Schule des Rades

Leo Frobenius

Paideuma

II. Das Paideuma des Individuums

10. Paideumatische Polarität

Unter den Lehrern meiner Studienjahre werden mir stets zwei als Typen eines tiefmenschlichen Gegensatzes in Erinnerung bleiben. Der eine lehrte kantische Philosophie; der andere war Professor Heusler in Basel, der Philosophie und Geschichte der Philosophie ganz allgemein vortrug.

Ohne Zweifel war die eigentliche Quantität wirklich aufzunehmender Stoffe bei dem Kantlehrer wesentlich größer als bei Heusler; diese Menge des Wissens fuhr aber wie ein schwer bepackter Güterzug alles andere zermalmend in den Geist des Zuhörers. Das war bei Heusler nicht der Fall. Hier herrschte vielmehr die großartige Stimmung, wie sie etwa eine Wanderung durch eine gebirgige Landschaft in Nacht und Gewitter zu erwecken vermag; es war, als zuckten ununterbrochen, bald hier bald dort, die leuchtenden Blitze herunter, die hier einen wohlgeformten Hügel, dort eine malerische Baumgruppe, dazwischen ein anmutig gebettetes Gehöft, im Hintergrund aber imposante Bergspitzen zeigen, alles einzeln und unerwartet aus der schwarzen Nacht aufleuchtend, aber doch am Ende dem aufmerksamen Beobachter die Vorstellung eines großen, in sich abgeschlossenen und organisch verständlichen Landschaftsbildes gebend.

Der Erfolg beider Vorlesungen war natürlich grundverschiedener Art. Aus der einen trug ich ein klar und übersichtlich gefülltes Kollegheft nach Hause und gewann ein System geordneten Wissens, das mich sicherlich jedes Examen hätte gut bestehen lassen. Der Unterricht bei Professor Heusler zeitigte eigentlich nichts derart Fassbares oder Verwendbares; dagegen eilte ich nach jeder seiner Stunden in einer unendlich gehobenen Stimmung heim, angefüllt mit Schaffensdrang und gierig, die geschärfte Waffe anzuwenden. Und heute, nach so manchem Lustrum, habe ich mein schönes Wissen auf dem Gebiete der Kantschen Philosophie bis auf einen kleinen Rest eingebüßt, den Wetzstahl Heuslers spüre ich aber noch unvermindert, und seine Nachwirkung wird bis an mein Lebensende währen.

Ich habe dieses Beispiel angeführt, um den großen Unterschied genialer und nur tatsächlicher Einwirkungen auf das Leben zu zeigen. Es ist klar, dass der Kantlehrer ein Sammler von Tatsachen, Heusler dagegen ein Schöpfer von genialer Art war, und zwar weil ersterer wusste. Wissen ordnete und das derart Gewordene weitergab, letzterer, weil er erlebte und Erlebtes lebendig weitergab. Nicht zum wenigsten ist die nur kurze Nachwirkung bei dem einen, die dauernde bei dem andern von entscheidender Bedeutung; das Wissen an sich und die nur durch solches erzielte Geistesbildung verliert sich, wenn ungenutzt, im Laufe des Lebens; erst wenn die Bildung des jugendlichen Geistes mit den Idealen in Verbindung tritt, bedeutet sie auch eine bleibende Vertiefung, eine Entwicklung des Paideuma.

Damit ist der Unterschied des Organischen und Anorganischen im Paideuma gegeben. Das Verhältnis beider ist für die Entwicklungsfähigkeit und die Entwicklungsform des Individuums maßgebend. Ich werde in dem nächsten Kapitel über die Entwicklung des Paideuma zeigen, wie das junge Paideuma in der naturgemäßen Entwicklung anorganische Elemente automatisch übernimmt und dadurch seine Wachstumsfähigkeit fördert. Ein Beispiel dafür ist das Kind, das für die Dinge, die es als solche allmählich entdeckt, durch unwillkürliche Laute Namen und damit Kennzeichen findet. Hier ist demnach die Sprache als anorganisches Element ein Mittel, ein Werkzeug, eine Hilfe; wenn ich dagegen das Kind zwinge, einen Satz in Objekt, Subjekt und Prädikat zu zerlegen, verlange ich von ihm eine zweckmäßige Anwendung der Sprache, die dem infantilen Paideuma eine nicht nur überflüssige, sondern sogar schädigende, weil gegen seine Natur wirkende Belastung ist, insofern eine außerordentlich gefährliche Maßnahme, als sie das natürliche Wachstum der infantilen Seele hemmt. Dieses Wachstum findet auf der Fläche des Gemütes statt; die übermäßige Belastung mit fremden Tatsachen führt mindestens zu einer vorzeitigen Entwicklung des Paideuma auf der Verstandesfläche, so dass auf solche Weise Geschöpfe mit verkümmerten Leibern und übermäßig schweren Köpfen gezüchtet werden. Eine derartige Belastung kann so weit führen, dass in dem kindlichen Paideuma alles Dämonische schon ganz früh einschläft, was freilich nicht hindert, dass der betreifende Mensch nicht doch noch ein recht brauchbares Mitglied der menschlichen Gesellschaft wird. Denn in vorgeschrittenen, besonders alternden Kulturformen ist das Bedürfnis nach Intelligenz, d. h. reinem Tatsachensinn, größer als das nach Genie.

