Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

Deutschland

Er-leben

Der deutsche Gelehrtengeist erscheint den anderen Völkern nun desto unheimlicher, als er die ganze traditionelle deutsche Maßlosigkeit zum ausführenden Organ hat. Auf diese brauche ich hier nicht näher einzugehen: es ist die eine Eigenschaft, die alle ausländischen Beurteiler von jeher einstimmig bemerkt haben und die der Deutsche selbst nur teilweise richtig deutet, wenn er sie in Funktion seines Weitengefühls und Unendlichkeitsstrebens bestimmt. Das Verallgemeinern des Gelehrten in der Abstraktion findet seinen völkisch-praktischen Ausdruck in Überarbeit und Massenproduktion. Treten sogenanntes Weitengefühl und Unendlichkeitsstreben in den Dienst des Gelehrten, dann wird aus ihnen zwangsläufig empirische Maßlosigkeit; dann führen sie zur Alleinherrschaft von Masse und Zahl; dann ist das Ergebnis häßlicher als in Amerika, weil es nicht naiven Überschwang zum Ursprung hat, sondern trockene Berechnung. Denn es handelt sich dabei eben nicht nur um Unendlichkeitsstreben und Weitengefühl als Wertbestimmtheiten, sondern zugleich um das Chaos einer noch ungebändigten Dynamikernatur und das Geltungsbedürfnis des Introvertierten, dem in dieser Welt nicht ganz geheuer ist. Das Unheimliche der deutschen Maßlosigkeit wird nun vollends unverständlich, wo es sinnlos waltet. Der tiefste Impuls des Deutschen ist anti-zweckhaft. Er tut, was er von innen her muss. Aber wenn dies im Fall des Hochbegabten zu seltensten Leistungen und Schöpfungen führt, so führte es beim Volk als Ganzem durch seine ganze Geschichte hindurch typischerweise zu dem, was ich in Deutschlands wahrer politischer Mission als sinnloses Heldentum bestimmte. Der Landsknecht recht eigentlich war zu allen Zeiten des deutschen Täters Urbild. Nun ist das sinnlose Heldenleben des Kriegers immerhin schön, denn es bejaht die Tragödie, baut sich auf dieser auf, und alle Tragödie ist tief. Eine Tragödie des Geschäftsmanns gibt es demgegenüber nicht. Wenn auch dieser wieder und wieder für nichts riskiert, wenn auch er den zweckfreien Eroberer spielt, so ist das nicht nur sinnlos, sondern widersinnig. Und da kein Mensch solang er irgend kann, an absolut Sinnloses glaubt, so wird der Deutsche gerade hier, wo er am absichtslosesten waltet, der schlimmsten Ränke verdächtigt. Seine Michelei wird als unerforschlicher Ratschluss Satans missverstanden. Vollends unheimlich wird aber Nicht-Deutschen zumut, wenn sich die deutsche Maßlosigkeit und der deutsche Idealismus zusammen in den Dienst des schlechthin Irrationalen, ja Widersinnigen stellen, wie im Fall der Freude an Amerikas Eintritt in den Weltkrieg (Viel Feind’, viel Ehr!), der Hingabe an die Inflation, der Neuverschuldung zwecks überflüssiger Ausgaben, und dem Programm der nationalsozialistischen Bewegung. Da schaut er erschauernd alle Zeichen des Wahnsinns bei einem nachweislich gesunden gutbürgerlichen Durchschnittsmenschen. Denn nur der erfahrene Psycholog kann verstehen, dass maßlose Sachlichkeit ebenso maßlosen Irrationalismus und Subjektivismus zur Wiederherstellung des inneren Gleichgewichtes fordert.

Doch mit den betrachteten sind die deutschen Missverständlichkeiten noch nicht erschöpft. Beim Deutschen liegt der primäre Bedeutungsakzent, wo überhaupt das Innerliche mitspricht, nicht auf dem Leben, sondern dem Er-leben (ein Wort, das es bezeichnenderweise in keiner anderen Sprache gibt), im Pathos und nicht im Ethos. Sein zweites Wort ist: das war ein ungeheures Erlebnis. Großes Erleben nun kann den verschiedensten Ursprung haben. So kann eine Niederlage unter Umständen ein größeres Erleben vermitteln als ein Sieg. Dies hat denn die von 1918 getan. Sie hat sicher befruchtender gewirkt, als es der Sieg bei den Siegervölkern getan hat. Ebendeshalb steigt Deutschland seither unaufhaltsam wieder auf. Wie sollen das Franzosen verstehen, denen die Gloire das Höchste ist? Wie die Briten, deren Psyche zwar von jeder Erfahrung tief beeinflusst wird, doch nicht im Sinne subjektiven Erlebens, sondern organischer Wandlung? Wie die Italiener, die überhaupt nichts erleben? Und nun bietet der Deutsche gar das unglaubliche Schauspiel, dass jeder für sich eine Monade ohne Fenster ist und die Gesamtheit doch wie eine Maschine funktioniert!

