Schule des Rades
Leo Frobenius
Paideuma
II. Das Paideuma des Individuums
11. Entwicklung des Paideuma
Wer durch größere Orte, besonders durch die Karawansereien und Bazare orientalischer Städte, wie Konstantinopel, Alexandrien, Tunis, Algier, wandert und sein Augenmerk auf die Unterhaltung der Kinder richtet, wird wahrnehmen, dass schon kleine Geschöpfe im Alter von 5 bis 6 Jahren mit Leichtigkeit drei, vier und mehr Sprachen handhaben und sich in ihnen allen mit fast gleicher Geläufigkeit auszudrücken vermögen. Auf Grund dieser Beobachtung ist behauptet worden, dass den orientalischen Rassen eine größere Veranlagung zum Sprachenlernen zuteil geworden ist
als den Okzidentalen. Eine Untersuchung der Volkselemente, die sich unter diesen Kindern befanden, beweist jedoch die Unhaltbarkeit solcher Erklärung; ich habe in solchen Gruppen auch italienische, spanische, maltesische, französische und nordische Kinder gefunden, die in der Fähigkeit, in diesem Alter mehrere Sprachen zu beherrschen, den Orientalen nichts nachgaben. Auch ist in andern Gebieten dasselbe zu beobachten. In der Schweiz sind im Grenzgebiet der deutschen, italienischen und französischen Sprachzone außerordentlich viele Kinder schon aller drei Sprachen mächtig; Ähnliches ist in Holland und Belgien und noch sehr viel mehr in vielen Teilen des westlichen Afrika wahrzunehmen.
Wie weit diese Fähigkeit einem bestimmten Alter zugehört, zeigt folgende Beobachtung: In Dresden hatte ich eine Studienkameradin, die, deutscher Abstammung, in England zur Welt gekommen war. Sie hatte bis zu ihrem fünften Jahre in England gelebt und dort nur die englische Sprache erlernt. Darauf war sie nach Deutschland gekommen und hatte hier unter sehr kümmerlichen Verhältnissen ihr Leben bis zum 17. Jahre verbracht. In diesem Alter hatte sie jede Erinnerung an die Sprache ihres Geburtslandes und ihre erste Kindheit verloren hatte dann Französisch, Lateinisch und Griechisch gelernt und begann nach ihrem 24. Jahre das Studium der englischen Sprache von neuem; und es wurde ihr blutsauer, das zu gewinnen, was ihr als Kind mühelos schon einmal zugeflogen war. Ihre Aussprache war geradezu schlecht, und die Vereinfachung des Satzbaues der englischen Sprache wollte ihr durchaus nicht gelingen.
Endlich ist es ja eine bekannte Tatsache, dass jedes Kind dem von der Wiege an eine deutsche Mutter, eine englische Amme und eine französische Erzieherin zur Seite stehen, alle drei Sprachen spielend aufnimmt, wenn die Personen seiner Umgebung immer in ihrer Muttersprache mit ihm verkehren. — Also handelt es sich bei dieser Erscheinung um eine Fähigkeit des infantilen Paideuma, die mit dem Heranreifen abstirbt.
Hier wäre nun zweierlei zu untersuchen. Einmal: wie ist der Sprachsinn des Kindes zu verstehen? Zweitens: womit ist das Absterben dieser Fähigkeit im höheren Alter zu erklären? Zur Beantwortung dieser beiden Fragen wird es nötig sein,, sich über das Verhältnis der Sprache oder vielmehr des Sprechens zum Paideuma klar zu werden. Ich zeigte oben dass die Ideale sich auf der Fläche des Gemütes entwickeln und dann erst auf die Fläche des Bewusstseins übertreten, dass die Tatsachen sich im Bewusstsein entwickeln und auf der Fläche des Verstandes erkannt werden. Dagegen kann ich nur immer wieder darauf hinweisen, dass das Dämonische sich auf der Fläche des Gemüts ohne Beziehung zu irgendeiner Ausdrucksweise, also auch nicht zur Sprache, ausbildet. Jeder wirklich schöpferische Mensch, schöpferisch in Wissenschaft oder Kunst (die nur in ihren Äußerungen auseinandergehen, dem paideumatischen Innensinn zufolge aber eine Einheit darstellen), weiß, dass jede Neuschöpfung ursprünglich jenseits der Grenze des Sprechens entsteht. Er weiß, wie schwer es oft hält, die Schöpfung in die Form der Sprache zu bringen, das, was ihm innerlich klar und gewiss ist, für andere mitteilbar zu machen, ebenso, wie es ja dem Musiker ergeht, der es in seinem Innern gären, drängen und stürmen fühlt, ohne dass er gleichzeitig schon die Möglichkeit gewinnt, das alles in objektive Formen zu fassen. Und das ist ganz natürlich. Denn, wie gesagt, diese Vorgänge spielen sich instinktiv, auf der Fläche des Gemüts ab, und erst mit einsetzendem Bewusstsein führen sie im Affektausbruch zu Lauten und Tönen. Diese sind aber als Affektausdrücke zunächst nur anorganische, bedeutungslose Laute und Töne, noch nicht musikalisch-organische Klänge und ebensowenig gesprochene sinnvolle Laut Verbindungen.
