Schule des Rades

Arnold Keyserling

Vom Eigensinn zum Lebenssinn

2. Klärung der Strategien

Jenseits der Ideologien

Jede grammatikalische Kategorie, die dem Satz übergeordnet wird, stört den Zusammenhang und den Sinn, der nur in der Gleichung liegt. Desgleichen stört jeder der Faktoren des Sinnes den Gesamtzusammenhang, wird zum Götzen. Diesen gilt es zu überwinden und in Strategien zu verwandeln, indem man sie durchschaut und dort einsetzt, wo sie dem eigenen Lebenssinn förderlich sind.

  1. Die Fähigkeit, Worte zu bilden, Ideen zusammenzufassen, führt ideologisch zum Bekenntnis, zu einer Ideenverbindung, die als solche vertreten wird und Nachfolge heischt. Das christliche Bekenntnis: Ich glaube an den Vater und den Sohn und den Heiligen Geist, schließt alles aus, was nicht darinnen enthalten ist. Wer Gott mit einem Bekenntnis identifiziert, verliert sich an eine Dichtung, an eine Rolle, von denen jeder Mensch gleich einem Schriftsteller unzählige in sich trägt. Auch die Vorstellung des einen Gottes gehört hierher. Die Inder haben den falschen Begriff der Einheit vermieden, indem sie Nicht-Zweiheit, Advaita, als Weg bezeichneten.
  2. Das Hauptwort trägt in sich die Fähigkeit zum Regreß: Ameise-Insekt-Lebewesen-Wesen usw. Es scheinen dem Regreß Grenzen gesetzt zu sein. Korzybski meinte, man könnte nicht sinnvoll über fünf Stufen hinausgehen. Im Dasein wird dies zur Zugehörigkeit und Abhängigkeit von einer Sache, einem Gesetz, einem Ichbild, das nachgeahmt wird. Hierzu gehört auch negativ die Heiligkeit des Besitzes, der einem Subjekt — Name und Begriff — zugeordnet wird.
  3. Das Zeitwort birgt die Fähigkeit der Entwicklung; ein Zustand, sein, kann in seinem Haben durch ein Werden verändert werden.

    Dialektische Menschen sind imstande, die anderen in ihre Richtung einzuspannen; die Frage nach dem Ziel, was dem entgegensieht, und wie man es überwinden kann, wodurch man in eine neue Ausgangslage kommt, birgt eine falsche Unendlichkeit; tatsächlich ist Entwicklung nur aus eigenem Ansatz möglich. Politische Parteien, aber auch prophetische Religionen können in dieser Weise mitreißend wirken und damit oft den Gesamtzusammenhang zerstören. Die Kreuzzugsidee, die Vorstellung, eine Methode könnte alles gut machen, entspringt ebenfalls diesem Impuls. Die Schulen gewisser Denkrichtungen, sie alle sind möglich. Leibniz erklärte, alle Philosophie seien richtig in dem, was sie behaupten und falsch in dem, was sie bekämpfen; doch diese Toleranz ist aus der dialektischen Sicht nicht zugänglich, weil das gegebene Sein die anderen Denkweisen überhaupt nicht in Betracht zieht, und durch die Tatsache seiner Bewegung sich oft stärker erweist als die statischen Impulse.