Wer vor dem Kriege einen Einblick in den mitteleuropäischen Verwaltungsapparat, die Methode der Besetzung der Professorenstühle, die maßstäbliche Bedeutung der Examina gewonnen hatte, der musste erkennen, dass der Weg der europäischen Kultur schon damals mehr und mehr von der Harmonie paideumatischer Zusammenwirkung aus der Jugend stammenden Genies und im Mannesalter reifender Intelligenz zur Bevorzugung der letzteren sich entfernte. Der bequeme Beamte wurde dem geistvollen vorgezogen, der zur systematischen Abspulung seines Semesterstoffes geeignete Professor dem genialen Geisteskämpfer und Seelenbildner. Die Menge Examina förderte vor allen Dingen die Masse des aufgenommenen und nur geschickt wiederzukäuenden Wissens, konnte aber in keiner Weise auf die Fähigkeit, das Wissen durch Erleben zu organisieren, Rücksicht nehmen.

Aus dem Zusammenhang des bisher Dargelegten geht hervor, dass die Altersklassen primitiver Kulturen einem natürlichen Stufenbau des Paideuma entsprechen, und dass sie sich entwickeln, weil sich naturgemäß die Träger des infantil Dämonischen, die der juvenilen Ideale und die der virilen Tatsachen, also dreier in ihrer Struktur wesenhaft verschiedenen Welten, untereinander am besten verstehen. In primitiven Kulturen sind die Menschen der gleichen paideumatischen Stufe also auch meistens gleichaltrig. In höheren Kulturen ist das nicht so. Dort treten zwei Entwicklungserscheinungen auf, die den primitiveren fehlen, nämlich das Wunderkind und das Genie. Das erstere ist gleichbedeutend mit dem vorzeitigen Einsetzen der juvenilen Ideale im Kinderdasein, das letztere mit dem Weiterwirken der juvenilen Ideale über das Jünglingsalter hinaus in das Mannes-, ja sogar Greisenalter, in welchem, dem normalen Verlauf nach, die Tatsachen schon lange die Vor- und Alleinherrschaft an sich gerissen haben.

Demnach muss der Weiterforschende wahrnehmen, dass die paideumatische Gleichmäßigkeit bei den Primitiveren überhaupt strenger an die Gleichaltrigkeit gebunden ist als bei den Trägern höherer Kulturen. In unseren Banken sitzen blutjunge Direktoren neben grauhaarigen, junge Ingenieure arbeiten in großen Fabriken neben alten. Wenn im Widerspruch damit den jüngeren Talenten unter Künstlern und Gelehrten und noch mehr unter Beamten selten die Anerkennung und Stellung zuteil wird, die ihre Leistungen verdienen, so ist das eben nur eine durch die Einstellung des modernen Lebens auf die Intelligenz, also eigentlich eine Altersform bedingte Oberflächenerscheinung. Auch bei uns würden verschiedene Altersklassen nebeneinander statt untereinander zur ethischen Wertung kommen, wenn nicht unser mechanistisches Zeitalter die Räder des Maschinenbetriebes zum Vorbilde des sozialen Lebens genommen hätte.

Diese Abweichung von der paideumatischen Entwicklung zeigt aber einerseits, dass die höheren Kulturen das Einzelpaideuma, die Persönlichkeit, frei machen von der Gebundenheit an eine Altersklasse, und andrerseits, dass diese Loslösung noch deutlicher zutage treten und sich in ihrer ganzen Bedeutung zeigen könnte, wenn die intellektuelle Tyrannei unseres mechanistischen Zeitalters abgeschüttelt werden könnte.

Damit weitet sich der Blick und die Kulturen selbst sondern sich in Gruppen: die der primitiven Kulturen, deren Paideuma die Stufe der reinen Tatsachenwelt überhaupt nicht erreichen kann (daher der Niedergang primitiver Völker), die der monumentalen Kulturen, deren einer wir selbst angehören und die durch Loslösung des Einzelpaideuma, der Persönlichkeit, vom Schicksal des Gesamtpaideuma und also der persönlichen Lebensstufen von den allgemeinen Altersklassen ausgezeichnet sind, und endlich die noch nicht verwirklichte Kulturform der Zukunft (14. Kapitel).

Leo Frobenius
Paideuma · 1921
Umrisse einer Kultur- und Seelenlehre
© 1998- Schule des Rades
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