Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

V. China

Peking: Konfuzianismus

Nein, das neue System als solches wird China nicht regenerieren. Es ist gezeigt worden, wie sich der Zustand Frankreichs - trotz aller Revolutionen und Regimeänderungen seit den Tagen Ludwig XIV. kaum gewandelt hat und die geschichtspsychologische Hauptthese Gustave Le Bons: les peuples sont gouvernés non par leurs institutions, mais par leur caractère, spricht eine allgemeingültig-grundlegende Wahrheit aus. Die Missstände in China sind nur aus dem Geist seiner Vollkommenheit heraus zu beseitigen; seiner eigenen spezifischen Vollkommenheit, nicht der einer fremden Kultur. Wohl mag es unsere Maschinerie herübernehmen, unsere Institutionen, unsere Werkzeuge, unsere Methoden; auch China werden sie gute Dienste leisten. Aber sicher nur dann, wenn es gelingt, sie zum Geist der altchinesischen Kultur in innere Beziehung zu setzen.

Immer deutlicher erkenne ich’s: dass es in China der Reformen bedarf, liegt nicht am alten System als solchen, sondern an dem, dass der alte Geist ihm entwichen ist. Gleichviel, ob ideale Zustände wie die, welche von den Zeiten Yaos, Shuns und Yüs überliefert werden, je geherrscht haben — schon Konfuzius und Mencius klagten über Dekadenz! — China ist Jahrhunderte entlang seinem Ideale näher gewesen als irgendein historisches Volk, und noch heute lebt in ihm der Geist, der dies einstmals ermöglichte. Nur ist er gar schwächlich geworden. Die am vornehmsten gesinnten Chinesen sind überzüchtet; ihnen fehlt es an frischer, tatenfroher Kraft; sie jammern und klagen, wo sie handeln sollten. Immerhin: welch’ ein Unterschied zwischen ihnen und den Leuten, welche die Revolution ans Ruder gebracht hat! Denen fehlt jede moralische Basis, die sind im tiefsten Sinne wurzellos. Gleich den russischen Anarchisten und Nihilisten haben sie keinen Sinn für das Historisch-Gewordene, und werden daher wohl zerstören, aber nimmermehr aufbauen können. Eine Wiedergeburt Chinas ist meiner Überzeugung nach nur aus dem Geist des Konfuzianismus heraus denkbar. Gott gäbe, dass diesem die hierzu erforderliche Potenz noch innewohnt.

Leider ist der Geist des Konfuzianismus, der wie kein anderer ein Bestehendes auf der Höhe erhält, zur Erneuerung wenig geschickt. Gestern frühstückte ich mit einem alten Priester, der durchglüht war von Begeisterung für seine Religion, der in ihr das Heil für die gesamte Menschheit sah und Chinas Niedergang ausschließlich auf den des Konfuzianismus zurückführte. Ich legte ihm nahe, er möge doch auftreten und mit begeisterndem Wort das Volk aufrütteln aus seinem komatischen Schlaf. Er erwiderte, hierzu sei er nicht berufen; das sei Sache des Kaisers und der höchsten Obrigkeit; bei der Stellung, in die er hineingeboren sei, komme nur treue Erfüllung der Pflichten gegen Eltern und Familie für ihn in Frage. Und wenn alle Söhne, fügte er hinzu, ihren Vätern Pietät erwiesen, dann würde das Übrige schon von selbst in Ordnung kommen. Wieder jene trostlos-statische Auffassung, nach der sich in der Welt wohl alles im schönsten Gleichgewicht befindet, das beschleunigende Moment jedoch unfassbar scheint, das einen niederen Gleichgewichtszustand in einen höheren umwandeln könnte! Wie soll man unter solchen Voraussetzungen die Welt erneuern? Sie kann sich nur selbst regenerieren. Indem jeder seine nächstliegenden Pflichten erfüllt, entsteht eine molekulare Umlagerung im Weltsystem, welche langsam zum höchsten Gleichgewichtszustande hinleitet. Dieser Weg hat alle Vorzüge eines Wachstumsvorgangs; hat er zum Optimum geführt, dann ist dieses wohl sicherer gegründet, als auf irgendeine andere Art gelänge; daher die unerhört lange Dauer der großen Zeiten in China, daher das heute noch wunderbar feste Gefüge des chinesischen Staats. Aber ein solcher Prozess braucht ungeheuer viel Zeit; soviel Zeit, dass unter den heutigen Umständen, wo alle Entwickelung dank dem Rekord, den Europa aufgestellt, und den neuen Verhältnissen, die sein Einfluss geschaffen hat, sehr schnell verlaufen muss, wenn sie überhaupt zum Ziel führen soll, die bloße Möglichkeit seiner Vollendung fraglich ist. Was soll also geschehen? — Dass die Erneuerung trotz allem Angeführten aus dem Geist des Konfuzianismus heraus erfolgen soll, scheint mir gewiss; dieser Geist ist dem Volk so tief und innerlich eingewurzelt, dass es einfach nicht glücken würde, ihn durch einen anderen zu ersetzen. Überdies wäre es ein Verbrechen, ihn ausrotten zu wollen, denn der Idee nach ist er der höchste, der irgendeiner Gesellschaft je zugrunde gelegen hat. Es lässt sich nichts Idealeres denken, als eine Gemeinschaft, deren äußere Ordnung durchaus durch die moralische Bildung ihrer Glieder gewährleistet würde, wo es mechanischer Mittel nicht bedürfte; das ist nicht allein das alt-chinesische, es ist das Menschheitsideal. Auch wir werden dereinst, so Gott will, in diesem Sinn als Konfuzianer gelten dürfen. Aber freilich müssen dem traditionellen Konfuzianismus neue, beschleunigende Motive einverleibt werden.