Das kindlich-geniale Paideuma, das dämonische Schöpfertum, entwickelt sich also unabhängig vom Formenkreis der Sprache, und das Sprechen, so gut wie jede andere Form der sinnlich gegliederten Mitteilung ist demnach ein neu dazu gewonnenes Kulturgut, das wie jedes andere seine Entwicklung durch die drei Perioden nimmt, der spontanen und sporadischen Variabilität, der harmonischen Organität und der anorganischen Mechanik. Diese drei Stadien durchlaufen alle Sprachen. In den ältesten ist die große Variabilität der Laute erhalten (Sprachen der Tonhöhe, wie die Sudansprachen). Eine jede macht später den Wandel zum größten grammatischen und syntaktischen Formenreichtum durch und verkümmert dann von dieser Höhe abwärts. Letzteres ist beim Altägyptischen, Griechischen und ganz besonders bei der Entwicklung des modernen Englisch und Französisch zu beobachten. Die Sprachen beginnen also mit Lauten, die als primitive Äußerungen der Verschiebung von der Gemütsfläche zur Vernunftfläche entstehen. Dies wäre das infantile Alter der Sprachbildung. Es folgt für die Stufe der Ideale die organische Variabilität der größten Formenfülle. Auf der dritten Stufe ist die Sprache ein mechanisches Hilfsmittel geworden, welches sich nur in der Richtung des praktisch-intellektuellen Gebrauchs verändert.
Das innere Leben unserer Kinderwelt entwickelt sich also beziehungslos zur Sprache, und die Sprache führt ein gewissermaßen lebloses Dasein. Das Leben des Kindes bedient sich des Sprechens, nicht der Sprache, und ein Leben der Sprache, das sich des kindlichen Gemütes bedient, gibt es noch nicht.
Sehr deutlich zeigt sich dies auch in der Entwicklung der Dichtkunst. Primitive Dichtwerke, wie die der Hottentotten, und auch Kinderverse nordischer Völker zeigen eine große Summe nebeneinander geordneter Bilder oder Sachreihen, hinter denen ein Sinn, ein Lebendiges keimt, das jedoch nur im Gemüte des schlichten Dichters oder Sängers, nicht im sprachgewordenen Werke lebt. Der Sinn an sich, der mit dem Inhalt
als dem künstlerischen Substrat einer Form
nichts zu tun hat, ist hier wesentlicher als das Ausgesprochene. Die Tonmalerei ist ein Ausklang des infantilen Lautlebens, das sich später noch in Alliterationen und Reimen kenntlich macht.
Im Gegensatz hierzu wird jedes Gedicht eines modernen Künstlers, es sei denn, dass er sich in atavistischen Rückfällen wie mystischer Transzendenz (geistiger Rückfall) oder Dadaismus (formaler Rückfall) bewegt, jede Einzelheit der Gemütsbewegung schildern und sprachlich fixieren. Damit ist dann die Stufe der Tatsachen
auch in der Verwendung der Sprache erreicht. Die Sprache ist damit zum mechanistischen Gute in mechanistischer Verwendung geworden. Zwischen beiden Extremen steht die organische, die eigentliche große Dichtung, zumal in der monumentalen Periode.
