Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

II. Ceylon

Kandy: Sehnsucht nach Erlösung

Nun ist mein Organismus von den Einflüssen der Tropenweit so weit verwandelt, dass ich in buddhistischer Bewusstseinslage verharren kann. Dieses Erlebnis ist mir überaus lehrreich. Dem Buddhismus als Theorie gerecht zu werden, hält nicht schwer: er ist eines Geistes mit allen empiristischen Systemen des Westens. Die Psychologien Taines, Ernst Machs, William James, die Weltanschauungen Auguste Comtes, Herbert Spencers, Wilhelm Ostwalds, sogar Bergsons haben alle, eine jede von einer besonderen Seite her, eine bestimmte Wegstrecke entlang und bis zu einem bestimmten Grade der Konsequenz, mit Buddhas Lehren das Wesentliche gemein. Das macht, dass alle empiristischen Denker das Geschehen in seinem aktuellen Ablauf ins Auge fassen; mit dieser Fragestellung ist das mögliche Ergebnis eindeutig vorgezeichnet; stimmen nicht alle empiristischen Denker in allem überein, so ist das lediglich auf Begabungsunterschiede zurückzuführen. Spencer und Ostwald und Mach hätten gleiches wie Bergson gelehrt, wenn sie gleich scharfsinnig gewesen wären, denn ihre Absicht war ursprünglich die gleiche. Buddhas Philosophie hat nun, von allen westlichen Denkern, mit derjenigen Ernst Machs die größte Ähnlichkeit; sie hat die gleichen Grundvorzüge und die gleichen Grundgebrechen. Jene wurzeln in der Exaktheit der Beobachtungen, diese darin, dass die Beobachtung nicht tief genug eindringt. Wohl ist es möglich, im Aktuellen alles Wirkliche und Mögliche verdichtet zu sehen; das ist 600 Jahre nach Buddha Açvagoshas gelungen, dem Begründer der Mahāyāna-Lehre, und in unseren Tagen wiederum Bergson; diese Leistung der philosophischen Erkenntnis ist vom menschlichen Standpunkte vielleicht die wertvollste, da das Bild, das dieser Standpunkt gewährt, den eigentümlichen Charakter der Welt am vollständigsten und unverzerrtesten wiedergibt. Aber Buddha hat die Aktualität so tief zu erfassen nicht vermocht. Er hat Sein und Werden im Werden nicht zusammengeschaut, sondern ausschließlich das Werden bemerkt.

Dass sich nun ein abstrakter Gelehrtengeist mit einer Weltanschauung wie der buddhistischen zufrieden gibt, ist wohl verständlich. Ein Mann wie Mach hat kein metaphysisches Bedürfnis, in ihm lebt kein religiöses Gefühl, also bescheidet er sich gern bei seinem phänomenologischen Relativismus. Wo hingegen ein Mann, der als Erkenner zu buddhoiden Ergebnissen gelangt ist, überdies in lebendiger Beziehung zum Universalen steht, dort neigt er in der Regel zum Absolutismus. Er glaubt ein Absolutes in irgendeiner Form. So war es bei allen indischen Weisen, deren phänomenologische Anschauungen mit denen Buddhas in allem wesentlichen übereinstimmten; so war es im Westen bei Auguste Comte, der sogar eine extrem emotionelle Religion gestiftet hat, bei William James, der an einen persönlichen Gott glaubte, bei Herbert Spencer, dessen Unerforschliches mehr und mehr, je älter er wurde, zur Substanz sich verdichtete. Buddha hingegen hat eine Religion begründet, die nichts anderes als phänomenologischer Relativismus ist. Er hat getan, was Ernst Mach sich geleistet hätte, wenn er die Ergebnisse seiner Empfindungsanalyse als Evangelium verkündet hätte. Das ist es, was dem westlichen Betrachter so paradox erscheint, was die brahmanischen Weisen auf den Buddhismus verächtlich herabsehen lässt; das ist es, was auch mich bisher befremdet hatte. Nun aber beginne ich zu verstehen. Unter den physiologischen Voraussetzungen, die für den Menschen in den Tropen gelten, bedeutet der Buddhismus wirklich ein Evangelium, oder kann es wenigstens bedeuten.