Hiermit hielten wir denn bei der entscheidend wichtigen Spannung in der Deutschen-Natur. Insofern der Deutsche als Typus Gelehrter ist, ist er introvertiert und damit außer unmittelbarem Kontakt mit der äußeren Wirklichkeit. Aber andererseits ermöglicht gerade die gelehrte Zentrierung des Bewusstseins in der herausgestellten Vorstellungswelt, so sie (im kantischen Verstände) praktisch wird, ein Höchstmaß von Massenorganisation. Denn da unterstellt sich einfach das Leben von Millionen einem Begriff. Da herrscht dieser absolut, das Persönliche des einzelnen spricht überhaupt nicht mit. Versteht man da nicht das Sprichwort des russischen Muschik, der dem Deutschen alles ihm Unverständliche zutraut: er habe sogar den Affen erfunden? Der Deutsche sieht tatsächlich den anderen nicht. Er ist nicht, wie der Mittelländer, marktgeboren, er sieht sich selbst nicht primär vom Standpunkt der anderen, er weiß praktisch überhaupt nur von sich. Und auch sich sieht er nicht eigentlich — sehen kann man nur von außen her; deshalb täuscht er sich zumeist über die Art seines wirksamen Wesens; deswegen ist alles, was er über sich sagt und schreibt, vom Standpunkt der anderen gewöhnlich Phantasmagorie. Es mag in der Erlebnissphäre wahr sein, aber dieses Sosein ist wirklich nur für den, welcher sie so erlebt. Des Deutschen Allverstehen erfolgt tatsächlich nur in der Phantasie, die sich kompensatorisch zur realen Erlebnis-Enge in desto weiteren Räumen bewegt. Hieraus erklärt sich denn vielerlei. Vor allem der dauernde deutsche Schrei nach Gemeinschaft — ein Schrei, den keiner ausstößt, dem Gemeinschaft natürlich ist. Der Sinn möglicher Gemeinschaft wird in Deutschland vollkommen verkannt. Gerade dort soll es Gemeinschaft geben, wo jeder einzig ist und folglich einsam bleiben muss. Dementsprechend bedeutet deutsche Gemeinschaft beinahe allemal ein Zunahetreten gegenüber dem Heiligtum des einzelnen. Darum werden Gemeinschaften in Deutschland typischerweise auf etwas hin gegründet, wo sie allein von etwas oder einem her in Gutem sinnvoll sind. Daher die unausdenklichen Greuel des deutschen Vereinswesens. Sie alle haben ihren Seinsgrund darin, dass der Deutsche den anderen ursprünglich überhaupt nicht sieht. Seine besondere psychologische Einstellung bedingt, dass er mit seinen Mitmenschen von Hause aus keinen empfindungs- und gefühlsmäßigen Kontakt hat. Deswegen legt er auf Gemütsäußerungen soviel Wert. Der selbstverständlich tief Empfindende ist in seinen Äußerungen instinkthaft keusch. Der Deutsche glaubt an Gemüt nur, wenn es exhibiert wird, denn sonst bemerkt er es nicht. Nun, nicht anders ist der Gelehrte in anderen Ländern auch. Aber nur in Deutschland ist die Mehrheit so. Und diese selbe Mehrheit ist organisiert, im höchsten Grade weltgewaltig, und sie gibt den allgemeinen Ton an! Denn das tut doch nicht der Stille im Lande, den der Deutsche wohl aus unbewusster Selbsterkenntnis über alles schätzt — er fühlt: so, wie er ist, sollte er sich möglichst still verhalten —, sondern der weithin Sichtbare; in der modernen Welt also vorzüglich der Handlungsreisende. Ja, wenn unter allen diesen Umständen den anderen nicht angst und bange werden soll, dann muss das Gruseln außerhalb des Bereichs der seelischen Möglichkeiten liegen. Es gibt wohl noch mehr Gründe für das deutsche Unverstandensein. Aber die angeführten erklären, meiner Meinung nach, vollauf jenes deutsche Schicksal.

Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
Deutschland
© 1998- Schule des Rades
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