Die Verwendung der Sprache zeigt also, wie sie sich als eine rein äußerliche Konvenienz, aus echomäßigen Wiederholungen des variierenden Lautlebens und auf der Fläche des Gemütes entsprossen, entwickelt hat. Nicht die Sprachen, sondern die Lautkonvenienzen waren die ersten sich vererbenden Tatsachen der Stimmverwendung. Auf dieser Stufe ist das Sprechen als solches demnach in keiner Weise ein bewusster und in seinen Mitteln der Beobachtung unterliegender Vorgang. Es berührt das Ohr des Kindes wie das Quietschen einer Türe, wie der Schrei eines Vogels, wie eben die Geräusche und Laute des Natur- und Kulturlebens, die alle in der gleichen Weise mit der intuitiven, Erfahrungswelt des Paideuma in Beziehung treten und die dem Kinde allmählich vertraut werden, aber nicht wiedergegeben werden können, weil sich das Organ der menschlichen Stimme hierfür nicht eignet, weil sie also nur mit bewusster Anstrengung wiederholt werden könnten. Wie nun aber ein Kind ohne eine darauf gerichtete Aufmerksamkeit all die unendlich vielen Töne und Laute der es umgebenden Natur aufnimmt, so kann es auch ohne Absicht mehrere Sprachen erlernen, solange sie ohne Anforderung an sein Bewusstsein in seiner Umgebung angewendet werden. Hier bemerkt man indessen bei einfachen afrikanischen Völkern und bei europäischen Hochzivilisierten einen wesentlichen, aber natürlichen Unterschied.
Erst entdeckt
das Negerkind eine Person, dann wendet es für sie einen Laut resp. Namen an; erst entdeckt
es die Notwendigkeit, Bedürfnisse zu erfüllen, dann erst wendet es dafür lautmäßige Bezeichnungen an. Die Entdeckung geht also dem Laut voraus, und zuweilen lässt sich ganz deutlich wahrnehmen, dass diese ersten Laute aus affektiven Äußerungen entstehen, die ja häufig die Verschiebung von der Fläche des Gemütes auf die des Bewusstseins begleiten (7. Kap. S. 63). Die objektiv beschränkte, wenn auch vielfach unterschätzte, subjektiv aber auffallend große Lebens- und Äußerungskraft der Kindersprache ist aber nicht durch die noch ungeübten und schwerfälligen Sprachorgane zu erklären; sie folgt vielmehr aus der Schöpfungstat, welche die Entdeckung
bedeutet. Im infantilen
Alter entdeckt das Kind in spontanen Ausbrüchen die Umwelt — das ist die schöpferische, dem seelischen Wachstum entsprechende Entwicklung des Dämonischen. Dagegen sind das Sprechen und die Sprache nur Folgeerscheinungen. Das heißt: das Entdecken füllt das ganze Wachsein aus; das Sprechen geschieht unbeabsichtigt und unbewusst. Die der jedesmaligen Entdeckung folgende affektive Erregung ist so stark, dass sie unwillkürlich aus verschiedenen Einwirkungskreisen (Sprachen) verschiedene Bezeichnungen, und zwar diese nebeneinander, aufnehmen kann. Das Echomäßige wird durch die geringste Aufmerksamkeit auf das Medium der Sprache sofort gehemmt. Dies aber ist bei Primitiven völlig ausgeschlossen. (Dazu ist zu erwägen, inwieweit der im 10. und 13. Kapitel herangezogene paideumatische Subjektivismus einwirkt.)
Dies gilt für die Zeitspanne, in der das Paideuma sich auf der Fläche des Gemütes schöpferisch mit der Entdeckung der Umwelt beschäftigt. Bei der ersten Anwendung der Worte Vater, Mutter usw. hat der sprachliche Ausdruck mit dem Bewusstsein nichts zu tun. Im reiferen Alter verschiebt sich dagegen im Paideuma das Bewusstsein von dem Objekt der Sprache zur sprachlichen Ausdrucksweise selbst. Die Hebelkraft der Entdeckungen
fällt fort. Zuletzt assimiliert das Bewusstsein des Objektes sich mit dem Bewusstsein des Sprachausdruckes dafür. Wenn nun der Mensch im vorgeschrittenen Alter eine neue Sprache lernt, so deckt sich das Inbewusstseintreten irgendeiner Sache nicht mehr gleichzeitig und selbstverständlich mit der neuen sprachlichen Bezeichnung. Der Mensch kennt ja die Dinge in einer anderen Sprache. Er muss also die Wörter technisch lernen und kann dieses nicht viel anders, als indem er übersetzt, d. h. er empfindet und denkt in einer oder mehreren von Kindheit auf gewohnten Sprachen, und wenn er noch mehr Sprachen aufnehmen will, so kann er das nur auf der Fläche des von Natur engen Bewusstseins. Solange die Sprachen als Lautsummen und ohne Anforderungen an das Sprechbewusstsein in der Umgebung des infantilen Paideuma lebendig wirken, klingen sie leicht aus ihm wider. Sowie aber das schon sprachkundige Bewusstsein rege ist, ist das Paideuma gezwungen, eine Verleimung zwischen Sinn und Sprache (Bewusstsein des Objektes selbst und Bewusstsein des Objektnamens) vorzunehmen, und so tritt an Stelle der Entdeckungstat eine Verbindungsarbeit. Die Sprache ist dann etwas von außen Gegebenes, etwas von außen Ererbtes
, das mühsam mit dem inneren paideumatischen Sein und mit dem schon früher Erlebten und jetzt nur noch Bewussten und nur im Wissen Vorhandenen in Harmonie gebracht werden muss.
