Schule des Rades

Hermann Keyserling

Mensch und Erde

Der erdbeherrschende Geist

Mythos vom Sündenfall

So war es vom Standpunkt der Tagungsganzheit wohl äußerst wichtig, dass auf die wesentliche Ohnmacht (im irdischen Sinn) des Geistes hingewiesen wurde. Aber andererseits liegt nicht der Hauptakzent beim Geiste an und für sich (das tut er nur für den Erkenntniskritiker), und auch nicht der letzte irdische Akzent auf ihr. Deswegen bedürfen Schelers Ausführungen der Ergänzung. Zu dem Ende will ich sein Thema Die Sonderstellung des Menschen zunächst einmal umstellen. Es ist ja nicht nötig, dass eine Fragestellung gerade wissenschaftlich sei. Man darf sogar behaupten, dass alle die Geister, die in der realen Geschichte von Geist und Seele eine entscheidende Rolle spielten, im letzten wenigstens nicht wissenschaftlich gesinnt waren. Die Wissenschaft formt und urteilt vom Intellekte her. Insofern dieser in der Tat das eine objektive Regulativ für die Erkenntnis des an sich nicht Objektiven darstellt, das wir besitzen, tut freilich not, über die Lebenswichtigen Probleme so weit als irgend möglich auch zur wissenschaftlichen Klarheit zu gelangen, denn auf sie hin allein sind allgemeingültige Normen feststellbar. So sind wir auf unserer heutigen Entwicklungsstufe so weit, dass ein Glaube, dessen Gegenstand oder dessen Formen, soweit sie die Sphäre möglichen Verstehens überhaupt berühren, der Kritik nicht standhalten, nicht nur logisch unhaltbar, sondern direkt physiologisch lebensunfähig ist. Trotzdem bleibt die Rolle des Wissenschaftlers, so nützlich und notwendig sie sei, eine wesentlich bescheidene, und die Rangordnung, die, jeder auf seine besondere Art, Auguste Comte und Hegel aufstellten, entspricht keiner transienten Realität.

Der Wissenschaftler verhält sich zum schöpferischen oder sonst lebendigen Menschen nicht anders, wie die Statistik zur historischen Wirklichkeit. Und nur ein so geistverlassenes Zeitalter, wie das eben jetzt verklingende, konnte im letzten Wort der Wissenschaft je das letzte der Weisheit oder gar des geistdurchstrahlten Lebens sehen. In Wahrheit ist noch heute, trotz aller Differenzierung der Psyche, der mythische Ausdruck jeder lebendigen Wahrheit angemessener als der wissenschaftliche. Denn wenn dieser die Intellektseite der Wirklichkeit angemessen fassen kann, so ist es jenem gegeben, Rationales und Irrationales, auf deren Synthese alles Leben jeden Augenblick beruht, im Bild zusammenzuschauen. Und weil das Leben solche Synthese des logisch Unvereinbaren ist, bedeutet der mythische Ausdruck auch lebendig mehr. Wird er nicht intellektuell verstanden, so dringt er dafür unmittelbar in die tiefen Schichten des Unbewussten ein und vermählt sich dessen Bildekräften.

So will ich denn, ehe ich zu meinem eigentlichen Thema übergehe, zuerst dasjenige Schelers kurz im Bilde des Mythos behandeln, der von jeher als angemessenster Ausdruck der Sonderstellung des Menschen in unserer West-Welt galt: des Mythos vom Sündenfall. Was besagt dieser? Nichts anderes, als dass der Mensch auf Grund seiner besonderen Konstitution — und die hat uns Scheler richtig definiert — aus dem harmonischen Naturzusammenhang herausfällt. Der Mythos in seiner biblischen Fassung ist in allen Hinsichten tiefer und auch exakter wie alles, was uns an wissenschaftlichen Philosophien bekannt ist — exakter, weil er allen Komponenten der fraglichen Wirklichkeit Rechnung trägt. Was bedeutet die Vertreibung aus dem Paradies infolge des Wissens um Gut und Böse nach dem Essen vom Baume der Erkenntnis? Das Auseinandertreten der Natur-Einheit von Aufbau und Zerstörung in ihre zwei Pole, die nun der Mensch von sich aus, aus freier Entscheidung, balancieren muss. Gedenken Sie der Erkenntnisse unserer Tagung 1924 (in Werden und Vergehen; die endgültige Fassung meiner persönlichen Auffassung enthält Wiedergeburt). Insofern wird er wirklich schuldig, wo immer er den Akzent auf den Pol der Zerstörung legt; dies gilt sogar von der Krankheit. Aber was einerseits den Fall aus der Naturordnung bedingt, ermöglicht andererseits den Aufstieg zu Höherem. Insofern ist das Menschsein an sich nicht Sünde, sondern nur Erweiterung der Möglichkeiten, und diese Welt ist keine im absoluten Sinn gefallene, sondern ihr Gefallensein bedeutet vielmehr die Vorbedingung manifestierbarer innerer Freiheit. Weswegen jeder Mensch, der nur wahrhaftig und mutig seinen Weg geht, der nicht nach göttlicher Ordnung aus Sicherheitsbedürfnis schielt, mehr wert ist nicht nur als alle Gottesfürchtigen, sondern auch alle Götter und Engel. Wird die Sünde als Absolutum aufgefasst, so bedeutet ihr Begriff eine Missdeutung der Möglichkeit des Mehrwerdens; und diese Missdeutung haben sich die Juden, und nach ihnen die Christen, allerdings zuschulden kommen lassen. Dies geschah aus ihrem besonders schlechten Gewissen heraus, auf dessen Gründe und Hintergründe ich hier nicht eingehen kann. In Wahrheit ist das, was das Christentum Sünde heißt, Fall nur, wo sie in Funktion der Trägheit erfolgt. Erfolgt sie in Funktion der Freiheit, dann bedeutet gerade sie das Tor zum Mehrwerden. Dies ist der Hauptgrund dessen, warum Jesus den Sündern vor den Gerechten — diesen Fanatikern der moralischen Schwerkraft — den Vortritt ließ. Die Begriffe von Gut und Böse entsprechen letztlich denen von Ja und Nein, und diese wiederum denen von Leben und Tod. Jedes Leben hat irgendeinen Tod zur Grenze. Deshalb ist das Böse an sich überhaupt nicht zu überwinden, noch soll es überwindbar sein. Es soll nur der grundsätzlich unauflöslichen Synthese von Gut und Böse jeweils ein absolut guter Sinn gegeben werden. Auf die wichtigsten der hierher gehörigen Fragen glaube ich im Kapitel Das ethische Problem von Wiedergeburt die angemessene Antwort gegeben zu haben.

Was nun den Menschen aus der Natur herausreißt, als Aufstieg oder Fall, ist eben das, was man seine Freiheit heißt. Und deren Sinn ist Initiative. Was ist es nun mit dieser? Zu erklären ist sie weiter nicht, denn sie ist letzte Wirklichkeit. Wohl aber ist sie gerade von der Fragestellung dieser Tagung her genauer zu bestimmen: eben sie ist Geist. Das hat auch Scheler in seiner Deduktion des wesentlichen Aktualitätscharakters des Geistigen von besonderer Seite her sehr schön gezeigt. Das Wesenselement des Geists ist seine Freiheit, der eben deswegen so begrenzt in seiner Macht erscheint, weil er seinerseits nur auf Freiheit unmittelbar wirken kann. Will man die Wirklichkeit, die wir hier meinen, nun näher bestimmen, so müssen wir im vornhinein von allen modernen Begriffskoordinaten absehen, die samt und sonders nur für die Projektionsfläche der Herausstellungen gelten, und uns an früher ersonnene, als Europäer also am besten an griechische halten; bei den Hellenen war der Riss zwischen Denken und Sein ja viel geringer als bei uns. Da können wir denn sagen: die eine Koordinate, die den Begriff des Geistes bestimmt, ist das Prinzip des Logos. Logos bedeutet an sich Sinn, vom Standpunkt dessen, der ihn aufnimmt, Verstehen, in der Ausstrahlung nach außen Veränderung. Einen Tatbestand wesentlich verändern kann in der Tat nur Sinn, weil alle empirischen Elemente ihm gegenüber nur Alphabet sind, das, sofern er dessen Eigengesetze berücksichtigt, die Auswirkung seiner nicht behindern kann. Zum Prinzip des Logos tritt nun als zweite Koordinate das des Ethos hinzu. Ethos bedeutet, dynamisch verstanden, Initiative und Formgebung, statisch Haltung. Auch hierüber findet man alles Nähere in Wiedergeburt. Formgebung und Initiative sind nun ihrerseits die Grundqualitäten der Freiheit. Erinnern Sie sich der Ergebnisse unserer letzten Tagung: Frei heißt man Selbstbestimmtheit — und alles Leben ist wesentlich selbstbestimmt — dann, wenn das schöpferische Prinzip des Lebens im autonomen Subjekt zentriert erscheint. Damit wäre dann weiter bestimmt, dass Logos und Ethos, immer von der Erde her beurteilt, denn alle Fragestellungen dieser Tagung gelten von ihr aus allein, bestimmte Qualifikationen des Lebens bedeuten.

Hiermit erweist sich denn gleich eine heute besonders beliebte Distinktion als ungegenständlich: die zwischen Leben und Geist. Auf bestimmter Ebene hält sie freilich stich. Hat das Leben sich dergestalt differenziert, dass Vitalität einerseits, Intellekt andererseits zusammenhanglos existieren, dann muss man praktisch scheiden; ja man kann Stellung nehmen für das eine oder das andere, je nach Neigung. Aber im letzten ist die Scheidung verfehlt. Es gibt kein Leben, das nicht letztlich Sinn und insofern Geistesausdruck wäre. Es gibt nichts Geistiges, das solange es sich als wirkend erweist, nicht alle Qualitäten des Lebendigen besäße. (Hierüber lese man Jesus der Magier in Menschen als Sinnbilder nach.) Woraus denn folgt: wohl darf man Geist nicht als Urgrund des Erdenlebens statuieren; dies darf man ebenso wenig, als allem Leben die Qualität der Freiheit zuerkennen. Doch will man das Wesen des Geistes verstehen, so muss man ins Jenseits dessen, was heute allgemein als Geist gilt, hinabtauchen.

Hermann Keyserling
Mensch und Erde · 1927
Der Leuchter · Achtes Buch
© 1998- Schule des Rades
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