Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

16. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1929

Von der Überschatzung der Mütter · Mütterüberschätzung

Woher kommt es nun, dass in Deutschland heute beinahe ausschließlich das, was mit den Müttern zusammenhängt, für tief gilt? Nun, der Deutsche hatte immer ein Vorurteil zu ihren Gunsten. Dies erklärt sich aus der Irrealität seines Geists und dem mangelnden ursprünglichen Kontakt mit der Erdseite des Lebens — Problemen, die ich im Spektrum Europas ausführlich behandelt habe. Man überschätzt oder überbetont zumeist das, was man eigentlich nicht ist oder nicht kann. Der Engländer, der Russe, der Spanier, der Franzose, ja der Italiener — sie alle sind den Müttern viel näher als der Deutsche; eben deshalb spielen diese in deren Bewusstsein kaum eine Rolle. Hier hat auch der deutsche Hang zur Romantik seinen tiefsten Grund: in imaginärer Vergangenheit oder imaginierter Geisteswelt wird gesucht, was in der Wirklichkeit fehlt. Damit behaupte ich natürlich nicht, dass die jeweiligen Romantiker oder Pathiker oder Chthoniker nicht echt wären. Aber ihr Extremismus ist eine nationale Kompensationserscheinung. Sie sind in bezug auf die Volksseele das, wie Komplexe in bezug auf die Einzelseele.

Eben wegen dieses pathologischen Charakters fehlt ihnen die werbende Kraft, welche russische Naturnähe und spanisches Blutsbewusstsein, englische Instinkthaftigkeit, französischer Nationalismus und italienische Primitivität wie selbstverständlich ausstrahlen. Doch die heutige extreme Überschätzung der Mütter in Deutschland hat doch besondere Ursachen. Deren erste liegt im Weltkriegsschicksal begründet. Es bedeutet die natürliche innere Reaktion auf äußere Isolierung, dass die Ausschließlichkeit zum Wert erhoben wird. Deutschland ist allerseits unverstanden — ergo verkörpert sein Unverständliches den höchsten Wert. Ferner hatte sich gerade im Weltkrieg der übertragbare Geist, soweit er die Massen beherrschte, gegen Deutschland gewandt: also muss aller Wert im Blut liegen. Wie stark der psychologische Zwang dieses Motivs ist, illustriert am deutlichsten Spengler, dessen ursprüngliche Begabung rationalistisch ist. Endlich hat der erdbeherrschende Geist Deutschland nicht allein zeitweilig niedergeworfen, sondern er hat ihm seine Seele rauben wollen; da ist natürlich, dass alle Tiefe in dieser gesucht wird. Hiermit charakterisiere ich gewiss nicht die Psychologie der geistfeindlichen Schöpfer an sich, wohl aber erkläre ich ihre Popularität.

Aber bei der heutigen extremen Überschätzung der Mütter handelt es sich doch um mehr, als die Rückwirkung des Weltkriegsschicksals. Jede Fortschrittsbewegung ruft naturnotwendig entsprechende Reaktionen hervor, die sich so lange als Gegenbewegungen manifestieren, bis dass sie sich dem Zusammenhang, welcher das Ziel jener Bewegung darstellt, eingegliedert haben. Heute dämmert ein Zeitalter nie dagewesener Geistbestimmtheit. Da kann es nicht anders sein, als dass zunächst auch alle Gegenkräfte in unerhörtem Grade aufgestört erscheinen. Der Fall ist genau analog mit dem des Neu-Aufflackerns der Naturreligionen im Augenblick des historischen Sieges des Christentums. Und doch ist die heutige Situation eine völlig andere. Damals löste religio an den Geist die an die Natur ganz einfach ab, und das Ergebnis war eine noch größere Einseitigkeit, als sie die antike Welt vertreten hatte — der Christ musste viel mehr Wirklichkeit in sich verleugnen, als der Heide. Heute erfolgt nun nicht etwa ein Rückfall ins Heidentum, sondern von der höheren Geistes- d. h. der höheren Sinneserfassungsstufe, die jetzt erreichbar ist, wird es möglich, eine Integration zu vollziehen, die dem Geiste gibt, was des Geistes ist, und dem Blute und der Seele, was diesen gebührt. Doch das Zentrum, von dem her dieses möglich ist, ist nicht etwa die Seele, sondern der tieferrealisierte Geist. Und das Ziel liegt nicht etwa in wiedererweckten Vergangenheitszuständen, sondern in einem nie dagewesenen Zukunftszustand höherer Durchgeistigtheit.

Von hier aus gelingt es denn auch, zur krassesten Mütterüberschätzung eine positive Ansicht zu gewinnen. Höhere Einheiten entstehen jedesmal auf dem Wege der Interferenz partieller Überkompensationen. Eine solche Überkompensation ist die moderne Über-Intellektualisierung; eine andere die Überbetonung der Seele oder des Lebens im Gegensatz zum Geist. Diese Übertreibungen haben nicht allein den Vorzug des sich ad-absurdum-Führens: sie arbeiten auch das Wirkliche und Wahre, das in ihr Bereich fällt, mit letzter Schärfe heraus. So besteht kein Zweifel für mich, dass gerade dank der Übertreibung des heutigen Mütter-Kults, das Irrationale, das Irdische, das Bluts- und Seelenhafte bald seine richtige Einordnung im Geisteskosmos finden wird.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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