Als die Gebiete, auf denen das Paideuma Ideale in mitteilbare Formen fasst, wurden bislang angesehen: Musik, bildende Kunst, Architektur, Dichtkunst und Philosophie. Nach dem, was sich hier zeigte, wird man in Zukunft aber auch die Sprache hinzufügen müssen. Nach den an Kindern zu machenden Beobachtungen muss die Sprache als sinnliche Verkörperung, als Symbolisierung von Idealen einmal aus dem Lautleben der Gemütsfläche in das organische Sprechleben auf die Bewusstseinsfläche getreten sein, — weswegen ja zwischen den primitiven Tonhöhensprachen und den dekadenten
Handelssprachen die unendlich fein gegliederten Vollsprachen stehen. Dieser hohen Bedeutung der Sprache kann sich die abendländische Jetztzeit nicht mehr voll bewusst sein, weil deren Sprache fast schon ein rein mechanistisches Gut geworden ist. Das heißt aber, dass die Sprache einstmals, ebenso wie noch heute jedes echte Kunstwerk, Selbstzweck war, dass es einst erhabene Bildungen und Kunstformen der Sprache gab, die dem Menschen das waren, was ihm je zu ihrer Zeit eine Dichtung des Aischylos, ein Gemälde von Raffael, eine Bachsche Fuge bedeuteten. Einst war die Sprache und das Sprechen etwas Heiliges; die Gottheit war darin; jetzt sind sie zum einfachen mechanistischen Mittel geworden, das dem Kinde in hochzivilisierten Völkern nur in dieser Form entgegentritt.
Gleiche Umbildung ist auf allen Gebieten der Kultur zu erkennen. Karl Bücher denkt rein mechanistisch mit seiner materialistischen Beweisführung vom Ursprung der Arbeitsgesänge. Denn keine Arbeit
ist ursprünglich
. Alles beginnt mit der Tat und mit dem Schaffen. Es sind, um es deutlicher auszudrücken, Ausbrüche tiefinnerlicher Stimmung, die dem Tun wie dem Gesang das Leben gaben; alles, was heute als Arbeit bezeichnet wird, ist ursprünglich dämonischer Herkunft, ist aus der Tiefe des Innenlebens herausgeboren und mit der gleichen Empfindung ins Leben getreten, wie nur je ein Musikwerk oder Kunstwerk überhaupt. (Vergleiche, was über den Landbau S. 71 ff. gesagt wurde.) Es gibt für alle Arten paideumatisch-schöpferischer Empfindungen einen einzigen Ausdruck, der sie würdig bezeichnet und kennzeichnet; es ist das Wort: heilig! Man muss nur den tiefinnerlichen Ernst sehen, mit dem ein Kind seine ersten Sandzeichnungen ausführt, mit dem es seine ersten Kochtöpfe formt, seine ersten Wörter immer und immer wieder sich vorspricht, vor allem bei seinem ersten Spiel mit Feuer und Wasser. Und was hier die Seele eines Einzelwesens zeigt, das bestätigt das früheste Innenleben ganzer Kulturen. Denn die Entwicklung beider verläuft in Übereinstimmung.
In der Tat hat Preyer nach vielen Beobachtungen schon nachgewiesen, dass jedes aufwachsende Kind stufenweise gleiche Äußerungen des Paideuma kundgibt. Er ist in seiner Darlegung nur bis zur ersten Lautverwendung und Echobildung, bis zur Bildung der ersten Objektsfixierung gekommen und hat dann an der Schwelle des Wesentlichen haltgemacht — hat haltmachen müssen, weil im Okzident heute die Kinder, sobald sie nur der geringsten geistigen Aufnahme fähig sind, schon derartig erzogen
und mit Tatsachen vollgepfropft werden, dass für eine natürliche Ausbildung des infantilen Paideuma keine Möglichkeit mehr besteht.
