Schule des Rades

Hermann Keyserling

Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit

Selbstverwirklichung

Rückbindung

Zuletzt aber führt diese Auseinandersetzung zu einem kritischen Punkt und jenseits dessen über alle Problematik des Schicksalsproblems, ja des Daseins im Rahmen des Weltalls, wie dieses alle kennen, hinaus: das ist der dritte Aspekt der Frage, welcher diese Betrachtung gewidmet ist, die ich noch zu behandeln versprach. Das kann aber nur ganz kurz, in ähnlichem Sinn und in ähnlicher Form geschehen, wie sie der Delphische Gott liebte, von welchem es hieß:

Er sagt nichts,
Er verschweigt auch nichts,
sondern Er deutet an.

Fast alle überlieferten Wege des Aufstiegs des Menschen über seinen gegebenen Zustand hinaus orientierten sich am Ursprung und waren insofern rückwärtsgerichtet (religio = Rückbindung). Den positiven Sinn dieses Sachverhalts verdeutlichten wir bereits. Aber die fragliche Einstellung hat auch ihr Negatives: sie gibt der Tradition gerade auf diesem Gebiete eine Übermacht, welche sie sonst verloren hat, und bestärkt damit die Trägheit, die Tamas im Menschen gerade dort, wo es letzte Befreiung gilt, in ihrem Drang nach einer Festlegung einfürallemal und alles beherrschender Routine. In diesem Zusammenhange darf man sogar sagen: je mehr der Mensch sonst dynamisch und vorwärtsgerichtet erscheint, desto mehr neigt er kompensatorisch dazu, als geistlich Strebender in irgendeiner Autorität Sicherung zu suchen. Daher vor allem das Neuausgraben uralter Weisheitslehren und der fanatische Glaube an deren Buchstaben, welche zumal die Theosophen kennzeichnen; eben daher die Konvergenz des erneuerten Christentums des Landes, welches aller Tradition grundsätzlich feindlich gegenübersteht, ich meine Nordamerika, mit primitivem Glauben an Fetische und magische Formeln. Nun ist aber so viel endgültig gewiss: je selbstverantwortlicher der Mensch wird, desto weniger frommt ihm Rückschau und Rückbindung im historischen Verstand, desto mehr muss er auf allen Ebenen erwerben, um zu besitzen. Fortan muss er nach Möglichkeit alle vorgefasste Meinung aufgeben und den Weg der größten indischen Weisen gehen, welche abrieten, irgendein Offenbartes zu glauben, bevor einer eine entsprechende persönliche Offenbarung erlebt hat. Dies war zuletzt der Kern der Botschaft Ramakrishnas und seines bedeutendsten Schülers Vivekananda. In der Tat: das, was die ursprüngliche Intention des Protestantismus war, die aber in seinem Falle allzufrüh in einem viel engeren Dogmenglauben erstarrte, als es derjenige der katholischen Kirche war, ist der Geist, in welchem allein die Vorhut der heutigen Menschheit weiter vorankommen kann. Nun ist aber ein Fortschreiten ohne jede Anleitung schwer. 1938 wurde ich nun auf das plötzlich überall erwachende Interesse für den Zen-Buddhismus aufmerksam, den ich bis dahin nur oberflächlich als eins der schwerst verständlichen religiösen Systeme kannte. Wie ich mich nun selber an Zen machte, an Hand von Daisetz Teitaro Suzukis wundervollen Essays in Zen Buddhism (in deutscher Sprache gibt es bisher nur zwei Übersetzungen von Suzuki-Büchern, und nicht von den bedeutendsten: Die große Befreiung, Kurt Weiler & Co. Verlag, Leipzig, und Zen und die Kultur Japans, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart), da begriff ich den Grund: Zen stellt den ersten Versuch dar, unabhängig von aller Tradition direkt dem Ziel der Selbstverwirklichung zuzustreben. Deswegen geht Zen wirklich jeden Heutigen unter Strebenden wie keine andere Lehre der Vergangenheit an.

Der Zen-Buddhismus bedeutete seinerzeit die Wiedergeburt der Seele des Mahayana-Buddhismus, welcher zuerst aus Indien in China eingeführt wurde, im chinesischen Geist. Dieser ist gar nicht theoretisierend, jeder Differenzierung feind; er ist einerseits praktisch und ethisch, andererseits auf das Schöne gerichtet im höchsten Grad; alles jedoch im Geiste einer letzte Kürze ermöglichenden synthetischen Zusammenschau, von welcher die chinesische Schrift als solche das einleuchtendste Beispiel gibt. So konnte China für die Dauer nur das Wesentlichste und Tiefste am Mahayana aufnehmen in Hinsicht auf dessen Ausdruck im konkreten Leben. Und daraus ergab sich der folgende Grund-Gedankengang, welchen ich leicht karikierend dem Sinne nach rekonstruiere. Das Wesentliche am Buddha ist, dass er erleuchtet war. Ward er erleuchtet, so müssten es auch andere werden können. Können sie es werden, dann ist das faktische Erleuchtet-Werden das einzige Ziel. Kann dieses Ziel erreicht werden, so muss dies auf ebenso direktem Weg gelingen, wie es dem Buddha gelang. Gelang es aber dem Buddha, dann bedarf es eigentlich nicht allein des Buddhismus, sondern auch des Buddha nicht.

