Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VI. Japan

Kyoto: Treue und Reinheit

Über die Japanerin kann seitens jedes, der nur ein bisschen Stilgefühl besitzt, der also vom Schmetterling nicht die Leistungen des Nilpferdes verlangt, nur eine Meinung sein: dass sie eines der vollendetsten, eines der wenigen ganz vollkommenen Produkte dieser Schöpfung ist. Ich will es nicht unternehmen, ihre Vorzüge im einzelnen zu schildern: das ist schon oft von Meisterhand geschehen. Hier könnte ich auch schwer objektiv sein; die Atmosphäre japanischer Weiblichkeit ist mir dermaßen sympathisch, dass ich ihrer Nachteile kaum gewahr geworden bin. Es tut gar zu wohl, Frauen zu schauen, die nichts als Grazie sind; die nichts scheinen als was sie sind, nichts vorstellen wollen, als was sie wirklich können, deren Gemüt bis zum Äußersten gebildet ist. — Im Grunde ihrer Seele wollen nicht allzu viele Mädchen Europas mehr und anderes als ihre Schwestern im Fernen Osten — sie wollen gefallen, weiblich-anziehend wirken, und alles übrige, die geistigen Bestrebungen inbegriffen, ist ihnen Mittel zum Zweck. Wie viele derer, die scheinbar nur geistig interessiert sind, atmeten nicht auf, wenn sie dieses umständliche Reizmittel, dessen sie in ihrer Welt schwer entraten können, lassen und sich wie Japanerinnen geben dürften! Aber gerade dieses gelänge ihnen schwer, gelingt denen nicht, die es versuchen. Die modernen Mädchen sind schon zu bewusst, um vollkommen zu sein in Form der Naivität, zu wissend zu einem Dasein reiner Grazie, vor allem als Naturen auch zu reich, um sich überhaupt leicht zu vollenden. An Lieblichkeit kann sich keine modern-westliche Schönheit mit einer wohlerzogenen Japanerin messen.

Nun ist freilich der ästhetische Wert nicht der einzige, welcher in Frage kommt, und kann als höchster nur dort gelten, wo die Form die Erfüllung des ganzen Gehalts bedeutet, wie im Falle der besten Typen Alt-Chinas. Bei der Japanerin tut sie das nicht; diese kann als Persönlichkeit nicht ernst genommen werden, und insofern haben die recht, die sie unter die Europäerin stellen. Dagegen aber ist zu erinnern, dass jede Vollendung besser ist als keine; so vollkommen manche Europäerinnen sind, deren Typus vergangenen Zeiten angehört — unter modernen wüßte ich noch keine, die mehr als eine flüchtige Skizze ihres spezifischen Ideals bezeichnete. So muss ich für diese Zeit der Japanerin die Palme zuerkennen.

Bald wird auch die Japanerin, die ich meine, der Vergangenheit angehören, wie es die europäische Grande-Dame schon heute tut. Kein ästhetisch empfindender Mensch wird diesem Schicksal ohne Wehmut entgegensehen, mit ihr schwindet einer der süßesten Reize der Erde dahin, und nichts Gleichwertiges wird sie so bald ersetzen, wie sehr man sich darum bemühen mag. Gewiss nimmt die Europäerin im Leben eine höhere Stellung ein, als sie; mehr Möglichkeiten stehen ihr offen, mehr Züge ihres Wesens sind ausgebildet und unser Familienleben zumal steht der Idee nach viel höher als das asiatische. Aber was zumal Japaner meist vergessen, ist, dass die Vorzüge unseres Zustandes zunächst hauptsächlich in abstracto vorhanden sind, und dass der Wert abstrakter Wesenheiten ganz davon abhängt, inwieweit sie dem Konkreten angemessen sind; das bessere System schafft nicht notwendig eine bessere Wirklichkeit. Dafür vernichtet es Wirklichkeit nur allzuleicht. So wie sie ist oder war, erscheint die Japanerin vollkommen; wo ihre Bewusstseinslage ihrem Zustande entspricht, ist sie genau so glücklich wie die Amerikanerin; sie ist ferner ihren Vorzügen nach das unmittelbare Produkt der herrschenden Verhältnisse. Wenn diese sich wandeln, werden jene mit verschwinden. Ob sie dafür an die Stelle gewinnen wird, was ihr bisher fehlte, scheint desto fraglicher, als unsere Frauen noch nicht entfernt so weit sind, dass man sagen könnte: sie verdienen durchaus ihren neuen weiten Rahmen.