Wenn aber auch die freie Entwicklung der Kinderseele in unserer Zeit unmöglich geworden ist, so lässt sich doch in der Fähigkeit, Eindrücke aufzunehmen, eine klare Stufenfolge erkennen, die der Entwicklung einer Sprache durchaus entspricht, und zwar von der kindlich unbewussten Lautbildung, welche die als Gegenstände erkannten Eindrücke bezeichnet, bis zur verstandesmäßigen Arbeit des späteren Erlernens einer fremden Sprache. Wie ein Kind damit in sich die abgekürzte Geschichte einer Sprache wiederholt, so wiederholt es die Kulturgeschichte durch den in bedeutsamer Reihenfolge erwachenden Sinn für Bauen, das Spiel mit Feuer und Wasser, für Tanzen, Singen, Zeichen usw. — mit einem Unterschied: Was im Gesamtpaideuma aus sich selbst entstand, das wird im kindlichen Einzelpaideuma nur wiedergeboren; es wirkt in der Kindesseele als Erbe der Vergangenheit; es ist zum Mittel der Entwicklung geworden. Das war mit dem Satze gemeint, dass Tatsachen
sich vererben.
Es ist eine unendlich große Summe von Einzelheiten, die, wenn es allgemeinverständlich ausgedrückt werden darf, als vererblicher Tatsachenschatz in Betracht kommt. Das Küken, das aus der Eischale kriecht und nahrungssuchend umherläuft, kann vom ersten Augenblick an Sand- und Getreidekörner unterscheiden. Das neugeborene Kind greift ohne Hinweis zur mütterlichen Nahrungsquelle. Auf der anderen Seite werde ich aber (im 12. Kapitel) zu zeigen haben, dass auch das gar nicht zu beschreibende, sondern nur mühsam zu um schreibende Raumgefühl derart sich vererbt, dass der seelisch aus dem Orient stammende Jude, Spinoza z. B., bis heute im Höhlenbewusstsein lebt und dem Weitengefühl fassungslos gegenübersteht.
So viel über das Phänomen der paideumatischen Entwicklung. Seine Bedeutung ist so gewaltig, dass, wenn man es erst recht verstanden und gewürdigt haben wird, die Kindererziehung eine weitgehende Umgestaltung erfahren müsste. Denn bislang erziehen wir unsere Kinder nach dem Tatsachenprinzip und unsere Lehrer sind gezwungen, mit Logik, Grammatik und mechanischem Wissen ihr kindlich-dämonisches Weltgefühl zu töten, Genies im Keime zu ersticken und Greisenseelen in Kinderkörpern zu züchten.
Deshalb habe ich mich etwas eingehender über die Entwicklung der Sprache und die Gabe der Kinder zur Polyglottie ausgesprochen. Es ist etwas Unheimliches, etwas Tieftrauriges, wie mechanistisch unsere Zeit mit den Seelen der Kinder umgeht. Ich habe es erlebt, dass ein sechsjähriges Mädchen das Wort Esel
in der Weise schreiben lernte, dass es drei Zeilen E, drei Zeilen s, drei Zeilen e und drei Zeilen l schreiben musste. Das Kind kam zu mir und fragte mich, wie das zu verstehen sei, ob das E der Kopf und das l der Schwanz und was es für eine Beziehung von dem s und e zum Eselskörper habe. Und ich habe wenig später erlebt, dass eine Lehrerin, der ich das erzählte, in die Worte ausbrach: Für so dumm hätte ich das Kind nicht gehalten.
Dass das Kind synthetisch und symbolisch erlebt (Symbolik ist Synthese), ist wohl den Lehrern, nicht aber allen Verwaltern des Schulwesens genügend klar.
