Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

28. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1939

Realisierung und kritische Philosophie · Prozess der Realisierung

Am Schluss der Prolegomena zur Naturphilosophie, des qualitativ besten Ausdrucks meiner kritischen Periode — so fragwürdig dessen absoluter Wert auch sei — suchte ich zu zeigen, inwiefern Kritik niemals zu Metaphysik werden und nicht einmal ihr zuführen könne. Echte Metaphysik sei nie das Ergebnis von Betrachtung über etwas, sondern unmittelbares Leben in Form des Wissens. Mein Weg hat mich von außen her dem Innern zugeführt, damit von der Betrachtung des Lebens zum Leben selbst, und insofern behält die Formulierung der Prolegomena als Etappe ihre Berechtigung. Blicke ich nun aber heute zurück, dann interessiert mich vor allem, warum ich als kritischer Philosoph nie leisten konnte, was ich zu leisten hoffte. Und indem ich eine kurze Abgrenzung dessen, was kritische Philosophie leisten kann, von dem, was ich anstrebe; versuche, hoffe ich vielen Europäern auf ihrem eigenen Weg zum Ziel voranzuhelfen. Denn letztlich schwimmen wir Westländer alle, wie es der englische Volksmund ausdrückt, im gleichen Boot.

Die Phase des eigentlichen Selbst-Ausdrucks, die mit der Weltreise und dem Reisetagebuch begann, setzte vollkommen plötzlich und für mich unmerklich ein. Noch im Frühjahr 1911 hatte ich als Kritiker auf dem Philosophenkongreß in Bologna gesprochen, noch im Sommer des Jahres die kritische Studie Das Wesen der Intuition und ihre Rolle in der Philosophie geschrieben — da wurde mir urplötzlich, und doch ohne dass ich dabei die geringste Überraschung empfunden hätte, klar, dass ich eine andere Richtung einschlagen müsste. Und noch bevor ich- aus Rayküll ausgereist war, schrieb ich die ersten — und skizzierte ich manche späteren — für meine neue Bewusstseinslage typischen Abschnitte des Reisetagebuchs. Was war da bei mir objektiv vorgefallen — denn subjektiv spürte ich, wie gesagt, von dieser entscheidenden Wendung nichts? — Vom Betrachter und Beurteiler von außen her hatte ich mich zum den Geist direkt Lebenden umgestellt. Damit begann für mich die sonst gültige Grenze von Subjekt und Objekt zu schwinden. Ich wurde von Jahr zu Jahr weltoffener sowohl nach außen wie nach innen zu; der grenzenschaffende und -fordernde Kritiker starb ab in mir, es zersetzte sich die geistig-seelische Organisation, welche Wissenschaft möglich macht, und mein Geistesleben wurde fortan immer entschiedener und eindeutiger zum Wechselspiel von Sinneserfassung und Sinnesverwirklichung. Damit hörte jedes Ernstnehmen von Gestaltungen, insbesondere der Gestaltungen genannt wissenschaftliche Begriffe auf, und es galt für mich nur mehr das Korrelationsgesetz von Sinn und Ausdruck. Alles in allem war mein Leben und Erleben damit rein sinnbildlich geworden. Tatsachen als solche interessierten mich seither nicht mehr.

Für den Erkenntnis-Aspekt solchen Lebens und Erlebens, in dem ich 1910 Sinn und Wesen von Metaphysik überhaupt erblickte, gibt es kein deutsches Wort, das unwillkürliches Richtig-Verstehen evozierte. Denn um Erleben im üblichen deutschen Verstande handelt es sich nicht, auch nicht um Einsicht und um Inne-Werden. Nur das englische Wort Realisieren führt als Bezeichnung nicht von vornherein irre, dieses aber darum nicht, weil das englische Wort seine unter geistigen Menschen heute gültige Bedeutungsnuance aus dem Kontakt mit Indien gewonnen hat, welche glückliche Beeinflussung und Transsubstantiation dadurch möglich geworden ist, dass auch der Engländer ursprünglich, nur meist auf niederer, praktisch-politischer oder primitivreligiöser Ebene, sein Geistwesen in Form der Polarität Sinneserfassung — Sinnesverwirklichung auslebt, wodurch, um kantisch zu reden, die transzendentale Form zum Verständnis von Höherem geschaffen war. Was bedeutet nun Realisieren? Es bedeutet einen organischen Wachstums- und zuletzt Erfüllungsprozess. Seinen irdischen Höchstausdruck umschreibt leidlich genau der besondere Begriff der Vollendung, welchen das Reisetagebuch geprägt hat. Doch auf den irdischen Höchstausdruck kommt es hier nur insofern an, als sich auf Erden Sinn nur dadurch verwirklicht, dass er sich ausdrückt, weswegen das Streben nach Ausdruck im allerweitesten Verstand der eine Weg der Sinnesverwirklichung ist. Letztlich aber kommt es beim Realisieren auf Vollendung gar nicht an, wie immer man sie verstehe, weil jeder wirklich realisierte Sinn eben damit zum Sinnbilde tieferen Sinnes wird und so fort bis zur Unendlichkeit. Letztlich kommt es, empirisch gesprochen, auf ungehemmte Bewegtheit von innen her und nach innen zu an, somit auf ein Einverleiben der Welt einerseits, ein Einbilden in die Welt andererseits und wiederum andererseits — es gibt in diesem Zusammenhang noch viele viele Andererseits, auf die ich hier jedoch nicht eingehen will, da sie jeder Erfassung durch bekannte Begriffe entrinnen — ein Zurücknehmen aller Gestaltung in ihren ungestalteten Ursprung und Urgrund. Im Reisetagebuch schrieb ich: Der Metaphysiker antizipiert im Sinn alle mögliche Gestaltung und Schöpfung. Damals war mir nur ein Aspekt dieses Prozesses deutlich geworden, da ich dazumal der Hauptsache nach außer mir lebte. Letztlich handelt es sich hier gerade nicht um Antizipation, sondern um reale Rückkehr zum Ursprung, welcher Ursprung (vgl. den ersten Aufsatz von Heft 27 dieser Mitteilungen) zugleich das Ziel ist.

