte es eigentlich in letzter Linie sind, die die historische Entwicklung einer Volkskultur bedingen, tritt heute wieder mit seiner ganzen Großartigkeit in den Vordergrund. Daraus folgt die weitere Frage nach dem Unterschiede der einander entsprechenden Kulturformen verschiedener Völker. Es sei mir gestattet, ein Beispiel solcher Verschiedenheit der Schicksale und also auch der Kulturformen hier anzuführen, ein Beispiel, das geeignet erscheint, wenigstens anzudeuten, in welcher Richtung Antworten auf so tiefgründige Fragen gefunden werden können, zumal auf die, in welcher Tiefe die grundlegende Eigenart der Kultur und das Phänomen ihrer Geschichte schlummern.

Im westlichen Sudan, das heißt in dem Gebiet zwischen dem Unterlauf des Niger- und dem des Senegal, sind drei verschiedene Arten von Völkern heimisch: Erstens die sogenannten primitiven Äthiopen (siehe nächstes Kapitel), das sind nackte, in abgeschlossenen Weilern sippenweise hausende Stämmchen; zweitens die Gurmavölker, die, zu Feudalstaaten gruppiert, im Osten die Primitiven beherrschen; drittens die Mande oder Madingo, die als Restvölker des mittelalterlichen Kaiserreiches Mali die in ihrem Gebiete ursprünglich heimischen Stämmchen aufgesogen haben und mit eigenartiger Kastengliederung in kleinen burgartigen Städten und darum liegenden Farmweilern die Hauptbewohner nach Westen hin sind.

Die primitiven Äthiopen sind überall im Verschwinden begriffen, und zwar sterben sie im Gebiete der feudalen Gurma infolge Versklavung und Zerstörung ihrer wirtschaftlichen Bedingungen aus, während sie unter den kastenmäßig gegliederten Mande als Hörige aufgehen. Ihre Kultur wird also bei den Gurma zerstört, bei den Mande aufgesogen. Gleichzeitig ist aber wahrzunehmen, dass die auf Machtpolitik beruhende Staats- und Kulturkraft der Gurma zerfällt, wogegen die Mande durch Aufnahme der Primitiven teils sich mehren, teils auch in einem stetigen Weitersickern, also in einer großzügigen Kolonialpolitik, weitere Kultur- und Machtausdehnung gewinnen. Diese Politik ist derart stetig, dass die Mande ohne das Dazwischentreten der die Eingebornenkultur zersetzenden europäischen Kolonisatoren in verhältnismäßig kurzer Zeit ohne Zweifel eine vollkommene Mandesierung nicht nur des westlichen, sondern auch des zentralen Sudans hervorgerufen hätten. Dieser Prozess der Mandesierung geht im allgemeinen sehr leise und kaum merklich, jedenfalls ohne aufsehenerregende Ereignisse, in friedlicher Weise vor sich. Als Handelsleute und Gewerbetreibende ziehen und wandern meist einige wenige zu unberührten Primitiven aus; ohne Aufdringlichkeit siedeln sie sich unter ihnen an, gehen ihnen alsbald mit Rat und Tat zur Hand und führen derart unmerklich ihre heimische Ordnung und Industrie ein; den bis dahin beziehungslos Gewesenen bringen sie auf diese Weise Verkehr, Produktion und Absatz.

Es ist ein durchaus großzügiges und in vieler Hinsicht erstaunliches Kulturwerk, das die Mande so vollbringen.

Hierzu sind sie nur imstande, weil sie volksmäßig mit einer glänzenden Organisation ausgerüstet sind, die der Ausdruck eines eigenartigen Innenlebens ist. In den zentralen Mandeländern, das heißt in den Provinzen des einstigen Kaiserreiches Mali, waren und sind die Mande in fünf Kasten gegliedert. An der Spitze stehen die Horro oder Ritter. Sie hausen zumeist in den kleinen burgartigen Landstädten zusammen mit den Dialli oder Barden, die als Glieder der zweiten Kaste in melodramatisch mit Guitarrebegleitung vorgetragenen Epen die Taten ihrer Herren und deren Vorväter verkünden. In den Landweilern wohnen drittens die Ulusu oder Hörigen, das sind mandesierte Nachkommen der alten primitiven Äthiopen. Diese sind nicht nur ausgezeichnete Bauern, sondern auch sehr geschickte Weber. Sie sind gleich ihren Vorfahren an die Scholle gebannt; aber ihre Verpflichtung, für die Horro zu arbeiten, ist sehr begrenzt. Zum vierten endlich sind die Numu im Lande. Das sind kunstfertige Schmiede und gleichzeitig weise Leute, die Bewahrer der alten Bann- und Zaubergebräuche, gefürchtete Schwarzkünstler und geschätzte Handwerker, wenn auch stets kastenmäßig abgesonderte Stammesglieder. Hierzu kommen endlich fünftens die Haussklaven, die Djong.

