Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

Ungarn

Möglichkeit der Freiheit

Aus voller Überzeugung sang ich das Hohe Lied des Grandseigneurs. Und aus voller Überzeugung tat ich’s, anlässlich Ungarns, gerade in diesem Europa-Buch. Denn alles, was Europa jemals groß gemacht, beruht auf dem aristokratischen Geist, welcher heute nur noch Ungarn als Volk belebt. Wem diese Einsicht schwer fällt, bedenke, dass was ich als Grandseigneur beschreibe, nichts anderes ist als der Kultur-Typus der Menschenart, die gerade das jüngst-deutsche Bewusstsein als nordischen Menschen idealisiert. Was diesen vor niederen Rassen auszeichnen soll, ist, auf die Grundanlagen zurückgeführt, eben das, was ich aristokratische Gesinnung heiße. Nun sind die Ungarn freilich die Nachkommen eines ursprünglich turanischen Stamms. Aber auf Grund der Ergebnisse der jüngsten Urgeschichtsforschung, ja auf Grund der Lehren des tiefsten deutschen Apostels des Nordentums, Herman Wirths (siehe seinen Aufgang der Menschheit, Jena 1928, Eugen Diederichs), muss die Auffassung, dass der heutige nordische Mensch, der Germane oder gar der Deutsche, an sich höherer Art sei, als sachlich erledigt gelten. Sicher trifft aber das folgende zu: es ist nicht wahr, dass das Höhere sich überall, wenn je überhaupt, aus dem Niedrigen entwickelt hätte; es gibt ursprüngliche Herrenelemente unter den Menschheitsgenen. Dieses ursprünglich Herrenhafte ist bei den jüngeren Völkern Europas, zu denen noch die alten Griechen und Römer zählen, zweifellos nordischen Ursprungs, und es ist nicht ausgeschlossen, dass Herman Wirth recht hätte mit seiner Theorie, das meiste erbliche Herrentum gehe auf Zumischung des Bluts einer Ur-Menschenart zurück, die in der damals noch warmen Arktis entstand und heranreifte und von dort ausstrahlend Amerika, Europa und Ostasien besiedelte. Aber worauf es ankommt, ist das Herrenhafte, nicht das Nordische; jenes, nicht um dieses handelt es sich beim Ernstzunehmenden am nordischen Ideal. Und viele Nicht-Norden sind insofern nordischer als die Nordvölker; so die Spanier im Vergleich mit den heutigen Deutschen. Jedenfalls aber gibt es unter Turaniern mehrere echte Herrenvölker, und zu diesen gehören heute an erster Stelle die Magyaren. Deren Oberschichten haben sich überdies mit arischen Herrengeschlechtern vermischt. Doch wie dem auch im besonderen sei: worauf es mir in diesem Zusammenhang ankommt, ist einzig der Hinweis darauf, dass was ich als Grandseigneur preise, eben der Typus ist, der einerseits unzweifelhaft Europa zu dem gemacht hat, was es im guten ist, und andererseits in seinen großen Zügen dem Idealbild des nordischen Menschen entspricht. Dem Arbeitsethos alle Ehre; die Frage, dass die einen arbeiten sollen und andere gar nicht, stellt sich auf keine Zukunft mehr. Aber das Ideal besteht nicht in dessen endgültigem Sieg. Alle wichtigen Entscheidungen fallen jenseits der bloßen Beschäftigungsmöglichkeit. Routine kann nie mehr als ausführen. Freilich muss auch der Schöpferische in diesem Verstände arbeiten — dies gehört zum Schicksal, gleich wie das Herz dauernd schlagen muss. Aber nie liegt bei ihm auf ihr der Akzent. Er weiß, wo Arbeit mehr bedeutet als Ausführung, dort hindert sie die Auswirkung des Wesentlichen. Und selbst die Ausführung kann die Inspiration stören. Deshalb liegt der wahre Fortschritt darin, dass die Arbeit immer weniger Aufmerksamkeit beansprucht. Darin, und nicht in der Möglichkeit immer größerer und billigerer Produktion, liegt der Segen der Erfindung der Maschine.

