Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Benares: Vollendete

So bezeichnen denn die Rishis, die stillen Weisen aus den Himalayas, nicht den höchsten Menschentypus überhaupt? Ist ein höherer denkbar? — Beide Fragen sind zu verneinen; die erste schlechthin, die zweite, weil sie ein Missverständnis einschließt. Dass der höchste Erkenner nicht gleichzeitig der höchste Mensch überhaupt ist, geht aus den vorhergehenden Betrachtungen eindeutig hervor; jener setzt eine Naturbasis voraus, die als solche beschränkt, viel wertvolle Möglichkeiten ausschließt. Die Frage aber, ob ein höherer denkbar sei, schließt ein Missverständnis ein, insofern sie der Voraussetzung entspringt, es könne einen absolut höchsten geben. Es gibt keinen solchen, kann ihn nicht geben, weil jeder bestimmte Typus an Grenzen gebunden ist, die ihn vom Standpunkte der Universalität entwerten. Keine Beschränkung ist ein Vorzug, kein Trieb sollte erstickt werden; der absolut höchste Mensch wäre der, welcher sämtliche Potenzen des Menschentums in sich zu vollendeter Verkörperung brächte; und das kann nicht gelingen, weil jede verwirklichte Möglichkeit viele andere aufhebt oder ausschließt. Alle konkretisierbaren Ideale stehen in Wechselbeziehung zu einer bestimmten Naturbasis ; so lassen sich vollendete Engländer oder Franzosen, vollendete Weisen, Heilige, Könige, Künstler denken, aber keine vollendeten Menschen schlechthin. Der vollendete Mensch, als Typus gedacht, ist ein Unbegriff. Dass die Menschheit dies so lange nicht begriff, hat ihr unberechenbaren Schaden zugefügt. Wie teuer ist uns die Nachfolge Christi zu stehen gekommen! Auch er bezeichnet nur die Vollendung eines bestimmten Typus (der freilich gewechselt hat, je nach der Vorstellung, die man sich von Jesus machte), und dessen Hypostasierung zum allgemeingültigen Menschheitsideal hat Millionen schönster Anlagen an der Entfaltung verhindert. Daher die in so vielen Hinsichten niedrigere Kulturstufe der christlichen Menschheit gegenüber der antiken, daher gewisse auf Verdrängungen zurückgehende unreinliche Züge, die den Christen überall noch heute von allen Andersgläubigen unvorteilhaft auszeichnen. Die indische Weltanschauung hat freilich in der Theorie diesen Gefahren vorgebeugt; aber eben, wie wir sahen, nur in der Theorie. In der Praxis hat die Idealisierung der entsagenden Erkenner den Tätern die Kraft gelähmt, alle äußere Lebensgestaltung entmutigt, den Tonus des ganzen Daseins herabgestimmt. Immerhin ist die Theorie gar wundersam. Sie lehrt einerseits, dass jeder Typus sein besonderes Dharma habe und nur diesem nachstreben soll, andererseits aber statuiert sie eine normale Folge: aus dem Dharma des Çudra erstehe das des Vaicja, aus dem des Vaicja das des Kschattrya, aus dem des Kschattrya das Dharma des Brahmana und wer dieses vollkommen erfüllt, verkörpere den höchstdenkbaren Menschentypus.

Sie statuiert also wohl den Zustand des Rishi als höchstes Menschheitsideal, lehrt aber andrerseits, dass dieser Zustand nur einer bestimmten Anlage erreichbar sei, die ihrerseits vom — Alter der Seele abhänge. Das höchste Ideal ist ihr sonach das höchste nicht eigentlich im Sinn absoluter Allgemeingültigkeit, sondern in dem, dass es das letztmögliche darstelle. Damit haben die Inder in der Tat die Wahrheit erfasst, welche wahr bleibt, auch wenn man das mythische Gerüst, das sie trägt, ganz fallen lässt. Unzweifelhaft trägt die Weisheit Alterszüge, unzweifelhaft steht sie der Jugend nicht an; unzweifelhaft lässt sie den alt erscheinen, der sie in noch so jungen Jahren gewann. Aber ebenso unzweifelhaft bezeichnet sie die Krönung des Lebens. Mehr als weise kann man nicht sein. — Wären die Inder in der Praxis ebenso einsichtig gewesen wie in der Theorie, so könnte man wohl sagen, sie hätten das Lebensproblem gelöst. Aber die Voraussetzung trifft eben nicht zu. Trotz ihrer besseren Einsicht haben sie im Weisen als Typus ein allgemeingültiges Vorbild gesehen. So ist es zu erklären, dass die modern-europäische Menschheit trotz ihrer Roheit, Erdbefangenheit und Seelen-Blindheit, ja wegen ihrer materialistischen Ideale, die eben die echten Ideale ihrer Naturstufe sind, im ganzen auf einer menschlich-höheren Stufe steht, als die von Indien.

