Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

Schweden

Freundlichkeit

Aber die Schweden sind doch wiederum ganz anders als die Briten. Das ist, weil ihrem Charakter jede Spannung fehlt. Seit sehr langer Zeit geht die Geschichte an Schweden vorüber. Seither hat es hauptsächlich Glück gehabt — von der besonderen Tatsache, dass die meisten über ihre Verhältnisse leben und dieselben Kreise, denen sie angehören, aus irgendeinem rätselhaften Grund doch nie verarmen, bis zu historischen Zufällen. So hat sich in Schweden ein richtig phäakenhafter Zustand ausgebildet. Meiner Ansicht nach trifft diese Bezeichnung auf Schweden besser zu als auf Dänemark, auf die ich sie mehrfach angewendet hörte, weil die Schweden die freiere, vornehmere Grundanlage haben. Die Phäaken waren ja wesentlich nicht Philister. Doch sie waren allerdings materiell. Und der Nachdruck liegt in Schweden unzweifelhaft auf dem Materiellen. Nirgends auf Erden, dass ich wüßte, wird auch nur annähernd so viel gegessen — und an Essen vertragen. Sogar das schadet echten Schweden nicht, dass sie unmittelbar nach reichlichem Mahl in die kühle See hinausschwimmen, um neuen Appetit zu sammeln; andere Leute stürben da am Herzschlag. Mehrfach wurde mir zugemutet, am selben Abend mehrfach zu dinieren und auch jedesmal tatsächlich mitzuspeisen: denn einmal war’s um 7, das andere um 8. Absagen gilt als unhöflich. Man darf da immer nur ja sagen und dann danken. In bezug auf die Art des Verdauungsapparats lassen sich die Schweden möglicherweise von anderen Menschen ebenso unterscheiden, wie Tiefseefische von gewöhnlichen; eine diesbezügliche Untersuchung lohnte vielleicht der Mühe. Die materielle Grundeinstellung versinnbildlicht auch das schwedisch-nationale Tanzen — es ist vor allem ein Sich-Austoben. So wird auch leicht in anderem materiell übertrieben. Die Söhne vieler Länder stolzieren gern in Orden einher. Doch einzig in Schweden sah ich je, dass um den Hals gleichzeitig viele Orden getragen wurden, so dass deren illustre Besitzer ein ganz klein wenig Kropftauben glichen. Ja, immateriell sind die Schweden sicherlich nicht. Aber all ihr Irdisch-Schweres wird, noch einmal, von außerordentlicher Freundlichkeit belebt. Und diese ist ihrerseits Ausdruck — damit knüpfe ich am Beginn dieses Absatzes wieder an der vollkommenen Spannungslosigkeit des schwedischen Charakters, so dass man immer wieder schwankt, ob man es nicht gar mit Engeln zu tun hat. Die einzige Spannung, die ich in Schweden bemerkt hätte, ist die zwischen Nüchternheit und Rausch. Diese Spannungslosigkeit erklärt denn das Fortbestehen von Einrichtungen ältester Zeit in diesem sonst äußerlich hypermodernen Land. Ein Vertreter des Adels klagte mir, dass dieser jüngst seine letzten Privilegien verloren hätte. Welche waren dies? Dass Edelleute ihre Dienstboten schlagen dürften und vor bestimmten Gerichten nicht zu erscheinen brauchten. Ich war sprachlos: ähnliche Vorrechte gab es schon lange nirgends mehr in Ländern vergleichbarer Zivilisation. In Schweden konnten sie fortleben, weil niemand sie missbrauchte. So wirkt auch der Stil des Hofs, in schroffem Gegensatz zum spanischen, nicht als Wirklichkeit, sondern als liebenswürdiger Schein. Er wirkt ähnlich wie die französische Gesellschaftskultur, welche in Schweden, wenn auch abgeschwächt, noch im Sinn des 18. Jahrhunderts fortlebt: als Akzentuierung der Höflichkeit. Sicher tritt eine monarchisch konstituiert moderne Demokratie — und letzteres ist Schweden mehr als jedes Land — zumal dem Fremden liebenswürdiger entgegen als eine Republik. Wobei mir einfällt, dass eigentlich auch Frankreich, sozial betrachtet, monarchisch verblieben ist. Hat es keinen eigenen Fürsten mehr, so bedarf es desto mehr des Daseins fremder. Was würden die Franzosen wohl machen, wenn alle fremden Könige, derer ihr Lebensstil gelegentlich bedarf, entthront würden?…

Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
Schweden
© 1998- Schule des Rades
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