Wieviele Lehrer haben sich bei mir darüber beschwert, was sie ihren armen Schützlingen beibringen müssten
! Dass es ein Zwang, eine harte Dressur ist, einem Kinde das Verständnis für Subjekt, Objekt und Prädikat abzuringen, also das synthetische Paideuma zur Analyse zu vergewaltigen, sollte doch erkannt werden. Es ist geradezu erstaunlich, dass Kinder nach mehrjährigem Sprachunterricht in der Schule endlich noch in Konversationsstunden den Gebrauch einer Sprache lernen müssen, an deren Verständnis sie jahrelang mühsam gearbeitet haben. Es ist auch gar nicht zu verstehen, dass der eigentliche Zeichenunterricht vielfach heute noch in die späteren Jahre verlegt wird. Denn jede Mutter weiß, dass ein Kind im Alter von fünf Jahren ein Bedürfnis zum Bildersehen und Bilderzeichnen hat. Sie weiß auch, dass das Kind danach drängt, die wirtschaftliche Betätigung des Hauses spielend
zu erleben. Ich zeigte oben, dass die Kinder zur Polyglottie neigen und dass das Sprachenlernen erst im späteren Alter schwer fällt.
Selbstverständlich wäre es Torheit, anzunehmen, dass in dem geschilderten Bildungsverfahren von heute auf morgen ein Wandel geschafft werden könnte. Da unser Zeitalter ein mechanistisches ist, drängen Staat und Eltern danach, frühzeitig die Jugend für eine möglichst hohe Verwertung und aussichtsvolle Stellung im Leben vorzubereiten. Von Kindheit auf ist das Kind Objekt dieser verstandesmäßigen Kausalität. Die Mechanei fordert das!
Aber diese Zeilen werden ja auch nicht geschrieben, um eine Änderung hervorzurufen. Sie sind keine Kritik der Zustände, sondern sie erstreben eine Eröffnung des Verstehens dieser Dinge.
Und dem Verständnis der Dinge rücken wir täglich näher. Ich habe seinerzeit die Kulturkreislehre ins Leben gerufen, habe gezeigt, dass alte Kulturformen heute noch lebendig vorhanden sind, dass sie in Beziehung zueinander stehen. Die Kulturkreislehre hat naturgemäß damit begonnen, die geographische Verbreitung der alten Kulturformen nachzuweisen. Das ist die Aufgabe des Studiums der horizontalen Lage. Dem drängt sich jetzt ganz von selbst das Studium der vertikalen Beziehungen, d. h. der Stufenfolge zur Seite. Es handelt sich nicht allein darum, die Verbreitung und das Wesen der Kulturformen der primitiven, mit einem später zu erklärenden Ausdruck: der tektonalen Periode zu verstehen sondern auch darum, deren Schichtenfolge zu erkennen. Die urgeschichtlichen Funde, die zumal in Europa, Westasien und Kleinafrika gemacht wurden, die sich in einer deutlichen Schichtung erhalten haben, beweisen, dass noch heute ihre Ausläufer an den Rändern der alten Ökumene und der ökumenischen Zonen lebendig sind. Aus der schichtweisen Lagerung ist es möglich, die Reihenfolge der paideumatischen Urentwicklung aus den an die Ränder der Ökumene verschobenen lebendigen Formen in verschiedener Daseinsart festzustellen.
Die so vertiefte Kulturkreislehre wird also in wenigen Jahrzehnten in der Lage sein, einen Stammbaum sowohl der gesamten Kulturformen, als auch jedes einzelnen Kulturgutes, d. h. also eine paideumatische Entwicklungsgeschichte zu schreiben. Es wird dann möglich sein, alle Äußerungsformen des Paideuma in ihrer inneren Gliederung zu verstehen. Sobald dieses Werk vollendet sein wird, hat die Menschheit das große Werkzeug gewonnen zur Befreiung von der mechanistischen Tatsachenlast, die jetzt auf ihren Schultern ruht. Die zukünftige Menschheit wird das kindliche Paideuma in derselben Weise, in der gleichen Stufenfolge, im gleichen Rhythmus, im Einzelleben sich entwickeln und entfalten lassen, wie seinerzeit das Gesamtpaideuma die Stadien durchlief. Klar ausgesprochen wird an die Stelle der mechanistischen Dressur die paideumatische Erziehung treten.
Ich schließe mit einem Zitat, das beweist, wie natürlich dieser Grundgedanke schon dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, also der großen Weltanschauung vor Darwin und vor der Entdeckung
des biogenetischen Grundgesetzes erschien:
Wenn auch die Welt im Ganzen fortschreitet, die Jugend muss doch immer wieder von vorne anfangen und als Individuum die Epochen der Weltkultur durchmachen.
Der Ausspruch ist von Goethe!