Jeder bestimmte Zustand wirkt positiv auf das Leben ein: dieser Satz hat axiomatische Gültigkeit; positiv in dem Sinne, dass er bestimmte Gestaltungen bedingt, die kein anderer ermöglicht hätte. Manche dieser Gestaltungen sind erfreulich, andere unerfreulich, im absoluten Sinne vollkommen ist keine, weil alle Bestimmungen zugleich Begrenzungen sind. Was aber nie übersehen werden sollte, ist, dass die Vorzüge etwas viel Positiveres bedeuten als die Gebrechen. Nach der negativen Seite hin scheinen der Natur nicht viele Möglichkeiten offen zu liegen; einerseits erhält sich das Absteigende schwer und kann sich durch Vererbung nicht potenzieren, andererseits verdient das Negative auch insofern seinen Namen, als es Verkümmerung bedingt, weswegen alle Typen nach unten zu konvergieren; die gebrochenen oder verunglückten Existenzen sehen sich allerorts und zu allen Zeiten ähnlich. Nach oben zu hingegen scheint es gar keine Grenzen möglicher Mannigfaltigkeit zu geben. Man vergegenwärtige sich einmal den Reichtum an verschiedenartigen Qualitäten, den der Wechsel innerhalb schwieriger Verhältnisse im Menschen hat entstehen lassen: das aufsteigende Leben schafft sich überall Bahn; in Korrelation zu den sich wandelnden Verhältnissen blüht Mal auf Mal eine neue Schönheit auf, deren jede nur einmal, unter bestimmten, nie wiederkehrenden Verhältnissen möglich war. So ist die Vollkommenheit der Japanerin das unmittelbare Produkt der Stellung im Leben, die sie durch Jahrhunderte einnahm; was immer gegen diese einzuwenden sei — ihr, nur ihr verdanken wir die Japanerin, wie sie ist. Wie kläglich ist das Argument: sie verdiene, da sie so reizend ist, ein besseres Schicksal! Man verdient nie, was einem die Schönheit nimmt. Mögen die neuen Verhältnisse in abstracto unermeßliche Vorzüge haben — der Frauentypus von einst wird unter ihnen nicht fortbestehen, und Japan wird schwerlich einen neuen, dem einstigen gleichwertigen hervorbringen, jedenfalls nicht entsprechend dem jüngst-europäischen Ideal, da das gegebene psychophysische Maß zu diesem Schnitt nicht ausreicht. Die Idee des Fortschritts mag in Form einer geraden Linie darzustellen sein: der wirkliche, soweit er sich nachweisen lässt, verläuft in Form einer bewegten und vielfach gebrochenen Kurve; sie bricht wieder und wieder ab, weil jeder Menschentypus in der Regel nur einer Art Vollendung fähig ist.

Noch ein Wort zur vielverschrienen Laxheit der Japanerin in erotischer Beziehung. Dem Europäer kommt es ungeheuerlich vor, dass ein Mädchen seine Reinheit verkauft, um anderen Pflichten nachzukommen. Sicher darf dies nicht so verstanden werden, dass die Japanerin das ideale Wesen sei, das sein Höchstes um eines objektiv noch Höheren willen preisgibt (obgleich ihr anerzogener Mangel an Egoismus so groß ist, dass ihr Verhalten oft den Eindruck tiefsten metaphysischen Wissens macht; die Geisha erinnert oft täuschend an eine Heilige). Nein, ihr gilt Reinheit wirklich weniger als der Europäerin. Allen Völkern des Ostens gilt das Nachgeben dem Naturtriebe als ein Selbstverständliches; wird dieser eingeschränkt, so geschieht es aus äußeren Gründen, unsere inneren Hemmungen fehlen ihnen. Aber hier frage ich: ist das europäisch Ideal der Reinheit wirklich so hoch? Seinen historischen Grund hat es an der frühchristlich-asketischen Anschauung, nach welcher Geschlechtsverkehr Sünde sei, und diese ist falsch; seinen dauernden Halt findet es, soweit ich sehe, an rein utilitarischen Erwägungen: die Unberührtheit des Mädchens ist einerseits eine Konzession an, andrerseits ein Spekulieren auf den Egoismus der Männerwelt. An und für sich liegt wohl nichts dem Weib normalerweise ferner, als die Unberührtheit zu idealisieren: ihm ist vielmehr Hingabe das Ideal, muss es ihm sein, da die Gattungstriebe in seinem Bewusstsein vorherrschen. Soll nun wirklich Unberührtheit als solche ein Höchstes sein, dann läuft dies schnurstracks auf eine Apotheose der Selbstsucht hinaus. Man idealisiere wie man will: der Kampf des Weibes um seine Reinheit à tout prix ist nichts als Selbstbehauptung — und in diesem Zusammenhang besteht wohl kein Zweifel, dass die Japanerin, die sich einem Freudenhaus verkauft, um dem Bruder durch ihren Erwerb das Kämpfen für das Vaterland möglich zu machen, das höhere Wesen ist. Die Europäer würden anders urteilen, wenn sie feiner empfänden: selten wissen sie zwischen Reinheit im Sinn von Treue und Reinheit im Sinne von Unberührtheit (als physisches Faktum) zu unterscheiden. Im ersteren Sinne steht die Japanerin keiner Europäerin nach: es gibt nicht keuschere Frauen als sie. Und dass sie im letzteren laxer denkt — sollte das nicht, anstatt auf Frivolität, auf sicherere Instinkte und unbefangeneres Denken schließen lassen? Beginnen nicht auch unsere besten Männer und Frauen mehr und mehr in dieser Hinsicht japanisch zu empfinden? — Man vergleiche unsere Vorstellung von Dezenz mit der japanischen. Unsere Frauen ziehen sich zum Ball beinahe nackend aus, mit der offenkundigen Absicht zu reizen, würden aber vergehen vor Scham, wenn ein Fremder sie im Bade überraschte. Die Japanerin zeigt sich ohne Scham aller Welt entkleidet im Bad, gewänne es aber niemals über sich, sich zum Feste provozierend anzuziehen: auf die Absicht komme doch alles an … Welche Auffassung ist die tiefere, die reinere?…

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VI. Japan
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME