Schule des Rades

Hermann Keyserling

Zur Wiedergeburt der Seele

Der natürliche Wirkungskreis

Grenzen möglicher Selbsterkenntnis

Ich will es bei diesen konkreten Ausführungen bewenden lassen, denn hier ist es uns einzig um Grundsätzliches zu tun. Dieses aber müssten die wenigen ausgeführten Beispiele schon einleuchtend gemacht haben, weshalb jedes weitere Wort, gemäß dem oben Angeführten, das Verständnis beeinträchtigen würde. Gehen wir nunmehr weiter. Jeder Mensch hat, als Naturerscheinung, einen natürlichen Wirkungskreis; er hat ihn genau so notwendig, kraft seiner Spezifität, wie jeder Stern, und dies zwar unabhängig von seinem rein geistigen Wert, insofern man diesen in Funktion des Absoluten und nicht der möglichen irdischen Bedeutung definiert. Was ergibt sich hieraus als praktische Folgerung? Ich sehe keine andere als die, dass der allein die äußerste ihm erreichbare Wirkung ausüben kann, der seinen natürlichen Wirkungskreis exakt bestimmt, d. h. seine Grenzen richtig erkennt und als Naturtatsachen akzeptiert. Denn da er unter keinen Umständen für die Dauer mehr erreicht, als in ihm liegt, so helfen Einbildung und Absicht nichts.

Dieser unzweifelhaft allgemeingültige Satz bedingt nun aber keinen Abschluss unserer Untersuchung, im Gegenteil — er erweist sich auf einmal als Problem, was der Mehrzahl den selbstverständlichen Ausgangspunkt alles Nachdenkens über Menschenschicksal bedeutet: dass der natürliche Wirkungskreis sowohl seitens der Betreffenden selbst als der anderen in der Regel nicht erkannt wird. — Betrachtet man diesen Tatbestand von der Erkenntnis her, dass der Mensch als empirische Wirklichkeit ein Naturfaktor ist, in Analogie mit anderen Naturfaktoren, so wirkt er unmittelbar absurd: wer ein Atom für eine Sonne hielte oder umgekehrt, erschiene lächerlich; Gleiches gälte für das Atom, welches durchaus die Attraktions- oder Leuchtkraft einer Sonne ausüben wollte und anderen darum grollte, dass sie es richtig einschätzten; dasselbe, mutatis mutandis, für die Sonne; das Gleiche von verschiedenartigen Körpern untereinander.

Unter Menschen hingegen wird falsche Vorstellung grundsätzlich als berechtigt anerkannt, wenn nicht gefordert, und richtige entweder als besonderes Verdienst gefeiert oder aber verurteilt. So ist die menschliche Beziehung, im Gegensatz zu allen anderen in der Natur, typischerweise eine solche zwischen Unwirklichkeiten; so wird hier der natürliche Wirkungskreis nur ausnahmsweise erkannt und die natürliche Auswirkung — da Missverstehen auf psychischem Gebiete Tatsachen schafft — behindert. Nur auf dem Gebiet des reinen Könnens wird, wo dies im dringenden persönlichen Interesse der Entscheidenden liegt, über den zu gewährenden oder zu schaffenden Wirkungskreis in der Regel einsichtsgemäß entschieden. Auf dem des Seins urteilt kaum einer einsichtsgemäß. Nur ausnahmsweise stand je der rechte Mensch am rechten Platz. Kaum je wird ein Geist als das, was er wirklich ist, rechtzeitig erkannt. So offenbart sich der natürliche Wirkungskreis zumeist erst im Medium verspäteter Klage über Missverstehen, dank dem Verkanntsein — o Ironie! — sogar als Grundkennzeichen des Großen und Echten gilt. Wie ist solcher Un-Sinn möglich? — Er ist möglich, weil der Mensch sich von allen Naturerscheinungen dadurch unterscheidet, dass ihm die Fähigkeit zum Irrtum innewohnt. Die Diskrepanz zwischen Vorstellung und Realität ist bei ihm Urphänomen.

Aber eben insofern ist der Mensch allen anderen Geschöpfen anderseits überlegen. Weil die Vorstellung bei ihm nicht, wie beim Tier, ans Gegebene gebunden ist, deshalb allein vermag er zu erfinden. Ebendeshalb vermag er das Gegebene zu ändern, fortzuschreiten, aufzusteigen, höhere Wahrheiten zu entdecken. Wenn seine Vorstellung einerseits Nicht-Wirkliches spiegelt, so kann sie solches, ebendeshalb, in Wirkliches umsetzen. Es ist also ein ursprünglich Positives, das zum Un-Sinn führt. Also muss es möglich sein, diesen in höheren Sinn überzuführen. Das ist es in der Tat. Auf Grund der Einsichten, die wir im Vorhergehenden gewannen, kann es, wenn sie zur Geltung gelangen, gelingen, den natürlichen Wirkungskreis, welchen jedes Naturwesen außer dem Menschen selbstverständlich auswirkt, den dieser aber von Hause aus nicht kennt und nicht besitzt, auch ihm als normale Errungenschaft zu sichern, dank wem das Menschenleben auf höherer Stufe die gleiche Harmonie darstellen könnte, wie das der Tiere. Und zwar kann dieses Ziel aller sozialen Utopie durch den Sieg unserer Erkenntnisse allein erreicht werden, durch keinerlei soziale Reformen noch gar Revolutionen.

Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele · 1927
Der natürliche Wirkungskreis
© 1998- Schule des Rades
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