Schule des Rades

Leo Frobenius

Paideuma

II. Das Paideuma des Individuums

7. Das Paideuma in der dämonischen Welt des Kindesalters

Ein Gelehrter arbeitet an seinem Schreibtisch; sein vierjähriges Töchterchen läuft im Zimmer umher; das Kind ist ohne besondere Beschäftigung und stört; der Vater gibt ihm drei abgebrannte Streichhölzer und sagt: Hier spiele. Das Kind lässt sich auf den Teppich nieder und spielt mit den drei Streichhölzern: Häuschen, Grete und Hexe. Eine lange Weile geht das so hin. Der Gelehrte kann sich ungestört seiner Arbeit widmen. Plötzlich beginnt das Kind erschreckt aufzuschreien. Der Vater fährt auf, Was ist? Ist dir etwas zugestoßen? Das Kind (unter Zeichen größter Angst herbeilaufend): Vater, Vater, nimm die Hexe fort, ich kann die Hexe nicht mehr anfassen! —

Ähnliche Beispiele aus dem Kinderleben wird ein jeder, der Beobachtungsgabe für solche Vorgänge besitzt, jederzeit und in großer Zahl gewinnen können. Was das angeführte Vorkommnis so besonders auszeichnet, ist die eruptive Form des Affektes im Zusammenhang mit der isolierten Selbstbeschäftigung. Dieser Ausbruch zeigt einen Vorgang an, der sich in der Vorstellungs- und Erkenntniswelt des Kindes abgespielt hat. Es tritt eine Verschiebung ein. Das Streichholz als Hexe ist ihm zum Bewusstsein gekommen; nur so ist der Affektausbruch zu erklären. Also muss die Vorstellung des Streichholzes als Hexe sich vorher auf einer anderen Fläche bewegt haben, die ich im Gegensatz zu der des Bewusstseins als die des Gemütes bezeichne.

Der Affektausbruch kennzeichnet hier also die spontane Verschiebung einer Vorstellung von der Fläche des Gemütes auf die Fläche des sinnlichen Bewusstseins.

Aber noch mehr: Die Erscheinung des Affektausbruches bedeutet offenbar den Abschluss eines seelischen Vorganges. Das Streichholz ist keine Hexe; es ist auch zunächst für das Kind keine Hexe; der Vorgang beruht also darin, dass das Streichholz auf der Fläche des Gemütes zur Hexe geworden ist, und dass der Abschluss dieses Vorganges gleichbedeutend mit dem Herübertritt der Vorstellung auf die Bewusstseinsfläche ist. Die Beobachtung des Vorganges entzieht sich der Nachprüfung durch bewusstes Denken, denn er tritt erst nach oder mit seiner Vollendung in das Bewusstsein ein. Da die Vorstellung aber ist, muss sie geworden sein. Der Vorgang ist im eminenten Sinne schöpferisch; denn hier zeigt sich, dass im Menschlein aus einem Streichholz eine Hexe werden kann. Kurz gefasst: Das Werden spielt sich auf der Fläche des Gemütes (welches Wort hier eine andere Bedeutung hat, als man ihm sonst beilegt) ab, das Sein auf der des Bewusstseins.

Das Paideuma hat hier nach einem Wort Goethes im Wilhelm Meister etwas Vergeistertes. Es erfüllt die Welt des Kindes mit Dämonen. Diese Dämonen (oder das Geisterhaft-Ungewisse der Umgebung) sind die infantilen Lebensäußerungen des Paideuma, die dem Werden entsprechen und sich als Phänomen, dem menschlichen Nachdenken unzugänglich (weil das Nachdenken sich auf den Flächen des Bewusstseins und des Verstandes abspielt), auf der untersten Fläche, auf der des Gemütslebens abspielen, und die erst mit Abschluss des Entstehungsvorganges spontan in das Bewusstseinsleben eintreten.

Das Dämonische ist dem Verstände nur in Auswirkungen zugänglich. Auch dem erwachsenen Menschen, der in den höchsten Momenten der religiösen und künstlerischen Erregung den Dämonen verfällt, ist dieser Zustand später unverständlich. Die Wirklichkeit solcher Zustände ist aber eine so eminent bedeutsame, dass die Zukunft erstaunt sein wird, wie wenig ihnen bis heute Beachtung geschenkt worden ist. Das ist nur damit zu erklären, dass sie zum ersten nur bei Kindern, genialen Menschen und primitiven Völkern, dass sie zum zweiten auch bei diesen unverkümmert nur in ihrer sporadischen und spontanen Weise auftreten.

