Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

VII. Gana

Monotonie und Passivität

Die Gana ist blind. Sie lebt sich in diskontinuierlichen ausschließlichen Gebilden aus. Ihre Betätigungsart ist gleichmäßig und routiniert, wie bei allen nicht geistbestimmten Lebensäußerungen. Trotzdem ist sie vollkommen unzuverlässig, vom Geiste her gesehen. Das liegt am Melodiehaften jedes organischen Prozesses, deren jeder insofern, vom Advokaten-Standpunkt beurteilt, im Gegensatz zu Treue und Glauben verläuft, als er nur das erfüllt, was in seinem endlichen Sinne liegt. Ferner liegt es an ihrer Abhängigkeit von äußeren Einflüssen, auch auf mineralische Basen ist kein Verlass, insofern sie durch Säuren verwandelt werden, und doch folgen sie dabei nie übertretenem Gesetz. So staunen Psychoanalytiker immer erneut über das Voraussehbare und gleichmäßig Ablaufende der Reaktionen des Unbewussten auf die gleichen Reize. So gibt es schier unfehlbare Techniker der Verführung. Jetzt aber müssen wir eine weitere Grundeigenschaft Gana-bestimmten Lebens betrachten. Sein Wesen ist Inertie. Es ist initiativelos, passiv oder nachgebend, re-agierend, nie selbständig agierend. Hier wüßte ich keine bessere Veranschaulichung, als die des Jungen aus Córdoba der einfach für noch so viel Geld ein weniges nicht leisten konnte, porqué no le daba la gana. Auf dieser Gana-Bestimmtheit beruht die berüchtigte Passivität der Südamerikaner. Carlos Octavio Bunge hat auf diese hin die pereza, die Faulheit, zur Nationaleigenschaft proklamiert.1 Aber richtig faul sind die Südamerikaner nicht. Keiner leistet Ungeheureres, wenn es darauf ankommt, wie der Gaucho. Tage und Nächte hindurch, unter äußersten Strapazen, bei Lebensgefahr, ohne zu rasten, sucht und treibt er sein sturmversprengtes Vieh zusammen. Keiner ist arbeitsamer im Rahmen gewohnter Tätigkeit, als der Höhenindianer. Tut der Tropenbewohner wenig, so beruht das auf klimatischer Notwendigkeit sowie darauf, dass es in den Tropen bei klimagerechten Ansprüchen nicht nötig ist, viel zu leisten. Im übrigen lebt in Südamerika die antike Tradition fort, dass otium cum dignitate ein Höheres sei als Schuften. Natürlich gibt es eben dank ihr mehr reine Faulenzer unter den Wohlhabenden, als andernorts. Nichtsdestoweniger kann von Faulheit als Nationaleigentümlichkeit keine Rede sein.

