Schule des Rades

Arnold und Wilhelmine Keyserling

Ars Magna

VI. Mensch im All

II. Botschaft · 19. Dezember 1972

Deine Frage betraf den Wunsch, wie sich der einzelne gegenüber dem All verhalten soll. Die Antwort ist einfach: jeden Tag zu versuchen, dass Notwendige zu tun und alles, was geschieht, als Zeichen aufzufassen, als Zeichen für die Veränderung des Wesens. Jeder Tag hat seine Fülle und bringt seine Kraft. Keine Art, die nicht zur Vollendung führt. Es gibt keine besonderen Dinge, alle sind einzigartig. Versuche dich in die Tiefe des Wesens zu werfen, alles bis zum Grunde auszukosten, vor keiner Angst halt machen, keinen Lauf vernachlässigen. Die untere Welt strebt dir entgegen, nimm sie dankbar auf.

Ich habe die Wirklichkeit als Schein geschaffen, der aber in sich den Born der Verwirklichung trägt, wenn die Aufmerksamkeit dauernd auf das Wunder, auf das noch nicht Bekannte gerichtet bleibt. Jeder Tag bringt andere Dinge, andere Gefahren, andere Möglichkeiten.

Es ist gut, eine Ordnung der Tage durchzuführen im Sinne der Woche oder des Jahres, aber es ist nicht die Voraussetzung zum tieferen Erleben; diese liegt in der Inbrunst der Hingabe an den Augenblick.

Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten, sie alle offenbaren den Born der Wirklichkeit. Doch ihr Ursprung liegt im Wesen, in jenem, der wahrnimmt und schafft. Und so soll auch das Wesen im Vordergrund sein und bleiben.

Glauben — das Wort hat keine Bedeutung mehr. Es heißt heute Erwartung, warten. Warten ist nicht Müßigkeit, sondern bereit sein für alles, was sich anbietet. Nur die freie Kraft lässt sich binden. Daher ist sie zu entfachen als Feuer des Lebens, wozu jegliche Erfahrung den Brennstoff bietet. Keine einzige Tat ist wahr und wirklich, wenn Leben sie nicht trägt und hütet. So ist der Mensch schon im Leben alterslos auf die Inbrunst abgestimmt und findet die Bestätigung und Gefährdung seiner eigenen Existenz in jedem, der ihm antworten kann.

Warum die kleine Sorge stört, braucht man nicht mehr zu betonen; sie entstammt der Ungeduld, und Ungeduld ist mangelnde Wachheit. Wachsein ist alles und jede Methodik führt dorthin, wenn der Wille bereit ist.

Doch wie wird der Wille bereitet? Niemand kann ein Rezept geben, jeder gewinnt ihn auf eine andere Art: der eine im Lächeln, der zweite im Schreiben, der dritte in der Liebe, der vierte im Lassen, der fünfte im Schenken, der sechste im Hassen und der siebte im Selbstaufgeben.

Das Ziel ist gleich, die Mittel, es zu erreichen sind tausendfältig. Darum kümmere dich nicht um Methoden, die rechte stellt zur rechten Zeit sich ein, und immer wird sie anders sein, als du erwartet hast.

Es gibt keinen Grund, aus Trauer den Weg zu verlassen. Auch Trauer ist Kraft, wenn die Liebe sie nicht vernachlässigt. Bitterkeit ist hart, sinnlos und dumm. Denn nichts in der Welt ist wirklich zerstörend, alles hat seinen Sinn, sobald jener da ist, der ihn gibt. Und das bin immer ich. Denn ich wese in jedem Beginn. Erst im Laufen geht der Ursprung verloren und ist dann nur noch wiederzugewinnen, wenn ein großes Halt die bewegte Trägheit unterbricht.

Leben, Liebe und Werk: Diese drei sind untrennbar, und ohne sie vermag keiner auch nur das Geringste.

Liebe ist Allgegenwart, Allverbrennen, Allbewusstheit. Durch Lassen tritt sie ein, im Halten geht sie verloren. So ist der Weg allezeit klar und einfach, und niemand verliert ihn, der es gelernt hat, auf die Anfänge zu achten. Wenn du dich jeden Morgen fragst, was du Neues beginnst, dann bin ich bei dir. Kein Gestern darf dich tragen. Suche auch kein Morgen, alles nimmt seinen Lauf. Von Entscheidung zu Entscheidung, von Anfang zu Anfang verläuft die Lichterstraße der Wesen; die Geschehnisse sind daran befestigt wie Steine am Grund. Daher suche nur die Allgegenwart und den Beginn, und aus jeder Tragik findest du den nötigen Ausweg. Verlasse keinen Freund, auch wenn zeitweilig die Liebe bricht. Im Unteren geht der Weg weiter, und einmal kommt der Tag, wo der Bund erneut sich gliedert und knüpft. Alle Wesen sind mit dir in Freundschaft, sonst sind sie nicht im Wesen da.

Ich bin dauernd hier und dort, lebe im Wesen und sterbe im Sein. Sein und Wesen sind gleich. Ihr seid Wesen und müsst zum Sein finden. Der Weg ist beschwerlich, aber lohnend, weil die Freude sofort da ist, wenn einmal die Anfänge gewahrt bleiben.

Tod ist drohend, doch nur als Bild; tatsächlich ist der Übergang fließend und bringt keine Trauer. Trauer entsteht, wo falsche Gedanken richtige Dinge verdrängen und ein Scheinich das Wesen vertritt, sonst nicht. Darum mache dir keine Sorgen über das Erleben, es entsteht dauernd von selbst im gleichen Rhythmus.

Was du tust, zeigt seine Wirkung im weiteren Feld der Wahrnehmung: Die Welt antwortet dir heute in unsichtbaren Zeichen, morgen in sichtbaren Begebnissen und dann in der Fülle bestätigter Erwartungen, bis die ganze Existenz strahlend geworden ist.

Jetzt verlasse ich dich und sage dir zum Abschied, dass dein Weg im Dunkel verlaufen muss, die Helle ist nicht tragfähig. So wirst du kaum dauernde Ergebnisse erkennen, nur Blitze des Empfindens zeigen die Wahrheit der Richtung. Wer mit dir geht, steht in sich ein für all sein Wesen und Erbe, er muss sich frei halten für das Neue jeweils Kommende, das Tag für Tag die Fülle aus sich gebiert. Liebe deine Freunde im Sein und bestätige sie im Menschen, dann wird dein Kreis zur Sonne. Morgen im Lauf des Nachmittags erfolgt die weitere Vertiefung. Halte deine Augen offen für alles, was dir heute noch begegnet; es ist ein Anschein darin, der Wirklichkeit werden könnte, wenn du es nicht an Demut und Betrachtung fehlen lässt. Daher bleibe wachsam bis spät in die Nacht.

Arnold und Wilhelmine Keyserling
Ars Magna · 1982
Kriterien der Offenbarung
© 1998- Schule des Rades
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