  4. Und doch haben auch diese eine Kraft: Das Verhältniswort bezieht alles auf einen Menschen, ein Land, eine Tradition zurück, und bildet einen seelischen Zusammenhang. Vor, hinter, über, unter, zu, mit, durch: all dies hat nur Sinn auf ein Subjekt hin. Aber wird dieses Subjekt zum Fetisch wie im zweiten das Ding oder der Besitz, dann haben wir die Herrschaft des Konservativismus, dass alles immer in der gleichen Ordnung sein sollte, weil es sonst keine Sicherheit gibt.
  5. Überhaupt ist dieses Streben nach vermeintlicher Sicherheit aus dem Denken heraus der Hauptgrund der Dämonisierung dieser Faktoren. Dies tritt noch mehr im wirtschaftlichen Denken, das dem Vergleich entspricht, hervor, weil hier wirklich der Reichtum Sicherheit zu gewähren scheint. Was wird nicht alles im Namen wirtschaftlicher Notwendigkeit verkündet. Tatsächlich dient der Impuls des Vergleichens der Arbeit und der Urteilskraft. Gerade heute werden wirtschaftliche Belange als die einzig maßgebenden gewertet, und wir leben in einer Periode, in der es wenig Aussichten zu geben scheint, hier zu einem echten allgemeinen Wohlstand zu gelangen, ob dieser nun als Vollbeschäftigung oder als Produktionswachstum dekretiert wird.
  6. Der sechste Impuls, die gesellschaftliche Anerkennung, ist etwas verschämt — aber was tun Menschen nicht alles, um eine Stellung zu haben, Prestige zu gewinnen, mit den richtigen Menschen zu verkehren. Die Sitten werden gewahrt, in manchen Ländern mehr, in manchen weniger; man macht sich unmöglich, wenn man ihnen nicht folgt, nicht vorgestellt ist, Menschen beleidigt. Vor allem im seelischen Gebiet ist dieser Impuls beinahe ein Moloch, wenn es etwa um Eheschließung zwischen Menschen verschiedener Herkunft geht. Es gehört schon eine starke Persönlichkeit dazu, sozialer Missachtung der Gesellschaft gewachsen zu sein; und Ausschluss aus der Gesellschaft, dass man zur Unperson wird, führte in den Stammeskulturen zum magischen Tod. Hier ist es wesentlich, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, sie zu bestätigen, und keine ausschließlichen Gruppierungen zu bilden, die sich als Alleinvertreter echter Menschlichkeit behaupten wollen und anderen die Zugehörigkeit absprechen. Dieser Impuls ist wohl der gefährlichste, den es gibt, weil eine bestehende Gesellschaft schwer aus den Angeln zu heben ist, und die sie dann in einer Revolution ersetzende neue selten besser ist, wie die Geschichte zeigt.
  7. Wird das Unrecht zu groß, so kommt der Kampf, der Krieg, der dem siebten Impuls entspricht: sich als Fürwort, mit Macht zu nehmen — besitzergreifend oder hinweisend, worauf man Recht und Besitz nicht hat.

    In Zeiten dieses Impulses gibt es eine Umkehrung aller Werte, aber auch in Friedenszeiten zeigt er Missstände auf und birgt die Gefahr, dass Menschen sich gefühlsmäßig mit kollektiven Zielen identifizieren. Tatsächlich wirken die Impulse als Instinkte im Menschen, und vielleicht haben Kriegszeiten von der Gattung her eine ähnliche Rolle wie die biologische Auslese bei den Tieren; doch mit dem Unterschied, dass die Instinktsteuerung beim Menschen nicht mehr im Zusammenhang des Alls, im ökologischen Gleichgewicht funktioniert und daher in unmäßiger Weise zerstörend wirkt.

  8. Dagegen wirkt der achte Impuls des Umstandswortes, von Recht und Ordnung, Verwaltung, Staatshoheit und dergleichen, der dafür sorgt, dass die Reihenfolge der Generationen durch Wahrung der Umstände reibungslos vonstatten geht, da immer etwa die Hälfte der Menschen, sei es als Kinder, sei es als Alte, von anderen versorgt werden müssen und jeder daher eine Verantwortung im Staat hat. Hier gilt es die Bedingungen genau zu kennen. Es gibt schlechtere und bessere Staatsverfassungen, und kein Grund besteht, nicht die bestmöglichen zu erreichen, wenn einmal dieser Impuls enttabuisiert ist.
  9. Der letzte Impuls des Planens, der Technik, der Zeitbindung, ist heute übermächtig: Die technische Zivilisation, von den Kommunikationsmitteln bis zur Maschine und den Computern, hat eine eigene menschliche Umwelt geschaffen, die immer mehr zum Zauberlehrling wird, wenn die Frage nach dem Sinn nicht in den Vordergrund tritt.

Durch Rückführung sämtlicher politischer und sozialer Anliegen auf die Urimpulse entrinnt der Mensch der Sklaverei, die durch ihre Vereinzelung entsteht. In der Sprache ist der Sinn nur im Satz, nicht im Bedeutungsträger; Autorität, Reichtum, Führung, Abhängigkeit anderer, Vermögen, soziale Stellung, Initiative, Macht und Ruhm: all das gibt weder persönlich noch kollektiv einen Sinn. Solange Menschen bei Nationalhymnen ernst und gemessen blicken, am 1. Mai treuherzig hinter Fahnen laufen und von der Würde des Vaterlandes oder ihrer Religion sprechen, wird die Kollektivität weiter von Instinkten gelenkt, die im Menschen nicht fördernd für das All, sondern nur zerstörend wirken können.

Durch Aufdeckung der den Kulturfaktoren zugrundeliegenden Impulse können diese überwunden werden, und der Mensch wird ihnen als einzelner gewachsen. Doch dies kann er nur dann sein, wenn er sie in sich selbst anjocht, was uns zum dritten Aspekt der Pädagogik führt.

Arnold Keyserling
Vom Eigensinn zum Lebenssinn · 1982
Neue Wege der ganzheitlichen Pädagogik
© 1998- Schule des Rades
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