Die Kastengliederung ist streng, bildet aber die Grundlage eines kristallklaren und gesunden Volkslebens. Die Ulusu lieben ihr Land; die Numu achten die Rasse; die Horro sind stolz, werden aber durch die Dialli und gewisse Ältestenräte zur Erfüllung sozialer Pflichten angehalten; die Sklaven sind in ihr Schicksal ergeben, können auch wohl glücklich sein, denn bis auf die Chimäre der Freiheit sind sie durchaus fähig, in den Besitz aller Güter zu gelangen, nicht zum mindesten einer segensreichen Ehe und der vertrauten Freundschaft ihrer Herren. Dieser ausgezeichnete Zustand, dem die Franzosen das wertvollste ihrer afrikanischen Kolonialvölker verdanken, stammt aus der Zeit des berühmten mittelalterlichen Kaiserreiches Mali. Dieser Staat war aber wiederum nur der Erbe des seinerzeit noch glanzvolleren Gana, eines Reiches, das erst etwa um Christi Geburt in den am nördlichen Senegal-Nigergebiet gelegenen Ländern, so recht auf der Scheide von Sudan und Sahara, blühte. (Siehe 12. Kapitel.) Auch schon im vorchristlichen Gana muss diese Kastenordnung heimisch gewesen sein, darüber sind sich alle alten Gesänge, die ehrwürdigen Chroniken und die Weisen des Landes einig. Von da an rückwärts gehen aber die Meinungen nach zwei Richtungen auseinander.

Die Vertreter der einen Ansicht sind die islamitischen Priester und die maurischen Stämme der Sahel nördlich des Senegal. Sie sagen, dass diese Kulturform von Mohammed stamme. Es ist aber natürlich nicht schwer, ihnen nachzuweisen, dass das Reich Gana schon lange vor den Zeiten Mohammeds bestanden hat. Derart in die Enge getrieben, behaupten sie dann, dass südarabische Stämme, die schon viele Jahrhunderte vor der Hedjra aus ihrer Heimat nach Afrika ausgewandert seien, sowohl ihre eigenen Altvordern als die Kulturgründer Ganas gewesen wären.

Die Meinung der anderen geht dahin, dass das fremde Volk der Gara (auch Garanke, Garassa oder Garama genannt) die Gründer Ganas gewesen sei, ein großes Kulturvolk der Urzeit, von dem man nur wisse, dass es schon lange vor der Zeit der Fulbe aus der nordöstlichen Sahara (in der man noch heute ihre Gräber nach Steinperlen und allerhand Kupferwerk durchwühlt) gekommen und in Faraka (das Mesopotamien Afrikas, zwischen dem oberen Niger und dem Bani gelegen) ansässig geworden sei. Diese Gara sollen schon vor der Zeit des berühmten mythischen Wagadu ihre Hauptstadt Wagana (?) nordöstlich des Niger gegründet haben. Diese Gara gelten solcher Anschauung nach als Helden und Ritter, als Kulturträger in jedem Sinne des Wortes, als Gründer des Reiches Gana und als Ahnherren des gleichnamigen, hochberühmten Geschlechtes; ihnen werden die mächtigen, pyramidenartigen Grabhügel zugeschrieben, die an vielen Stellen ihre gewaltigen roten Häupter über den gelben Sand und die grüne Steppe gen Himmel strecken. Von ihnen sollen auch mehrere Heldenbücher und eine große Anzahl von Heldenepen stammen, von denen ich viele einsammeln und einige im Schwarzen Dekameron veröffentlichen konnte. Ja, sie gelten als diejenigen, die überhaupt Bardensang und Heldenepos erfunden haben.