Wohl aber ist der Südamerikaner passiv. Er erleidet sein Leben. Er kennt überhaupt nur diese Art von Leben. Es ist ein beständiges Nachgeben gegenüber dem, was ihn von innen her drängt, während er sich von außen her wenig beeinflussen lässt. Es ist die gleiche Lebens-Art, wie die der umworbenen Frau, die sich solange sträubt, als sie nicht nachgeben muss, dann aber mit Begeisterung der inneren Regung Folge leistet. Es ist ein Leben der vollkommenen self-indulgence, der Undiszipliniertheit, des Mangels jeder Initiative, jeder Voraussicht und deshalb auch jeder Konsequenz. Alles südamerikanische Tun ist Folge des Nachgebens gegenüber innerem Drang. Insofern ist dort auch Vorstoß eigentlich Rückzug. Der Sinn letzteren Sachverhaltes sprang mir zuerst in die Augen, als ein als klug bekannter Argentinier mir sagte: Wir sind eine imperialistische Nation. Auf meine Frage, ob sie denn ganz Südamerika zu erobern gedächten, erwiderte er überrascht: O nein, aber wir haben uns z. B. aus dem Völkerbund zurückgezogen. Rückzug als Äußerung der Initiative… Freilich ist das ihr frühester Ausdruck. Lange vor dem ersten Ja gab es schon viele Neins. Der meiste historische Wandel verdankt seinen Ursprung bloßem Nein-Sagen gegenüber dem Bestehenden, denn zum Ja neuem Positiven gegenüber fehlt die Einbildungskraft; in positivem Verstande Neues ergibt sich da glücklichenfalls mechanisch daraus, dass das Unbewusste vom Zeitgeist beeinflusst ist und sich in Korrelation zu diesem verwandelt. Vor allem Nein aber gab es das undurchdringliche Schweigen. Auf nicht genehme Äußerungen oder Ansinnen erwidert der Südamerikaner gern. Auf dieses antworte ich nicht. Und setzt sein Wille ein, so äußert er sich typischerweise gemäß der Art des sich zusammenrollenden Gürteltiers. Ich weiß von einer Frau, die es fertigbrachte, mit dem Manne, den sie nicht liebte, zehn Jahre zusammenzuleben, ohne auch nur ein Mal das Wort an ihn zu richten. Die Initiative zur Trennung brachte sie nicht auf, wohl aber zur äußersten passiven Härte. Diese Herrschaft der Gana ist denn die Ursache der ungeheuren, wie schwebenden Monotonie der psychischen Atmosphäre Südamerikas. Der Verlauf des ganz von der Gana bestimmten, von keinem geistigen Impulse wieder und wieder aus dem Ur-Geleise gebrachten und umgerichteten Lebens muss eintönig sein. Es ist gleichsam eine Epopöe ohne Begebenheiten. In Argentinien tritt dies mit einer gewissen Großartigkeit in die Erscheinung, weil dort die abwechslungslose Unermeßlichkeit der Pampa und die Ufer- und Mündungslosigkeit des sein sandbeschwertes Wasser zäh fortwälzenden Rio de la Plata dem Seelenzustand entsprechen. Nie sah ich Frauen von gleicher innerer Schwerfälligkeit und Schwere, von gleicher Gebundenheit an alles, was zu ihnen gehörte, was dank dem Gegensatz zur äußeren Lebhaftigkeit beinahe unheimlich wirkte. Diese Monotonie unterbrechen gleich Quellen entspringende neue Gana-Melodien. Aber diese bewirken nie wirkliche Veränderung, denn alles Neuhinzukommende mündet bald in den alten, breiten, in die Erde tief eingegrabenen Strom. Es unterbrechen die Monotonie andererseits jäh und jäh Explosionen gestauter Energie; bald sind es Revolutionen, bald Enthusiasmen. Doch da es sich hier um wesentlich blinde Explosionen handelt, wird nie Fortschritt erzielt. Speziell bei der Anschauung der Enthusiasmen kam mir jedesmal das Bild des Lassos, welcher ausgeworfen, wenn er sein Ziel verfehlt, also bald platt auf die Erde zurückfällt.

So sieht eine Welt bestimmender Gana aus, gegenüber einer Welt bestimmenden Geists. So ist das ursprüngliche Leben. Es ist nicht seelenhaft, nicht Gott-trunken, sondern blind und stumm. Es ist ein blindes Nebeneinander-Verlaufen ausschließlicher geschlossener Lebensmelodien, welche anklingen, wenn der Augenblick kommt, geboren zu werden, und unvermittelt, kinder- und treulos abklingen, wenn sie ausgespielt sind. Die Resultante aber ist ein breiter, eintönig dahinfließender Strom, zu dem sich die Revolutionen und Explosionen im einzelnen wie kleine Wellen verhalten. Dieses Leben hat keine Richtung, aber ein Gefälle. Kein Wunder, dass es, von verstehendem Bewusstsein gespiegelt, abgründliche Melancholie und abgründliche Skepsis auslöst. Es geschieht doch nichts Neues. Es hilft doch alles nichts. Auf gar nichts ist Verlass. Keine Anstrengung lohnt. Wie ich einmal vom Schicksalhaften aller Liebesbeziehungen sprach, meinte eine Argentinierin erstaunt:

Ist nicht die letzte Ursache überall Zufall?

Natürlich ist sie das, insofern kein Zusammenhang geschaut oder erlebt wird, und das ist nur Geist-Bewusstsein möglich. Und freilich verkrümeln alle Sinneszusammenhänge in ein richtungsloses Neben- und Nacheinander von Zufällen, sobald der Sinn nicht festgehalten wird. So kann es auch Treue und Glauben nicht eigentlich geben, denn alle Bindung wird durch Vergessen erledigt.