Wie ungeheuer viel diese Lehre gerade mir bedeuten musste, ergibt sich daraus, dass von aller Leistung und Überlieferung diejenige des Zen dem, was ich anstrebe und vermittele, am nächsten verwandt ist. Letzteres sei in Form von Parallelsätzen zu denen, in welchen ich die Grundideen des Zen zusammenfasste, ebenso kurz gekennzeichnet. Ist Sinn das Tiefst-Wirkliche im Menschen, so muss er in seiner ganzen Tiefe erfasst und in diesem Leben verwirklicht werden können. Kann er erfasst und verwirklicht werden, dann muss dieser reale Vorgang unabhängig sein von der Richtigkeit jeder bestimmten Deutung. Kommt es also auf Interpretation nicht an, dann wird jede Akzentlegung und Festlegung auf bestimmte Vorstellung das Erreichen des Zieles erschweren oder hindern. Hindert Festlegung das Erreichen des Ziels, dann gilt es die Haltung schöpferischer Indifferenz zu erringen. Ist schöpferische Indifferenz die einzig geistgemäße Einstellung, weil sie allein das An sich des Geistes zu realisieren erlaubt, dann kommt es auf die Art der Betätigung überhaupt nicht an. Kommt es auf die Art der Betätigung nicht an, dann entscheidet allein das Sein, welches sich selbsttätig auswirkt. Wirkt das Sein sich selbsttätig aus, dann gilt es alles zu lassen, was dieses hindern könnte. Ist also alles Vorläufige und Äußerliche vom Innenmenschen gelassen, dann fließt in die damit geschaffene Leere die Fülle des Letzt-Wirklichen unaufhaltsam ein. Fließt es also unaufhaltsam ein, dann entsteht die dieser Weltenstunde gemäße Form der Erscheinung, sonach die Kairós-gerechte integrale Offenbarung, als unvermeidliche Folge.

Um sein Ziel zu erreichen, welches er Dass-heit hieß, das aber mit Buddhas Nirvana, dem brahmanischen Jenseits von Name und Form und Eckharts letzter Abgeschiedenheit zusammenfällt, ging der Zen-Meister von der methodischen Grundforderung aus, dass zunächst alle intellektualistischen und moralistischen Überbauten im Menschen zu durchstoßen sind und alles vorgefundene Gleichgewicht zu erschüttern sei. Eben das nun, nur eben in sonderlicher, seiner Art und Überlieferung entsprechender Form, kann dem heutigen Abendlande zum Heil werden. Dieses ist grundsätzlich so weit, alle Gestaltungen durchschauen zu können: darum kann ein Strebender unter uns seine letztmögliche Selbstverwirklichung nicht mehr erreichen, wenn er bei einer Form stehenbleibt und in dieser gar erstarrt, über welche er innerlich, wenn auch unbewusst, grundsätzlich bereits hinaus ist. Grundsätzlich frommt heute allein ein analog direkter Weg zum Geiste und von diesem her wiederum ein analog direkter Weg ins materielle Leben hinein, wie ihn seinerzeit der Zen-Buddhismus betrat und lehrte. Die Zeit, da irgendeine bestimmte Tradition als solche den neuwerdenden Menschen zu seinem Heile führen konnte, ist grundsätzlich um. Fortan gilt es, ohne Umwege den Geist in seiner Konkretheit ebenso unmittelbar zu erleben, wie wir Abendländer in den letzten Jahrhunderten die Materie konkret zu erleben gelernt haben. Nur in solchem neuen immediaten Konkretismus liegt das Heil. Der vorhergehende Abschnitt schloss mit einem Hinweis auf Kairós-gerechte integrale Offenbarung. Nach einer Zeit einseitigster Orientierung am Geist allein und später ebenso einseitiger Orientierung an der Materie kann nur mehr Selbstverwirklichung auf allen Ebenen auf einmal frommen. Das bedeutet praktisch zunächst, dass der Geist überhaupt nicht mehr vor der Materie fliehen und nach Entkörperung streben soll. Es bedeutet andererseits, dass die Materie nicht mehr als Materie allein erlebt werden darf. Eine neue psychochemische Synthese tut not, innerhalb welcher sich die bisherigen geistigen Probleme, Antinomien und Aporien erledigten. Und diese neue Synthese ist heute möglich; sie entspricht dem Endzustande der sich eben jetzt vollziehenden Mutation im Menschheitskörper.

Wie wird sie in concreto aussehen? Konkrete Gestaltungen sind niemals vorauszusehen. Immerhin gibt es schon Vorbilder des neuen höheren Zustandes, und diese sind in Tibet zu finden. Darum sei zum Abschluss der Andeutungen, welche allein ich an dieser Stelle geben wollte, das Sinnbild des großen Yogi Milarepa evoziert1.

Alle Mongolen zeichnet ein ursprünglicher Realismus aus, welcher dadurch bedingt ist, dass sie alle Geist und Erde ursprünglich zusammenschauen; dass ihre angeborene Mentalität nicht idealistisch ist, von keiner Spaltung zwischen Geist- und Erderleben ausgeht, sondern von Hause aus jenen Standpunkt der Mitte einnimmt, welchen die spezifisch chinesische Weltanschauung am eindrucksvollsten versinnbildlicht. Hieraus ergibt sich als konkrete Möglichkeit nun vielerlei, wovon ich mehrere Aspekte in anderen Zusammenhängen behandelt habe (zuletzt und besonders im Buch vom persönlichen Leben). Der bei Tibet entscheidende Aspekt ist der, dass der Unterschied zwischen Gut und Böse, zwischen schwarzer und weißer Magie, ja zwischen Erdzugekehrtheit und Heiligkeit als nicht annähernd so schroff erlebt wird, wie seitens anderer Geistes- und Seelenarten geschieht. Milarepa ist nicht allein der große Nationalheilige Tibets — er gehört sicher zu den wenigen ganz großen und in ihrem Da- und Sosein ganz sicher festgestellten Heiligen der Menschheit. Doch wie verlief sein äußeres Leben? Nicht allein blieb ihm keine Drangsal, keine Verkennung, keine Enttäuschung erspart — das war überall und immer so, denn je heller das Licht, desto mehr reizt es die Geister der Finsternis zum Angriff: er begann als wirklich böser Zauberer. Milarepa vernichtete nicht allein den Besitz der bösen Verwandten, die seine Familie ausgenutzt und ruiniert hatten, er verursachte der meisten Tod. Heilig wurde er aber später nicht auf Grund von Reue im christlichen Verstand, sondern ohne Rückblick, ohne wiedergutmachen zu wollen, aus der realistischen Erkenntnis heraus, dass jedes Haften den Weg zur Befreiung versperrt. Und wie Milarepa längst anerkanntermaßen ein Heiliger geworden war, da bekehrten sich seine Verwandten nicht etwa zu ihm, wie dies von denjenigen Jesu und Gautamas berichtet wird, sondern gerade sie fuhren fort, an ihm zu zweifeln und ihn zu verfolgen.

Was bedeutet das? Es bedeutet, dass Erdzugekehrtheit ipso facto ein Im-Zusammenhang-Bleiben mit den bösen Kräften der Erde bedingt. Wer da als Engel oder reiner Gott auf Erden, und eben darum irdisch machtlos, unter die Menschen tritt, mag bloß geliebt, bloß angebetet werden: er stört die Erdmächte nicht. Je mehr sich Geist jedoch der Erde selbst vermählt manifestiert, desto mehr muss sein Zauberisches in die Augen fallen, desto aufrührender muss er wirken, desto mehr, je tiefer er das Nicht-Geistige durchdringt, das Erdschwere als Gegenmacht polarisieren. Und dies zwar in sich sowohl als in denen, welche ihm begegnen. Von hier aus denn erklärt sich das gleichsam planetarisch Einleuchtende mongolischer Heilslehren gerade für diese Zeit. Schon der Christus-Mythos bedeutet letztlich Zuwendung des Geistes zur Erde. Schon Christus musste zur Hölle hinab, ehe er als vollendeter Sohn Gottes für immer seinen Sitz im Himmel einnahm. Unser Zeitalter nun steht im Zeichen eines großen Schritts weiter und tiefer im Prozess des Einbruchs des Geistes in das Erdenleben. Daher dessen so nie dagewesene Greuel, sein Dämonisches und Satanisches. Fortan liegt das Heil ohne Zweifel überhaupt nicht mehr in der Erdabkehr dem absolut Guten zu. Aber freilich erst recht nicht in Nietzsches Jenseits von Gut und Böse. Es liegt in dem Jenseits, welches dem Menschen und ihm allein bewusst und ihn bestimmend wird, der alles Irdische und alles Höllische durchlebte, so dass seine Seele aller nur möglichen Befruchtung durch Ungeist teilhaftig wird, dann jedoch nicht im Himmel thronend richtet, sondern als Bodhisattva, d. h. als der Übermensch, welcher allein dem intendierten Sinne seines Begriffes entspricht, unter Menschen und Tieren und Pflanzen fortwirkt.

1 Vgl. das wundersame Buch von W. Y. Evans-Wentz, Tibets Great Yogi Milarepa, deutsch vom Otto Wilhelm Barth-Verlag, München-Planegg, unter dem Titel Milarepa, Tibets großer Yogi veröffentlicht.
Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit · 1941
Selbstverwirklichung
© 1998- Schule des Rades
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