Welche Bedeutung die dämonischen Momente haben? Bedenkt doch nur, was es heißt, dass das Streichholz vom Kinde zur Hexe umgeschaffen wird! Das ist das kulturelle oder paideumatische Schaffensvermögen an sich. Kein Erwachsener, kein noch so großer Künstler, kein noch so gewaltiger Gelehrter wird je imstande sein, derartige Fundamentalkraft zu zeitigen. Und dieses Beispiel ist keine Einzelheit, solche Schöpfung nicht alleinstehend. Vielmehr: im Kinde fordert das Paideuma solche Schöpfungsbetätigung. Hier ist sie die Regel, beim genialen Menschen — denn genial bedeutet dämonisch — die Ausnahme. (Genialitätswille im Gegensatz zum Tatsachen willen.) Gebt einem Kinde eine naturalistisch, bis in die Einzelheiten menschlich gebildete und gekleidete Puppe und daneben ein kümmerlich zugestutztes Holzstück mit einem Lappen, und ihr werdet sehen, dass es erstere zur Seite schiebt und letzteres mit aller Liebe hätschelt. Naturalistische Darstellungen werden vom natürlichen Kinde verworfen; Zwirnrollen, Streichholzschachteln, Steine, Zeugfetzen zieht es vor; denn das sind ihm Stoffe, aus dem das jugendliche Paideuma jubelnd schafft. Das Leben im und mit dem Dämonischen, dessen Äußerungsformen bisher schlechtweg als Spieltrieb bezeichnet wurden, ist das Schaffen, das Umbilden, das Schöpferische an sich. Das infantile Paideuma ist deshalb lediglich so lange lebens- und entwicklungsfähig, als es die Möglichkeit zum Schaffen hat.

Bezeichnend ist das Verhältnis der Dämonen zu den Tatsachen in der Welt des infantilen Paideuma. Auch das Dämonische keimt aus den im Kinde angelegten Tatsachen. Diese stellen aber für das infantile Paideuma nur das Material dar, aus dem es schafft und bildet, und die rahmenartige Begrenzung, innerhalb deren es seine Entwicklung durchmacht. — Wenigstens im natürlichen Zustand; denn im gezüchteten Paideuma wird das Dämonische, wie ich später zeigen werde, durch das Übermaß der künstlich zugeführten Verstandestatsachen anfangs häufig, später meist, im letzten Stadium endlich fast stets im Keime erstickt. Ja, man kann sagen, dass diese Züchtung überhaupt das Verkümmern des Dämonischen, das so oft gleichbedeutend mit dem Genialen ist, zur Folge hat. Im natürlichen Verlaufe des kindlichen Daseins beherrscht das Dämonische die tatsächlichen Welteindrücke und bedient sich ihrer als Stoff. Mit zunehmender Reife nähern sich dann die zunächst vereinzelten genialischen Momente einander. Die Lücken zwischen den erst nur sporadisch auftretenden werden immer kleiner, bis endlich im reifenden Leben, im Phänomen der Ichbildung und in der Gestalt der Ideale ihre Geschlossenheit, ihre Beständigkeit und ihre Wirkung zur Höhe der paideumatischen Entwicklung führt.

Aber wie im Kinde, so bleiben auch im späteren Leben die genialen Momente das eigentlich Schöpferische. Wie oft ist ein Musiker, ein Denker, ein Maler, ein Bildhauer durch einen großen Schmerz zu seinen bedeutendsten Werken angeregt worden. Ich selbst kenne einen Ingenieur, der sich ein Jahrzehnt lang mit dem Bau einer neuen Maschine fruchtlos plagte. Am Morgen nach der Nacht, in der er seiner geliebten Mutter die Augen zugedrückt hatte, warf er die Zeichnung wie selbstverständlich aufs Papier. Dieses Motiv ist so altbekannt, dass viele Märchen und Hunderte von gemachten Erzählungen es behandeln. Der Affekt ist eine naturnotwendige Erschütterung, deren es bedarf, um das Dämonisch-Geniale zu wecken. Und überall, wo der schöpferische Mensch solche Affekte nicht aus seinem Innern heraus hervorbringt, muss eine Einwirkung von außen erfolgen. Das ist der Grund, weswegen stark produktive Menschen eines ereignisreichen, wechselvollen Lebens bedürfen, weil aus der Wechselfülle des Daseins die Affekte erwachen, die die Verschiebung von der Fläche des Gemüts auf die Fläche des Bewusstseins ermöglichen. — Eine durchaus oberflächliche Anschauung ist es, die dem Affekt an sich produktive Kraft zuschreibt. Die genialen Möglichkeiten als Lebensformen des Paideuma waren stets schon vor der Erschütterung vorhanden — vorhanden auf der Fläche des Gemütes; ihr Herübertreten auf die Fläche des Bewusstseins wurde aber eben durch den Affekt ermöglicht. Es äußert sich also das Auftreten des Genialen im vorgeschrittenen Alter ebenso wie im Kindesleben. Bis zum Eintritt des zweiten (als das naiv Dämonische) Stadiums zeichnet es sich dadurch aus, dass es sporadisch und spontan, zufällig und wahllos, erscheint. Mit der Ichbildung fällt das Sporadische fort. Das Spontane behalten die genialen Momente aber und werden sie in jedem Alter stets behalten, wenn dies im späteren Leben auch weniger offensichtlich wird.

Das Dämonische stellt im Gegensatz zu den durch geistige Erfassung gewonnenen Tatsachen im Paideuma das aufbauende Leben dar. Es ist demnach der Ausdruck des Werdens des Paideuma, so wie die Ideale die des Seins und die Tatsachen die des Gewordenseins sind. Deshalb ist es beinahe gleichbedeutend mit Leben, mit der Erfülltheit des Lebens und der Gegensatz zum Wissen. Es kann beim Übertritt in das logische Bewusstsein zwar eine mitteilbare Ausdrucksform gewinnen. Es bleibt aber stets individuell und im eigentlichen Sinne unübertragbar.

Leo Frobenius
Paideuma · 1921
Umrisse einer Kultur- und Seelenlehre
© 1998- Schule des Rades
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