Es ist ein Aberglaube — vielleicht der Aberglaube, welchen abzulegen heute am meisten not tut —, dass das Ideal in irgendeinem bestimmten Zustande verkörpert liegt. Kein Wesen steht vereinzelt da; vom Standpunkte des Alls ist die ganze lebendige Natur ein Zusammenhang, ist das Einzelne nie mehr als ein Element und keins ist denkbar, welches die übrigen resümierte, wie dies der Fall sein müsste, damit es allen als Vorbild gelten könnte. Jedes ist ein Organ des Lebens, nicht mehr, und daher nur vom Ganzen her zu verstehen, nur in Wechselbeziehung zu anderen, anders qualifizierten Organen in seiner Sonderart daseinsberechtigt. Aber es gibt Elemente von verschiedener Bedeutung; auf einigen ruht viel Nachdruck, auf anderen wenig. Und auf die hin, welche viel bedeuten, ist das übrige abgestimmt. Die Typen, welche die Menschheit seit je als höchste verehrt hat, verkörpern die Grundtöne in der Symphonie; je richtiger sie verteilt sind, je voller und reiner sie erklingen, desto schöner die Musik. Die Heiligen und Weisen verkörpern die Grundtöne, während in den übrigen Typen nur Mittel- und Obertöne inkarniert sind: dies ist der einzige Sinn, in welchem jene über den anderen stehen. Aus dieser Bestimmung ergibt sich von selbst, wie sich die einen zu den anderen verhalten sollen. Die Obertöne sollen nicht zu Grundtönen werden wollen, aber abstimmen sollen sie sich nach ihnen: in diesem Verstand tut allen Menschen die Verehrung der Weisen und Heiligen gut. Insofern diese Grundtöne sind, ist ihr Dasein auch notwendig — notwendiger fürwahr als alles nützliche Handeln der Männer der Tat: sogar ein verhaltener, ja ein nicht angeschlagener Grundton wirkt; ist die Musik auf ihn nur abgestimmt, so ist es gut. Deshalb schadet es nicht, dass Heilige selten sind, dass ein Christus, wie wir ihn verehren, vielleicht niemals gelebt hat; so ist es durchaus in der Ordnung, dass die verehrten Großen Metamorphosen durchmachen im Laufe der Zeit: wo die Melodie ihre Tonart ändert, muss gleiches mit den Grundtönen geschehen. Aber diese allein tun es nicht; keine Baßgeige ersetzt das Orchester; nur in diesem kommt sie selber zur Geltung. So macht der Heilige das Weltkind nicht überflüssig, sondern beide sind unmittelbar auf einander angewiesen.

Von hieraus erscheint denn die alte Frage der absoluten Werte gelöst. Freilich gibt es solche, aber nur im Sinn von Grundtönen. Auf sie ist das Lebensganze bezogen; immer gelingt es, sie als das Wesentliche zu erweisen. Aber andrerseits misslingt es je und je, von ihnen allein aus dem Leben theoretisch gerecht zu werden oder es praktisch zu gestalten. So oft das versucht ward, erschien es verdürftigt, verarmt; es war, als ob die Pastoral-Symphonie von lauter Kontra-Bässen aufgeführt würde. Eine puritanische Weltauffassung hat immer nur geschädigt; wo das Moralische oder das Spirituelle allein als wertvoll anerkannt ward, ist dieses immer zum Nachteil der menschlichen Vollkommenheit geschehen. So musste es kommen. Allerdings sind die absoluten Werte an sich selbst in den Typen des Heiligen und des Weisen verkörpert, aber für sich allein sind diese nichts; sie setzen alle anderen voraus. Drum ist es lächerlich, verfehlt, ja frevelhaft, vom Standpunkt absoluter Werte her irgendwelche Erscheinungen vernichten zu wollen, die in ihrer Art vollkommen sind: was immer sie seien, sie widerstreiten den absoluten Werten nicht; diese bedingen vielmehr jene von innen her, wie der Grundton die Diskantfolgen bedingt. So münden denn auch diese Betrachtungen in der Erkenntnis ein, die sich so oft schon als letztes Wort erwies: Vollendung, spezifische Vollendung ist das eine, einzige Ideal, welches jedem gemäß ist. Ob einer zum Grund- oder zum Oberton geboren ward, ist Gottes Sache; die seine ist, rein zu erklingen.

Nun ist klar, inwiefern Buddha und Christus nicht allein, sondern auch die großen indischen Erkenner, die Rishis, doch als allgemeingültige Vorbilder gelten dürfen: nicht als Typen, sondern als Vollendete. Als Typen bezeichnen sie Sondererscheinungen, nur denen als Ideale ersprießlich, die dem gleichen Typus angehören wie sie. Aber als Vollendete, als Wesen, die im Rahmen eines beliebigen Typus ihre Möglichkeiten vollkommen erfüllt haben, können und sollen sie allen ein Beispiel sein.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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