Entscheidend für die Frage, welche von diesen Ansichten über die Urheber der Ganakultur Recht hat, ist es: ob, wo und bei wem heute noch dieser Geist nachzuweisen ist, der allein mit der Tatsache der epigonenhaften, kastenmäßigen Mandekultur in Einklang gebracht werden kann. Wenn die Frage derart gestellt wird, so spricht schon von vornherein alles für die Richtigkeit der zweiten Ansicht, für die mir denn an jenem Julitage des Jahres 1908, an dem die Schiffe der Expedition die Stadt Njafunke am Niger berührt hatten, eine ergänzende Aufklärung zuteil wurde, die das Gewicht einer Entscheidung hatte, und die ebenso vielsagend für den alten Ganageist als auch gewichtig für manche größere Frage nach der Art ursprünglicher Kulturverwandtschaft überhaupt ist.

Wir hatten unsere Boote verlassen und den Lagerplatz am Strande bezogen. Allerhand Volk aus den umliegenden Dörfern strömte zusammen. In gewohnter Weise war der Arbeitstisch aufgeschlagen. Ich begann die Unterhaltung mit den Gästen mit der Frage nach den Namen verschiedener alter Grabmäler, die am Tage passiert waren. Eine der mächtigsten Erdpyramiden wurde als das Grab des Samba Gana bezeichnet und gleichzeitig gesagt, dass es, diesen betreffend, einen sehr, sehr alten (– sie seien schon in der Zeit vor Wagadu gesungen – ) Bardengesang gäbe. Leider war ein Dialli, der das Epos wirklich kannte, nicht aufzutreiben. Aber seinen Inhalt wusste ein ehrwürdig alter Diarra mitzuteilen. Sein Bericht lautete folgendermaßen:

Samba Gana

Annallja Tu-Bari war die Tochter eines Fürsten bei Wagana. Sie galt als überaus klug und schön. Viele Horro kamen in ihre Stadt und warben um sie. Aber Annallja forderte von jedem eine Leistung, die keiner zu beginnen wagte. Annalljas Vater hatte nur diese eine Stadt gehabt, aber viele Farmorte. Eines Tages war er mit dem Fürsten (der Erzähler verwendet hier das interessante Wort Amil) einer Nachbarstadt um den Besitz eines Farmdorfes in Streit geraten; Annalljas Vater war im Kampfe unterlegen, er hatte den Ort eingebüßt; das ertrug sein Stolz nicht; er starb darüber. Annallja erbte die Stadt und das Land; sie forderte aber nun von jedem Horro, der ihre Hand begehrte, dass er nicht nur das verlorene Farmdorf zurückerobere, sondern dazu noch achtzig Städte und Orte rund um ihr Gebiet. Jahre vergingen. Niemand wagte den Beginn so umfangreicher kriegerischer Unternehmung. Jahre vergingen. Annallja blieb unverheiratet, wurde aber von Jahr zu Jahr schöner. Sie verlor jedoch allen Frohsinn. Sie wurde ständig schöner und trauriger. Und nach dem Beispiel der Fürstin verloren alle Horro, Djalli, Numu und Ulusu in Annalljas Land das Lachen.
In Faraka wohnte ein Fürst Gana, der hatte einen Sohn namens Samba Gana. Als der herangewachsen war, verließ er nach der Sitte des Landes mit zwei Dialli und zwei Supha die Stadt des Vaters, um sich ein eigenes Land zu erkämpfen. Samba Gana war jung. Sein Lehrer war der Dialli Tararafe, der ihn begleitete. Samba Gana war fröhlich, Samba Gana zog lachend von dannen. Samba Gana erklärte dem Fürsten einer Stadt den Krieg. (Forderte ihn zum Zweikampf heraus.) Sie fochten. Alle Leute der Stadt sahen zu. Samba Gana siegte. Der unterlegene Fürst bat um sein Leben und bot ihm seine Stadt an. Samba Gana lachte und sagte: Behalte deine Stadt. Deine Stadt ist mir nichts. Samba Gana zog weiter. Er bekämpfte einen Fürsten nach dem andern. Er gab stets alles Gewonnene zurück. Er sagte stets: Behalte deine Stadt. Deine Stadt ist mir nichts. Zuletzt hatte Samba Gana alle Fürsten in Faraka überwunden und besaß doch selbst keine Stadt und kein Land, da er immer alles zurückgab und stets lachend weiterzog.
Eines Tages lag er mit seinem Dialli am Niger. Der Dialli Tararafe sang von Annallja Tu-Bari; er sang von Annallja Tu-Baris Schönheit und Schwermut und Einsamkeit. Tararafe sang: Nur der wird Annallja gewinnen und sie lachen machen, der achtzig Städte erobern wird. Samba Gana hörte alles. Samba Gana sprang auf und rief: Auf, ihr Supha! sattelt die Pferde! wir reiten in Annallja Tu-Baris Land! Samba Gana brach mit seinen Dialli und Supha auf. Sie ritten Tag und Nacht. Sie ritten einen Tag nach dem andern. Sie kamen in Annallja Tu-Baris Stadt. Samba Gana sah Annallja Tu-Bari. Er sah, dass sie schön war und nicht lachte. Samba Gana sagte: Annallja Tu-Bari, zeige mir die achtzig Städte. Samba Gana brach auf. Er sagte zu Tararafe: Bleibe du bei Annallja Tu-Bari, singe ihr, vertreibe ihr die Zeit, mache sie lachen! Tararafe blieb in Annallja Tu-Baris Stadt. Er sang jeden Tag von den Helden Farakas, von den Städten Farakas, von der Schlange des Issa Beer, die eigenmächtig die Flut steigen lässt, so dass die Leute in einem Jahre Überfluss an Reis haben, in andern Jahren aber hungern. Annallja Tu-Bari hörte alles.
Samba Gana zog in der Runde umher. Er kämpfte mit einem Fürsten nach dem andern. Er unterwarf alle achtzig Fürsten. Er sagte zu jedem besiegten Fürsten: Gehe zu Annallja Tu-Bari und sage ihr, dass deine Stadt ihr gehört. Alle achtzig Fürsten und viele Horros kamen zu Annallja Tu-Bari und blieben in ihrer Stadt. Annallja Tu-Baris Stadt wuchs und wuchs. Annallja Tu-Bari beherrschte alle Fürsten und Horro des weiten Landes um ihre Stadt.
Samba Gana kehrte zu Annallja Tu-Bari zurück. Er sagte: Annallja Tu-Bari, nun ist alles, was du besitzen wolltest, dein! Annallja Tu-Bari sagte: Du hast die Arbeit verrichtet. Nun nimm mich. Samba Gana sagte: Weshalb lachst du nicht? Ich heirate dich erst, wenn du wieder lachst. Annallja Tu-Bari sagte: Früher konnte ich vor Schmerz über die Schande meines Vaters nicht lachen. Jetzt kann ich nicht lachen, weil ich hungrig bin. Samba Gana sagte: Wie kann ich deinen Hunger stillen? Annallja Tu-Bari sagte: Bezwinge die Schlange im Issa Beer, die in einem Jahr Überfluss, im andern aber Not beschert. Samba Gana sagte: Solches hat noch kein Mensch vermocht. Ich werde das Unternehmen beenden. Samba Gana zog fort.
Samba Gana zog nach Faraka und suchte die Schlange des Issa Beer. Er zog weiter und suchte. Er zog nach Koriume, fand sie nicht und zog stromauf weiter. Er kam nach Bamba, fand sie nicht und zog stromauf weiter. Dann traf Samba Gana die Schlange. Er kämpfte mit ihr. Bald siegte die Schlange, bald siegte Samba Gana. Der Djolliba (Nigerstrom) lief bald diesen, bald jenen Weg. Die Berge stürzten ein und die Erde öffnete sich in Spalten. Acht Jahre lang kämpfte Samba Gana mit der Schlange. Nach acht Jahren hatte er sie überwunden. Samba Gana hatte in dieser Zeit achthundert Lanzen zersplittert und achtzig Schwerter zerbrochen. Er hatte nur noch ein blutiges Schwert und eine blutige Lanze. Die blutige Lanze gab er Tararafe und sagte: Gehe zu Annallja Tu-Bari, gib ihr die Lanze, sage ihr, dass die Schlange überwunden ist, und sieh, ob Annallja Tu-Bari nun lacht. Tararafe kam zu Annallja Tu-Bari. Er sagte, was ihm aufgegeben war. Annallja Tu-Bari sagte: Kehre zu Samba Gana zurück und sage ihm, er solle die überwundene Schlange hierher bringen, damit sie als mein Sklave den Strom in mein Land leite. Wenn Annallja Tu-Bari Samba Gana mit der Schlange sehen wird, wird Annallja Tu-Bari lachen.
Tararafe kehrte mit der Botschaft nach Faraka zurück. Er richtete die Botschaft an Samba Gana aus, Samba Gana hörte die Worte Annallja Tu-Baris. Samba Gana sagte: Es war zu viel. Samba Gana nahm das blutige Schwert, stieß es sich in die Brust, lachte noch einmal und starb. Tararafe nahm das blutige Schwert, bestieg sein Pferd und ritt in die Stadt Annallja Tu-Baris, Er sagte zu Annallja Tu-Bari: Hier ist das Schwert Samba Ganas; an ihm ist das Blut der Djollibaschlange und das Samba Ganas. Samba Gana hat zum letztenmal gelacht. –
Annallja Tu-Bari rief alle Fürsten und Horro, die in ihrer Stadt versammelt waren, zusammen. Sie bestieg ihr Pferd; alle ihre Leute bestiegen Pferde. Annallja Tu-Bari ritt mit allen ihren Leuten ostwärts. Sie ritten, bis sie nach Faraka kamen. Annallja Tu-Bari kam zur Leiche Samba Ganas. Annallja Tu-Bari sagte: Dieser Held war größer als alle vor ihm. Baut ihm ein Grabmal, das das aller Könige und Helden überragt. Die Arbeit beginnt. Acht mal achthundert Menschen gruben die Schächte. Acht mal achthundert Menschen bauten das Haus (die unterirdische Leichenkammer). Acht mal achthundert Menschen bauten die Halle (der oberirdische Opferraum). Achthundert mal achthundert Menschen trugen Erde herbei und häuften sie über der Halle, schlugen sie und brannten sie. Der Berg (die tumulusartige Pyramide) stieg höher und höher.
Jeden Abend stieg Annallja Tu-Bari mit ihren Fürsten, Horro und Djalli auf die Spitze des Berges, Jeden Abend sangen die Djalli die Lieder von dem Helden. Jeden Abend sang Tararafe das Lied von Samba Gana. Jeden Morgen erhob sich Annallja Tu-Bari und sagte: Der Berg ist nicht hoch genug. Baut ihn, bis ich Wagana sehen kann. Acht mal achthundert Menschen trugen Erde herbei und häuften sie über den Berg, schlugen sie und brannten sie. Acht Jahre lang stieg der Berg höher und höher. Am Ende des achten Jahres ging die Sonne auf, Tararafe sah umher und rief: Annallja Tu-Bari, heute kann ich Wagana sehen. Annallja Tu-Bari sah nach Westen. Annallja Tu-Bari sagte: Ich sehe Wagana! Samba Ganas Grab ist so groß, wie es sein Name verdient.
Annallja Tu-Bari lachte.
Annallja Tu-Bari lachte und sagte: Nun geht ihr alle, ihr Fürsten und Ritter auseinander, verbreitet euch über die ganze Erde und werdet zu Helden gleich Samba Gana. Annallja Tu-Bari lachte noch einmal und starb. Sie ward neben Samba Gana in der Leichenkammer des Grabberges bestattet.
Die acht mal achthundert Fürsten und Horro zogen aber von dannen, jeder in einer Richtung, kämpften und wurden große Helden.