Doch eben daher der Nuance-Reichtum südamerikanischen Leidens; er ist im gleichen Sinne Kind der Monotonie, hie die große Landschaftsmalerei Europas Kind ist der Armut der Niederlande an Pittoreskem. Und eben daher die südamerikanische Musikalität. Diese beruht auf dem Bedürfnis nach Transposition dem Bewusstsein unzugänglicher Innerlichkeit in eine Sphäre, in der die Endlosigkeit des Lebensstroms als ganzen und die Endlichkeit jeder Sondergestalt als beglückend empfunden werden können. Hier berührt sich der Argentinier mit dem Russen. Sonst haben diese Völker nichts miteinander gemein. Doch auch der Argentinier kennt jene bodenlose Schwermut, welche der Russe Unynie heißt. Auch seine nationalsten Gesänge sind endlos und monoton. Und vor allem ist beider Musik wesentlich polyphon. Wo immer Harmonie mehr bedeutet, als Melodie, liegt der Sinn im schwebenden Verweilen der Seelenregungen in ihrer Vielfachheit. Da bedeutet die Harmonisierung Beglückung und Erlösung, indem sie das Chaos in einen Kosmos transportiert. Aber auch das rein-Rhythmische ist echter Ur-Ausdruck des Gana-Lebens, denn dieses verläuft rhythmisch und periodisch. Deshalb sind alle Primitiven allen Kultivierten als Rhythmiker überlegen. Großartig symbolisch für tiefste Zuständlichkeit ist da zumal die argentinische Rhythmik. Im Zusammenhang betrachtet, gliedert diese pulsschlagartig die Monotonie. Aber andererseits durchbricht sie diese wieder und wieder, wie ein bockendes Pferd die unbewegte Unermeßlichkeit der Pampa durchbricht. Alles Wilde am argentinischen Tanz und argentinischen Gesang hat sein Urbild an der corcovada, dem Sprengen des wilden Pferds, das seinen Reiter abwerfen will. Und wiederum tief symbolischer Weise tanzen die alteingeborenen Argentinier des Campo ihre wilden Tänze ausschließlich mit den Füßen, während Körper und Antlitz starr verharren, dergestalt das rechte Verhältnis markierend zwischen Bewegtheit und Einförmigkeit. Doch die ergreifendste Musik Südamerikas ist für mich diejenige von Peru. Auch sie ist monoton und polyphon. Aber überall klingt die Erinnerung an große Vergangenheit durch. Bald glaubt man das Echo des Marschs der gewaltigen Inka-Heere zu hören, die eins der größten Reiche der Geschichte schufen, bald das resignierten Zwangsarbeitergesangs. Und jedes Lied hat zugleich etwas von einer Kirchenhymne: das ist die Erinnerung an die alte Gottesordnung, die aller irdischen Verrichtung einen hieratischen Sinn gab.

Das Tor zum Verständnis des reinen Gana-Lebens bietet Spanien. Den Spanier hat Salvador de Madariaga in seinem Buche Englishmen, Frenchmen, Spaniards2 mit großer Tiefe als Mann der Leidenschaft beschrieben. Diesen kennzeichnet, dass er weder primär denkt noch primär handelt, sondern sich primär leben lässt. Deshalb ist sein Dasein eines wesentlicher Ganzheit; er lebt nie aus Teilen seines Selbst, sondern deren integralem Zusammenhang heraus. Daraus ergibt sich als Normal-Dauerzustand Passivität; als äußerer Rahmen Unordnung und Inkonsequenz; als Charakter Spontaneität, Natürlichkeit, Aufrichtigkeit; als Gesinnung radikaler Individualismus; als bestimmende Anlage Intuition im Gegensatz zur Reflexion; als stärkste Form der Dynamik Glaube; Aktivität aber nur als gelegentliche Explosion, welche dann jedoch Gewaltiges erreicht, weil der ganze Mensch in Mitleidenschaft gezogen ist. Das spanische Leben aus der Leidenschaft heraus nun ist kein reines Gana-Leben, denn es ist Geist-mitbedingt; eben daher die Bedeutung von Glaube, Intuition und Phantasie, wo die Gana blind ist. Wohl aber ist auch in Spanien der bejahte Nerv alles Lebens die Gana; kein Rationelles oder Rationalisierbares. Deswegen hat sie in Südamerika zur alleinigen Lebensform werden können: die geistige Tradition verging, wie es alle geistigen Traditionen auf fremder Erde auf die Dauer tun, indes die Gana blieb, da ihr Primordiales allenthalben ortsgemäß ist. Dies erklärt die scheinbare prästabilierte Harmonie zwischen den Eigenarten der Kolonisatoren und der Urbewohner.

1 Man lese sein in Südamerika als klassisch geltendes Buch Nuestra America.
2 1929, Oxford University Press; London, Humphrey Milford.
Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
VII. Gana
© 1998- Schule des Rades
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