Dank ihr kommen wir vielleicht äußerlich einmal so weit, dass Knechtstum überhaupt aufhört. Aber vor ihrer Erfindung konnte Arbeitsethos nur Sklaven- oder Unterdrücktenethos sein. Deshalb haben die Juden es erfunden. Deshalb war es in vormodernen Tagen nur in Theokratien von breitesten Volksschichten innerlich akzeptiert; so in Peru und Ägypten. Die heutige Arbeitsverherrlichung, wie sie zumal in Deutschland blüht — hier allein hat die unwürdige Bestimmung des Geistesmenschen als geistigen Arbeiters Kurs —, ist nur als Übergangserscheinung nicht Zeichen von Niedergang: sie führt den innerlich noch Unfreien in langsamem Übergang dem Zustand des Freien zu. In der vormodernen Welt nun bestand ausschließlich für den geborenen Herren oder aber für den, der sich diese Stellung eroberte, die Möglichkeit der Freiheit. Diese eine Erwägung allein erklärt, warum alle bisherigen Kulturen von Eroberervölkern gegründet wurden. Wo alle bedrückt sind, entsteht zwangsläufig Ghetto-Gesinnung, d. h. die Herrschaft des Ideals der Sardinenbüchse, in welcher alle gleich liegen oder wo, falls die eine über der anderen zu liegen kommt, dies nichts bedeutet. Wo alle nur in dem Sinne frei sind, wie zuerst die Schweizer es waren und es heute in den meisten Demokratien in die Erscheinung tritt, herrscht zwangsläufig Neid, das Qualitative wird unterdrückt und als höchstwertig gilt das gerade knapp Normale; da wird sogar der Große nur anerkannt, soweit er Normalmensch ist, in dem Sinn etwa, wie ein Abgeordneter bei der Beerdigung Alfred de Mussets (ausgerechnet dieses!) pathetisch sagte: Il fut non seulement un grand poète, il fut un honnête homme. Solche persönlichkeitsverneinende Gesinnung erkennt denn natürlich desto mehr das Geld als wertbestimmend an. Erstens ist dieses an sich qualitätslos; jeder könnte es haben, was von Gesinnung und Kultur nicht gilt. Vor allem ist aber der Arbeitende gewohnt, bezahlt zu werden und den Wert des Arbeitgebers nach dessen Zahlkraft einzuschätzen. Dies führt uns denn zum Sonderfall Amerika. In diesem freien Land, in welchem jedes Herrentum geleugnet wird, wird dem Bezahlenden auf dem Gebiete, wo er zahlt, absolute Macht selbstverständlich eingeräumt, sogar über die Gesinnung. Gerade Amerika beweist die absolute Superiorität des ursprünglich Freien dadurch, dass in diesem Neuland, das von armen Flüchtlingen zuerst bevölkert wurde, welche Freiheit demzufolge nicht im Sinn des Herrentums, sondern der Ungebundenheit durch Herren verstanden, trotz der sonstigen Selbständigkeit jedes einzelnen kein innerlich freier Menschentyp erwächst. Man gedenke nur des amerikanischen Konventionalismus, der jeden europäischen hundertfach übertrifft. Nun sollten freilich alle innerlich frei werden. Doch dies gelingt selbst unter den günstigsten äußeren Umständen nur langsam. Das Unbewusste wird von fernen Vorfahren regiert. Hendrik de Man hat in seiner Psychologie des Sozialismus nachgewiesen, dass gerade das sozialistische, also das nachbürgerliche Ideal noch durchaus Exponent psychologischer Ansprüche ist, die aus der Feudalzeit stammen… Deswegen rede man ja nicht von qualitativem Fortschritt, wenn man der Ablösung von Aristokratie durch Demokratie gedenkt. Letztere kann einen absolut höheren Zustand vorbereiten, indem sie aller Knechtsgesinnung die äußerliche Basis nähme; erreicht wäre jener erst, wenn sie auch alle innerlich so wären, wie geborene Herren.

So ist es denn eigentlich selbstverständlich, dass alle bisherige Kultur von Eroberervölkern gegründet wurde. Sie allein waren von Hause aus Herren. Gewiss beruht eben hierauf das Unzulängliche der bisherigen Kulturen. Der kleine Mann oder der Mann von der Straße wäre nie zum Ideal geworden, hätte er nicht zeitweilig unwürdige Behandlung erlitten. Die alten Missstände in dieser Hinsicht zu beseitigen, darin liegt die positive Aufgabe unserer gleichheitsgläubigen Übergangszeit. Doch das menschliche Ideal verkörpern nach wie vor die Herrenvölker. — Versteht man nun, warum ich Ungarn so hochstelle? Es ist das einzige Land Europas, in dem dieses Höchstwertige grundsätzlich noch bestimmt. Es bestimmt nicht in idealer Verkörperung, fern davon. Doch es bestimmt überhaupt. Und da nur sichtbare Ideale bildend wirken, so ist es von größter Bedeutung für Europa, dass Ungarn richtig gewürdigt werde.

Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
Ungarn
© 1998- Schule des Rades
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