Diese Erzählung gab natürlich wieder Veranlassung zu Fragen über die Geschichte der Ganafamilien, über die Ausdehnung des alten Reiches und über die Verbreitung der Völker im allgemeinen. Unter den Zuhörern befand sich auch ein Scheich vom Maurenstamme der Trarza, die weit im Westen, im Gebiete nördlich des Senegal ihr Nomadenleben führen. Er kannte die Länder seiner Heimatregion gut und vermochte mancherlei wertvollen Aufschluss zu geben. Als fanatischer Moslim, der er war, vertrat er energisch die Ansicht vom südarabischen Ursprung der Gründer Ganas, wogegen der alte Diarra. der den Inhalt des Samba-Gana-Epos mitgeteilt hatte, unentwegt dabei blieb, dass die Gara-Gana schon ein altes Volk gewesen seien, ehe noch die Araber und der Islam in diese Länder vorgedrungen seien. Der Trarza wurde nach der Art dieser Leute aufgebracht. In seiner Erregung sprudelte er die Worte heraus: Die Araber und der Islam beherrschen die Erde bis an ihre Grenzen.

Ich fragte ihn, wo die Grenzen der Erde seien. Antwort: Wo der Himmel die Erde berührt. Der Diarra dazwischen: Der Himmel berührt nicht die Erde. Hieraus ergab es sich von selbst, beide aufzufordern, ihre Ansicht über das Weltgebäude, die Erde, den Himmel und die Gestirne auszusprechen. Folgende Vorstellungen traten nun zutage:

Nach der Ansicht des Trarzamauren ist die Erde eine Scheibe, über der der Himmel abschließend wie ein Gewölbe ruht. Im Innern des Gewölbes sind die Gestirne angebracht. Sie sind am Himmel befestigt. Sonne, Mond und Sterne wandern in diesem Gebäude (immer im Innern) hin und her. Das ganze Sternensystem läuft auf dieser Gewölbewand, wie eine Herde äsender Kamele. Ein Jenseits des Himmels gibt es nicht. Auch Allah wohnt innerhalb der Himmelskuppel. Würde das Gewölbe eines Tages einstürzen, so würden Allah selbst, alle Gestirne, alle Wesen und alles Leben der Erde von den niederprasselnden Himmelsmassen zertrümmert werden, die auch den letzten Engel unter ihrem Schutte zermalmen müssten. Ob so etwas je möglich sei, das wisse kein Mensch. Das sei eben Kismet.

In ganz anderem Sinne sprach sich der Diarra aus. Nach ihm ist die Erde ohne Grenzen, ohne Ende, wenn auch der Ausdruck unendlich fehlt. Man kann auf ihr wandern, bis man stirbt. Bald zu Fuß, bald zu Schiff. Man kommt in Länder, in denen Schlangen mit Flügeln, in andere, in denen sprechende Vögel, und wieder in andere, in denen redende Bäume so leben, wie bei uns die Menschen. Alles Merkwürdige ist jenseits der bekannten Erde, aber immer auf der Erde, und der Mensch, der lange genug wandert, kann sehr wohl in diese fremdartigen Gebiete gelangen. Der Himmel berührt nirgends die Erde. Der Himmel ist überhaupt nicht etwas Festes, sondern lediglich die Wirkung von Licht und Schatten. Die Gestirne werden in dem grenzenlosen Kaum über der Erde von Allah (?) hin- und herbewegt; auch soll es nach der Meinung mehrerer dort oben Leute, resp. Wesen geben, die in die Geschicke der Menschen bestimmend eingreifen. Diese Bestimmung geht aber nicht so weit, dass der Mensch nicht selbständig das erreichen könne, was er will und vermag. Hierfür seien die Taten der Gana der Vorzeit ein Beispiel: von denen seien diejenigen jämmerlich zugrunde gegangen, die feige und unfähig waren; die aber, die Mut, Herz und Lebenskraft hatten, zu Königen geworden. Wenn einmal ein besonders großer Gana geboren würde, so könne er mit seiner Kraft alle Araber und Europäer aus dem Lande weisen und dann würde die alte Herrlichkeit des Ganareiches wieder hergestellt werden.

Ich habe seitdem die Dimensionen des Vermögens zur Weltanschauung als Gemütsdimensionen und zwar die beiden, welche den stärksten Gegensatz des Lebensgefühls zum Ausdruck bringen, nämlich das der Weltweite und das der Welthöhle, als Weitengefühl und Höhlengefühl bezeichnet. Aus der Anschauung des Trarza spricht die Begrenzung des Weltblickes durch das Höhlengefühl, aus der des Diarra sehnendes Weltweitenbedürfnis. Enge des Bewusstseins, ständige Beklommenheit, Unfreiheit und deshalb Fatalismus, ununterbrochener Druck und unter solchem Druck sich von Zeit zu Zeit in der Form des Fanatismus entladende Explosionen bezeichnen das Höhlengefühl. Sehnsucht und Unendlichkeitsempfindung drängen nach aufbauenden Taten, überzeugender Schaffensdrang und selbstverständlicher Freiheitsjubel sind Ausdrucksformen der Weltweite. Beide Grundanschauungen sind nichts als Äußerungen der Seelenart. Beide leben nicht nur in Afrika, und zwar hier im Sahelgebiet dicht nebeneinander, auch in Europa haben wir neben den Franzosen die Engländer und Friesen. (Vortrag vom 25. Februar 1916.)

Über die allgemeine kulturelle Bedeutung von Weltweite und Welthöhle wird im 12. Kapitel weiter gesprochen werden. Hier sei nur noch das angeführt, was solche Darlegungen für das damals im Zenith des Interesses stehende Problem bedeuteten.

Ein Volk, dessen Seele die Dimensionen des Höhlengefühles besitzt, kann wohl ein Jahrtausend und auch mehr von einem andern beherrscht und während dieser Zeit über die Enge seines seelischen Daseins hinweggetäuscht werden; aber es kann in Wahrheit selbst niemals andere beherrschen, ohne sie zu zerstören. Zu gesunder Kastenbildung, zur Ausbildung eines sich dehnenden Kulturorganismus, zur Entwicklung der Arbeit, die ihren Lohn in sich selbst findet, zur Tat im Sinne des Aufbaues kann nur das Weitengefühl führen. Also kann das Mandevolk seinen herrlichen Organismus, seinen wundervollen Dehnungsdrang, seine kolonisatorische Fähigkeit nur den mystischen Gana, dem Volke aus dem Nordwesten verdanken; das semitische Volk aus dem Osten und jede arabische Einwanderung hätte mit seinem ausgesprochenen Höhlengefühl niemals in diesem Sinne solche, auf einem angeborenen, dem Menschen eingeborenen Seelenvermögen beruhende Fähigkeiten hervorbringen, erhalten und weiterentwickeln können. Denn was bedeuten Epen wie die von Samba Gana, von Goroba Dike, von Samba Kullung, von Gossi? (Siehe Der die Eigenschaften der eigenen Seele geleitete und geregelte schwarze Dekameron.) Der Grundton dieser Dichtungen zeigt immer wieder das, was wir im Alltagsleben als Seelengröße zu bezeichnen pflegen. Diese Menschen kennen keine Grenzen ihres Lebens im Sinne einer Einengung der Tat durch eine Weltanschauung. Wir sehen hier eine nur durch Spannkraft.

Diese Menschen haben, ohne sich dessen bewusst zu sein, die Schwelle des Begriffes der Unendlichkeit überschritten. Mir scheint, dass keines der anderen Epen das so deutlich zeigt, wie dieser Rest des Samba-Epos. Wie deutlich wächst hier mit der Erfüllung der einen Sehnsucht die größere Sehnsucht, das wachsende Weitenmaß. Es wächst, bis es den Untergang des Menschen erreicht, nicht aber den des Sehnsuchtgefühles, der Weltweite; denn als der Held selbst in überspannter Schaffenskraft erlegen ist, wirkt seine Herrlichkeit weiter im Werke der Fürstin, in dem Werke, von dem aus die Helden in die Welt gehen als Träger dieser seelischen Gewalt.

Acht mal achthundert Fürsten und Ritter zogen aber von dannen, jeder in einer anderen Richtung, kämpften und wurden große Helden.

Das ist der Typus der Kultur des Weitengefühles. Man gehe die sämtlichen Märchensammlungen des eigentlichen Orients durch, und man wird in diesen Schöpfungen nichts davon finden. Die Seelenspannung wird dort ersetzt durch das Geschick, das Kismet, das Wunder, den Zauber, die Sensation. Mit kostbarem Prunke schmückt dort der Mensch das Gewölbe der einengenden Höhle, um sich so über die Beklommenheit, den Druck, die ewige Angst hinwegzutäuschen.

Leo Frobenius
Paideuma · 1921
Umrisse einer Kultur- und Seelenlehre
© 1998- Schule des Rades
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