Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Mahabalipuram

(Die sieben Pagoden)

So hätte meine Pilgerfahrt durch die Heiligtümer Süd-Indiens ihren denkbar stimmungsvollsten Abschluss gefunden. Auf dieser öden, von Kasuarinen spärlich bestandenen Sandinsel ist jede Felskuppe, fast jeder Stein zum Kunstwerk umgestaltet. Bald sind es Elefanten und Stiere, deren mächtige Leiber aus den Blöcken herausgemeißelt worden sind, bald zierliche Mandapams; monolithische Tempel krönen die Höhen, klaffen in allen Bergen, und bei Seegang rollen die Wogen über köstliche Schwellen und Stiegen hinweg, zu schlummernden Göttern hinan. Wer waren die Menschen, die diese Welt erschufen? Ihre Spuren hat der Sand verweht. Mahabalipuram muss irgendeinmal, wohl dank dem flüchtigen Caprice eines Rajah, eine einzige Werkstatt gewesen sein, in welcher tausend Hände hämmerten, bohrten, versuchten, verbesserten, selten vollendeten; um dann plötzlich wieder verlassen zu werden. So vermutet man; man weiß es nicht. Heute wohnen hier nur ärmliche Fischer und einige wenige Brahmanen; magere Schafe suchen sich um die Ruinen herum ihre karge Äsung.

Ich bin bis tief in die Nacht hinein im Tore des Vishnutempels gesessen, der, einst mitten im Lande belegen, heute von drei Seiten bereits vom hungrigen Meere umspült wird, und bin erst gewichen, als die steigende Flut meine Füße zu netzen begann. Fünf Tempel soll die See schon verschlungen haben; auch die Tage dieses sind gezählt. Meine angespornte Einbildungskraft jagt der Zeit voran; ich sehe unseren greisen Planeten nur von Trümmern und Scherben bedeckt, kalt und tot durch den Weltraum rollen. Und diese Anschauung stimmt mich nicht traurig. Die Vergänglichkeit ist ja der Hort der Ewigkeit. Wären Menschen und Werke nicht einzig, unersetzlich, unwiederbringlich, ihr Dasein bedeutete nichts. Mich hat kein Ende je im Innersten geschmerzt, wie oft hingegen das Wiederfinden von Zuständen, die längst begraben sein sollten! Werden die Menschen nimmer begreifen, dass Dauer nur Aufenthalt ist, wo immer sie hinübergreift über die Zeit, der es bedurfte zur Verwirklichung? Dass wer die Vergangenheit festhalten will, ein Sakrileg verübt? dass er Unsterblichem damit nach dem Leben trachtet?… Von der großen indischen Kunst sind nur geringe Bruchteile erhalten; die Künstler Indiens haben, der zerstörenden Mächte uneingedenk, zumeist in Holz komponiert. Sie wussten wohl, dass es nicht ankommt auf die Dauer. Mir gefällt es, zu glauben, dass sie gelebt haben im Geist der großen Lehre der Bhagavad-Gîta: schaffe unentwegt, aber opfere von vornherein die Ergebnisse deines Schaffens auf.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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