Der Prozess der Realisierung bedeutet damit letztlich etwas gänzlich Unphilosophisches: einen nie aufhörenden Prozess der Mutation und Transsubstantiation. Um einen nie aufhörenden, mit nichten jedoch stetigen Prozess: auch hier gilt das Schema der Quantentheorie. Der Zen-Begriff von Satori, der plötzlichen, den Begnadeten allemal überraschenden Erleuchtung, dank der auf einmal alles anders wird, gibt für die verschiedenen Etappen der Wandlung das wenigst falsche allgemeine Schema ab. Die beste Analogie zum gemeinten Geschehen bietet der Vergleich von Raupe, Puppe und Schmetterling in ihrem respektiven möglichen Selbstgefühl. Objektiv mag bei der Metamorphose alles und jedes graduell zustande kommen — das für das Bewusstsein Wesentliche jedoch ist das qualitativ völlig Verschiedene der verschiedenen Zustände, zwischen denen darum kein Übergang statthat. Und das Realisieren im Bewusstsein hat es ausschließlich mit der Subjekt-Seite des Prozesses zu tun.

Realisieren ist also ein wesentlich Praktisches und Untheoretisches. Nichtsdestoweniger unterschreibe ich heute noch im wesentlichen alles, was ich mit neunundzwanzig Jahren in den Prolegomena erstmalig aussprach: Metaphysik ist Leben in Form des Wissens; sie verwirklicht sich, indem sie sich ausdrückt. Der Fortschritt der Metaphysik besteht insofern in immer größerer Verwirklichung des geistig Tiefsten und zugleich Substantiellsten im Leben, das ich seither Sinn geheißen habe. Metaphysik ist andererseits unzweifelhaft Ausdruck des Erkenntnistriebes und ihr Ziel ist das Objektivieren des Realisierten in übertragbarer Begriffssprache: wie stimmt das mit dem vorher Behaupteten zusammen? Das Tor zum Verständnis öffnet die indische Lehre, dass Erkenntnis Erlösung sei. Dieser Satz klingt den meisten europäischen und wohl auch indischen Ohren spezifisch religiös gefärbt. Sein wirklicher Sinn aber liegt tiefer als die Religion, als welche in der Form, die für die meisten galt und gilt, eine Sondergestaltung eines Höheren Etwas darstellt, das sich auch anders ausdrücken kann. Für die Inder ist das, wovon der Mensch erlöst sein möchte, das Nicht-Wissen. Diese Auffassung trifft grundsätzlich zu. Den Urtatbestand von Bewusstsein überhaupt formuliert am richtigsten der Drieschsche Satz: ich habe bewusst etwas. Was das Bewusstsein also hat, sind in erster Linie Vorstellungen. Was das Nicht-Geistige im Menschen noch so direkt affiziert, also, um die Begriffssprache der Meditationen zu verwenden, seine Mineralität, Reptilität, sein Kalt- und Warmblut, seine Delicadeza und seine emotionale Ordnung, wird zum persönlichen Erlebnis erst, wo sich Vorstellung ans Affiziertsein heftet. Solche Vorstellung entstammt nun normalerweise dem empirischen Ich, oder vielmehr dem Teil und Aspekt seiner, welchen der Engländer mind heißt, für welchen umfassenden Begriff die deutsche Entsprechung fehlt. Und sie kann genau so gut falsch wie richtig sein; falsch wie richtig einerseits in bezug auf das Innerst-Wirkliche im Menschen, andererseits in bezug auf die ihn affizierende Außenwelt. Ist die Vorstellung falsch, so rächt sich das irgendeinmal: Selbstverwirklichung erweist sich als unmöglich, sei es im Sinn vollendeten Ausdrucks des Innersten, sei es im Sinn geglückten Selbstbehauptens in der Welt. In bezug auf die Außenwelt leuchtet diese Darstellung des Sachverhalts so unmittelbar ein, dass es keiner weiteren Erläuterung bedarf: das wissenschaftliche Weltbild triumphiert über alle vorwissenschaftlichen eben darum, weil jenes richtigere Vorstellung verkörpert. Und hier können wir gleich den Verbindungsstrich zur indischen Heilslehre ziehen: indem Wissen das Nicht-Wissen überwindet, wird der Mensch von der Beherrschtheit durch die Natur erlöst. Der Erlösungsbegriff der Religion hat nun genau den gleichen prinzipiellen Inhalt. Insofern der Mensch sein tiefst-Innerstes nicht erkennt, überschichtet falsche Vorstellung mögliche richtige und damit kann sich sein Tiefstes und Wesentlichstes nicht ausleben. Hier also bedeutet Erkenntnis Erlösung in jedem nur möglichen Verstand, vom nur-theoretischen bis zum nur-praktischen, vom gnoseologischen wie vom ontologischen, vom rein-wissenschaftlichen bis zum rein-religiösen.

Wie nun aber kommt solche Erkenntnis nach innen zustande? — Hier führt der Weg des Realisierens und damit möglicher Metaphysik und Religion in völlig anderer Richtung als derjenige der wissenschaftlichen und philosophischen Kritik. Betrachtung von außen her, als welche auch die tiefstschürfende Introspektion bedeutet, nutzt hier überhaupt nichts, denn das normale reflektierende Bewusstsein führt über seine eigene Ebene nie hinaus. Jede Introspektion im üblichen Verstande schadet sogar zumeist, indem sie Blitze aus der Tiefe an der Oberfläche auffängt, in bekannte oberflächliche Zusammenhänge einordnet und das Bewusstsein damit unfähig macht, das an Offenbarung zu haben (man erinnere sich der Urformel für Bewusstsein ich habe bewusst etwas), was es sonst haben könnte. Und ebenso nützt Experimentieren der Art, für welches die Assoziationsexperimente der Tiefenpsychologie das beste Sinnbild abgeben, nichts. Denn das Unbewusste, das dergestalt heraufgeholt wird, gehört gleichfalls dem empirischen Ich und damit nicht dem an, dessen Realisierung der Drang nach Selbstverwirklichung in jedem unwillkürlich fordert. Analyse erlöst nie, sie löst nur gelegentlich und nicht immer zum Vorteil des Betroffenen. Indem sie aber das Unbewusste, das immer auch Bilder, die aus größerer Tiefe stammen, enthält, an die Oberfläche zieht und es für die Oberfläche geltenden Zusammenhängen einfügt, verhindert sie mehr noch als die übliche Introspektion die Selbstverwirklichung. Immer mehr analysierte Menschen behaupten, dass Analyse zerstörend, ja, im Höchstfalle teuflisch wirke: das liegt eben an der Überschichtung möglichen metaphysischen Erlebens durch Kenntnis und durch Betonung des niederen Unbewussten, das zum großen Teile unterweltlich ist. Die Unterwelt spielt aber nur dann die ihr gemäße Rolle im Organismus, wenn sie unten bleibt.

Welcher ist nun der Weg des Realisierens? Kein anderer als der, den alle höheren Religionen so oder anders, mehr oder weniger glücklich, mehr oder weniger nah ans Ziel heran gewiesen haben. Zunächst negativ umschrieben, besteht er im Verzichten auf Introspektion, Verzichten auf Betrachtung und Erklärung von außen her und damit auf wissenschaftliche Behandlung, im Verzichten auf Nachdenken, Verzichten auf Hingabe an das natürliche Gefälle unwillkürlicher, durch äußere Reize ausgelöster Vorstellungsfolgen. Dieses Verzichten, welches Wort hier genau die gleiche Grundbedeutung hat wie das buddhistische Lassen, das christliche sacrificium intellectus, das taoistische sich leermachen, legt die Tiefen des Geistes von der Überschichtung durch Oberflächengestaltungen frei und verschiebt das Bewusstseinszentrum nach innen zu. Solche Freilegung ist darum grundsätzlich immer möglich, weil alle normalen Vorstellungen im mind ihren Ursprung, also am empirischen Ich ihre letzte Instanz haben, welches Ich darum grundsätzlich immer und jederzeit, praktisch bei genügender Übung auf die Dauer sicher, aus der Welt schaffen oder am Entstehen verhindern kann, was immer es selbst erfindet oder erfinden könnte. Die Möglichkeit, der Akzentverschiebung aber ist das Urphänomen des Freien im Menschen. Nun könnte es sein, dass es jenseits des mind kein Wirkliches gibt: doch die Erfahrungen aller tieferen Menschen aller Zeiten und deren ungeheure Wirkung beweisen, dass solches Wirkliche existiert, ja dass hier das eigentliche Wesen des Menschen lebt und dass Selbstverwirklichung und damit wahres Menschen-Leben erst beginnt, wenn alles bewusste Streben der Realisierung dieses höheren Wirklichen dient. Dieses Wirkliche wird nun desto mehr zum unmittelbaren Haben des Bewusstseins, je mehr sich der mind entleert. Daher denn — hier komme ich zum positiven Aspekt des Wegs des Realisierens — die zwei von alters her bekannten Methoden der Meditation einerseits und des Sich-Aussetzens aller Erfahrung andererseits, des metaphysischen Abenteurertums. Der Sinn alles Meditierens liegt in der Herstellung vollkommener Offenheit nach innen zu, also christlich ausgedrückt der Gott-Offenheit von der geistlichen Armut her. Der Sinn metaphysischen Abenteurertums hingegen liegt im Sich-Stellen jedem Lebensanspruch, also in der Haltung vollkommener Offenheit nach außen, zur Welt zu. Die Tiefe des Menschen wird desto mehr angesprochen und angerührt, evoziert und vitalisiert, je größeren Widerständen gegenüber er sein Gleichgewicht zu behaupten hat. Der wahre Satz wo die Not am größten, ist Gottes Hilfe am nächsten besagt nichts anderes, als dass das Tiefste oberflächliche Schichten durchbrechen muss, um in Erscheinung zu treten, zu welchem Durchbruch es ohne Notgefühl, ja ohne vollständige Verzweiflung sehr selten kommt. Das ganze Gana-Wesen, ja selbst die der Delicadeza und der emotionalen Ordnung entsprechenden Schichten widerstreben natürlich mit allen Kräften dem Durchbruch einer neuen Macht, die ihr bisheriges Leben gefährdet.

Wie bricht nun das Tiefe in das Bewusstsein ein? Wollte man die Frage kausal beantworten, was natürlich nicht angeht, so wäre die antik-mittelalterliche Deutung des Geschehens auf Grund eines horror vacui die wenigst irreführende. Faktisch liegen die Dinge so, dass das Wesen des Menschen, das metaphysisch ist, die ursprüngliche Tendenz hat, sich auszudrücken und damit zu verwirklichen, dazu aber solange nicht in der Lage ist, als eines Menschen Bewusstseinszentrum nicht in seinem Wesen liegt oder solange das Hauptstreben nicht dahin geht, den Akzent dorthin zu verschieben. Das Sich-Ausdrücken des Wesens bedeutet somit ein Hineinwachsen desselben in den vorher bestehenden Organismus, was organische Verwandlung dieses nach sich zieht, die im Höchstfall so weit geht wie bei der sich zum Schmetterling metamorphosierenden Raupe: alle alten Organe werden eingeschmolzen, neue entstehen, und das organische Ganze bezieht sich auf ein neues Subjekt. Erfolgt diese Wandlung in der Sphäre des verstehenden Geists allein, dann äußert sich dies in weltanschaulichem Wandel oder auf dem Von-innen-heraus-Wirken spontaner Eingebungen, die ebenso selbstverständlich als Wahrheiten erlebt werden wie äußere Erfahrungen eines gesunden Menschen als Richtigkeiten. Aber Erlösung bringen solche Eingebungen nur mittelbar: insofern sie anderen (darunter auch dem, welchen sie betrafen!) so tief und stark ein-leuchten, dass ein Prozess des Anderswerdens, sonach der Veränderung aller Schichten des Menschenwesens, vom zunächst bloß Eingesehenen oder Geglaubten ausgelöst wird. Hier liegt die Bedeutung aller in Worten und Lehren festgelegten Religionen. Offenbar nun aber ist vollkommene Realisierung dann erst erreicht, wenn das Wort buchstäblich Fleisch wird; wenn sich also das metaphysisch-Wirkliche in allen Schichten des Menschen und durch sie alle hindurch ausdrückt, so wie sich die Inspiration des Dichters in den an sich sinnlosen und in ihrer äußeren Erscheinung ganz anderen Gesetzen unterworfenen Lauten und Buchstaben vollkommen materialisiert.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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