Ich brauche bloß mein eigenes Bewusstsein zu analysieren, wie es im Laufe dieser Tage geworden ist. Mein Betätigungsbedürfnis ist merklich abgeflaut; in mir lebt gar keine Initiative mehr; anstatt zu handeln, lasse ich mit mir geschehen. Damit ist mir die Distanz zu mir normaliter gegeben, die der noch so Kontemplative im Norden zu sich selbst nur ausnahmsweise hat; zugleich jene innere Stille, welche Grundvorbedingung klarer Selbsterkenntnis ist. Wie ich’s schon in Colombo niederschrieb: in den Tropen gehört nicht viel dazu, um das psychische Geschehen objektiv zu erfassen. Nun aber kommt ein weiteres: dieses vegetationsartige Geschehen — die organischen Prozesse wirken vegetationsartig, wo sie ohne Ichbestimmtheit vor sich gehen — ist ungeheuer intensiv, viel intensiver als in nördlichen Breiten; als Seele wie als Leib empfinde ich mich als andauernd wuchernd, treibend, wachsend, knospend, blühend, als andauernd werdend und vergehend; ich habe das Gefühl, als würde ich rastlos fortgetrieben durch nicht endenwollende Geburten und Tode hindurch. Dies bedingt zweierlei: erstens, dass ich mir des wahren Charakters des Geschehens — einer endlosen Kette von Geburten — mit unerhörter Deutlichkeit bewusst bin; zweitens aber, dass es mir unmöglich ist über das Samsara hinauszublicken. Ich kann nicht finden, dass es jenseits oder außerhalb des Unbeständigen irgendein Beharrliches gibt; alles Daseinsbewusstsein geht in der wechselnden Gestaltung auf. Einerseits fühle ich mich mit ihr nicht identisch, andrerseits ist das Bewusstsein des Nicht-Ich-Prozesses so intensiv, dass für ein selbständiges Ichbewusstsein kein Raum übrig bleibt. Lausche ich nun von dieser Erlebnis-Basis aus der Lehre Buddhas, nach der es nichts geben soll, als einen anfangs- und endlosen Prozess, in welchem endlose Kausalitätsreihen interferieren, nach der alle scheinbar feste Gestaltungen nur vorübergehende Schnittpunkte des Werdens bezeichnen, nach der es kein Ich gibt jenseits dieses Werdens, keine selbstgegründete Seele, keine Persönlichkeit, so erkenne ich in ihr, in wunderbar klarer Begriffsfassung, mein eigenstes Erleben wieder. Nun kann mich diese Lehre nicht schockieren: wo kein Ichgefühl lebt, dort verlangt man nicht nach seiner Fortdauer; wo kein Unsterblichkeitsbewusstsein dem Erleben ursprünglich zugrunde liegt, dort sehnt man sich auch nicht nach Unsterblichkeit. Die Lehre vom Nicht-Ich bedeutet unter der Voraussetzung der physiologischen Basis, auf der das Bewusstsein in den Tropen ruht, eben das, wie die Lehre vom Ich und dessen Fortdauer unter europäischen Voraussetzungen. So verstehe ich jetzt gut, wie die Zuhörer Buddhas eine Lehre freudig begrüßen konnten, deren Anerkennung durch den Verstand unter Westländern Verzweiflung zur Folge gehabt hätte: der Mensch ist immer freudig bewegt, wo ein anderer ihm sein eigenstes Erleben deutlich macht.

Mit dieser Erkenntnis fallen denn alle Schwierigkeiten des buddhistischen Nirwana-Gedankens fort. Der tropische Mensch fühlt sich im Nicht-Ich befangen, einer übermächtigen Natur, die sein Bewusstsein allseits erfüllt. Solange er in diesem Prozesse aufzugehen vermag, solange fragt er nicht weiter, nicht mehr als irgendein lebensfroher Jüngling des Westens auch im Mittelalter je nach dem Himmel gefragt hat. Kommt aber der Tag, der selten ausbleibt, an dem er seines Zustandes müde wird, wo die Ahnung eines Höheren in ihm erwacht, so kann sich der Tropenbewohner dieses Höhere nur auf die Weise vorstellen, dass er den Fesseln des Naturgeschehens entrissen wird. In dieses Hinein, im Sinne eines Lebens im Himmel, kann er sein Ideal nicht verlegen, da jedes vorstellbare Leben dem Wesen nach identisch sein würde mit dem, dessen er müde ist; sein Ideal ist mit Notwendigkeit eines der Auflösung. Was versteht er nun eigentlich unter Nirwana? Wie sollte er das begrifflich bestimmen? Bewusstsein eines Ich im Gegensatz zur verfließenden Natur besitzt er nicht; also kann er nicht behaupten, dass er sich nach einem höheren positiven Zustande sehnte. Ebensowenig aber kann er behaupten, dass er im Nichts zu zergehen wünscht, denn damit, dass er dem Naturprozesse entrinnen will, bekennt er ja schon, dass er sich in diesem nicht völlig aufgehen spürt. Er hat ein sehr bestimmtes Gefühl der Sehnsucht aus dem Getriebe des Werdens und Vergehens hinaus, ein bestimmtes Gefühl der Sehnsucht, das mit einer unbestimmten Erwartung eines positiv Besseren verquickt ist. Dieses Gefühl lebt auf Ceylon auch in mir. Und suche ich es zu fassen, so finde ich, dass mir dies nicht besser gelingt als den buddhistischen Weisen. Es hatte seinen guten philosophischen Grund, dass Buddha über das Nirwana nichts Bestimmtes gelehrt, ja, jeden Versuch einer Bestimmung als Ketzerei verurteilt hat. Nur soviel vermöchte ich zu sagen. Die Sehnsucht nach Nirwana bedeutet Sehnsucht nach Erlösung aus den Banden der Natur, die allgemeinmenschliche Sehnsucht nach Befreiung, die allen eschatologischen Vorstellungen als Letztes zugrunde liegt. Diese Befreiung wird der, dem ein starkes Ichbewusstsein eignet, mit positiven Vorstellungen verknüpfen: er wird sich ein ewiges Leben ausmalen, oder, wo er besonnener ist, wie die Brahmanen, einen Zustand jenseits aller Individualisierung, in welchem er, nach Abstreifung seiner Person, desto mehr Er selbst würde. Wie aber mit dem, welchem Ichbewusstsein fehlt? In ihm führt das gleiche Befreiungsstreben zu wesentlich anderen Gestaltungen. Was er ersehnt, ist das Freiwerden von der Natur schlechthin; er kennt keine Sehnsucht darüber hinaus. Wo das Naturbewusstsein übermächtig ist, und das des Ich kaum existiert, kann sich das Selbstgefühl nicht positiv zur Geltung bringen. Die Sehnsucht aus der Erscheinung hinaus ist das metaphysische Erlebnis des Buddhisten; es ist sein äußerstes Erlebnis — weiter fragt er nicht. Und fragt ein anderer ihn weiter, so beweist er damit, dass er ihn missversteht.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
II. Ceylon
© 1998- Schule des Rades
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