Dieses dürfte, bei einiger Einsicht seitens der Führer, nicht undurchführbar sein. In den Augen des Volks steht Konfuzius so unermeßlich hoch, dass es sich jede fernere Idealisierung seiner gefallen lassen wird. Es wird sogar höchlich befriedigt sein, wenn ihm gezeigt wird, dass die neuen Ideen, deren Wirkungskraft im Guten es auf die Dauer nicht wird ableugnen können, in den heiligen Büchern vorgebildet liegen, und das Neue bereitwillig aufnehmen, das auf das Alte zurückgeführt werden kann. Es dürfte sonach die Aufgabe der Führer Jung-Chinas sein, für alle Reformen, die sie in Angriff nehmen, die Autorität Kungfutses anzurufen. Dank dem aphoristischen Charakter seiner Aussprüche wird dieses technisch leicht gelingen, sachliche Bedenken aber kommen deshalb kaum in Frage, weil einerseits Konfuzius vertieft werden wird dank der neuen Ausdeutung, die ihm so viel indisch-christliche Weisheit zuführen wird, und andrerseits das westlich-Praktische, auf konfuzianische Grundsätze bezogen, eine moralische Grundlegung erfahren wird, die es bisher nicht hatte. Natürlich würden sie sich mit solcher Umdeutung eine Geschichtsfälschung zuschulden kommen lassen: was tut’s? welche fortschrittliche Zeit hätte keine begangen, wo sie an alten Idealen festgehalten hat? Was ist nicht aus dem Christentum alles geworden im Lauf der Geschichte! Aus der Religion des Duldens eine solche des rücksichtslosen Tuns; aus dem süßen Heiland und Erbarmer das Urbild der modernen selbstgegründeten Persönlichkeit! Jede Zeit hat ihr wirkliches Ideal mit dem überkommenen in Einklang zu setzen versucht, und das ist immer nur durch Geschichtsfälschung gelungen. Alle Erneuerer, die den wirklichen Christus wiedererwecken wollen, von St. Johannes bis zu den Propheten des New Thought, sind recht eigentlich Geschichtsfälscher, da sie im Gegensatz zu ihrer Absicht ihre eigenen Überzeugungen in das wehrlose Gewesene hineindeuten. Und das ist kein Vorwurf, den ich ihnen mache, im Gegenteil: man kann dem Menschen seine historischen Wurzeln nicht nehmen; wer in christlicher Atmosphäre geboren und erzogen ward, ist wesentlich Christ, gleichviel woran er glaubt; von den Vorstellungen, die seine Seele formten, kommt er nie los. Aber er deutet sie, wenn er seine Persönlichkeit wahren will, selbständig aus, bringt sie in Einklang mit seiner sonstigen Weltanschauung.

In diesem Sinne dürfte es wohl möglich sein, aus dem Geist des Konfuzianismus heraus das chinesische Reich zu reformieren. Nur muss diesem dazu, wie schon gesagt, ein beschleunigendes Motiv eingebildet werden. Wird dies gelingen, wo doch nichts das Chinesentum wesentlicher kennzeichnet, als seine ausgesprochen statische Gesinnung? Die europäische Geschichte beweist, dass solche Metamorphose vorkommt. Mir war von Anfang an die ausgesprochene Ähnlichkeit des altkonfuzianischen mit dem altlutherischen Menschentypus aufgefallen; sie erschienen mir recht eigentlich als eines Geistes Kinder. Wie ich über diesen Eindruck nun nachdachte, da erwies er sich als wohlbegründet: die beiden Weltanschauungen sind wirklich nahe verwandt. Auch die lutherische ist wesentlich statisch, auch sie hypostasiert die gegebenen Klassen als metaphysisch begründet oder gottgewollt; auch ihr gilt Leiden höher denn Tun, Geduld mehr als Initiative, und das Hinausstreben über die angeborene Stellung als frevlerisch; auch sie ist eine Weltanschauung des Ausharrens. So hat sie auch ähnliche Vorzüge und ähnliche Gebrechen ins Leben gerufen. Ihre Vorzüge waren die Kultur des Familienlebens, des patriarchalischen Daseins überhaupt; ihre Nachteile der Hang zur Reaktion, die Unfähigkeit, das Leben neuzugestalten, sich neuen Umständen anzupassen, die natürliche Erstarrung durch freie Initiative in Spannkraft umzuwandeln. Aber von Luther ist doch eine Richtung ausgegangen, welcher nichts von den Gebrechen des Luthertums anhaftet: der calvinistische Protestantismus. Das ist die Religion der Tat par excellence, die größte Anspornerin der Initiative, des Fortschritts, der selbstherrlichen Lebensgestaltung, welche es je gegeben. Kein Menschentypus der Welt ist an Effikazität dem reformiert-protestantischen vergleichbar. Heute steht dieser dem lutherischen wohl fremd gegenüber; gleichwohl ist er aus ihm hervorgegangen; und im Letzten, im Allerletzten sind beide heute noch eins. Es gibt doch einen allgemeinen Geist des Protestantismus, an welchem beide Konfessionen teilhaben. In Analogie mit dieser Entwickelung halte ich nicht für ausgeschlossen, dass der Geist des Konfuzianismus noch einmal eine Gestaltung aus sich hervorbringen wird, dank welcher der Chinese, ohne seine Geschichte verleugnet zu haben, nicht minder tatkräftig dastehen wird, wie der Amerikaner und der Schotte.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
V. China
© 1998- Schule des Rades
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