Schule des Rades
Leo Frobenius
Paideuma
Schluss
15. Das paideumatische Werk
Abschließend greife ich auf das schon im Anfange (auf S. 12) Gesagte zurück: Der in dieser Schrift gebotene Entwurf einer Kulturphilosophie hat in seiner Gedrängtheit und Betonung des Begrifflichen die Bedeutung einer Richtlinie, wie sie im großen den bisherigen Forschungen auf diesem Gebiete fehlte. Ihre Bestätigung muss nunmehr durch die Ergebnisse langjähriger Einzelforschung erbracht werden. Sie tritt also als Programm
neben die Gedanken von 1895 (S. 3 ff.). Jenes Programm im Ursprung der afrikanischen Kultur
leitete die Periode der Vorbereitung, der Empfängnis, der Sammlung ein und hatte die Entstehung des Afrikaarchivs zur Folge; das heutige steht auf höherer Stufe, weist der aus dem Archiv heraus aufwachsenden Forschungsanstalt den Weg und geht der Veröffentlichung einer Reihe sorgfältig vorbereiteter Arbeiten über Tracht und Religion, Architektur und Gesellschaftsleben, Gewerbe und Kunst, Recht und Geschichte voraus. Nur wenige Beispiele konnten hier geboten werden; die Zukunft soll die Veröffentlichung des ganzen Materials erfahren.
Wir beginnen mit einfachen Stoffsammlungen und Monographien, mit einer sinnvollen Ordnung und möglichst vollständigen Wiedergabe des Tatsächlichen, wie es im großen auf unserem Gebiete noch nie versucht wurde. Damit können und wollen wir uns aber nicht begnügen. Dies alles soll nur Hilfsmittel sein und als solches zur Wissenschaft in ehrwürdig altem Sinne, zum Wissen der letzten Gründe dieser Kulturerscheinungen führen. Inwieweit hierbei nun die in dieser Schrift niedergelegte Richtlinie maßgebend sein wird, soll noch kurz an zwei Beispielen erläutert werden.
a) Ideen und Begriffe. Oben habe ich die Entwicklung des Paideuma vom Dämonischen bis zum Tatsächlichen behandelt und auf die paideumatische Polarität hingewiesen. Die entsprechende Verschiedenheit, ja Gegensätzlichkeit äußert sich auf allen Gebieten kulturellen Seins, im Staatsleben wie im Gewerbe, in der Religion wie in der Kunst oder wo man sonst will, so dass jedes dieser Gebiete von zwei Seiten aus betrachtet werden kann, je nachdem ich das Organische (Werden) oder das Anorganische (Gewordene) im Paideuma (S. 75) ins Auge fasse: d. h. man kann überall von paideumatischen Ideen wie von paideumatischen Begriffen sprechen. Ich meine nun weiter, dass die lebendigen Ideen durch die Begriffe wahrgenommen, erfasst werden können. Nämlich so:
Ideen entstehen nach allem Obigen dämonisch aus der Wesenheit des Paideuma. Sie sind somit zunächst lebendige Elemente des Paideuma, die sich von Zeit zu Zeit in Begriffen verkörpern und dann während der Periode der Auswirkung ihrer begrifflichen Formen in einen Schlafzustand verdämmern, der einer Erstarrung gleicht. Ideen sind also paideumatische lebendige Wirklichkeit, Begriffe paideumatische starre Tatsachen. Aus den tatsächlichen Begriffen und ihren Spielformen sind die Ideen als hinter dem Vorhang des Begriffsvermögens lebende Wesenheiten zu erfassen.
Wohl aber bemerke man, dass die Begriffe als Verkörperungen der Ideen und im Gegensatz zu diesen vergänglich sind wie etwa alle Ausscheidungen des Stoffwechselprozesses. Sie stellen gewissermaßen die sich ununterbrochen von innen heraus erneuernde und alternde, von außen abfallende und verfallende Hülle der Ideen dar, sind also gewissermaßen Mantelteile des Paideuma, Damit ist gesagt, dass die Ideen hinter allem Begrifflichen bildend oder verdämmernd wirken, und zwar in der den Menschen umgebenden Natur ebenso wie in den vom Menschen ausgehenden Kulturformen, dass sie aber nirgends eine so artenreiche wie in der Verkörperung schnelle und wechselvolle Begriffswelt hervorbringen, wie eben in den Kulturbegriffen. Durch diese Mannigfaltigkeit werden die begrifflichen Äußerungen der Kultur übersichtlicher und durchsichtiger als die der naturhaften Umwelt. Deshalb bieten die Kulturbegriffe im gesamten Tatsachenleben den handlichsten Stoff, die am leichtesten zu durchdringende Materie, aus der Verständnis und Bekenntnis der dem Weltpaideuma entstammenden Ideen gewonnen werden können. Das heißt also, wir gelangen auf dem Wege paideumatisch-kultureller Ideenforschung zu einem dem menschlich begrenzten Vernunftorganismus günstigen Verfahren, das Paideuma hinter der Hülle des begrifflichen All zu erwittern. Denn im innersten Wesen ist es dasselbe, ob eine Idee paideumatisch-kulturelle Begriffe ausscheidet, die als Totes dem Leben nur noch in der Weise dienen, dass sie die lebendige Idee als solche schützend umhüllen, oder ob eine Pflanze eine Rinde bildet, die als leblos gewordene abgenutzte Materie dennoch das der Außenwelt unsichtbar wirkende Leben umkleidet.
Das alles heißt jedoch nichts anderes, als dass die Begriffe den übrigen Tatsachen
gleichzustellen und die Ideen als paideumatische Wirklichkeit aufzufassen sind. Begriffe und Tatsachen kann der Mensch aber erkennen und begreifen, Ideen und Wirklichkeit kann er dagegen nur in der Ergriffenheit verstehen und somit nur bekennen.1 Wirklichkeit ist das, was erlebt wird und lebend weiterwirkt, Tatsache das, was erlebt ist und als tote Erkenntnis in das Wissen übergegangen ist. Wirklichkeit ist also das aus dem Leben Wirkende, Tatsache die sachlich gewordene Wirklichkeitsäußerung. Wirklichkeit ist das subjektivistisch Wirkende — auch in der Umwelt, Tatsache dagegen der als Objekt verwendete Niederschlag der Wirklichkeit.
b) Wechselwirkung paideumatischer Ideen und Begriffe nach paideumatischen Regionen. Die beschreibende Völkerkunde (Ethnographie) macht bekannt mit den begrifflichen Tatsachen. Die Kulturkreislehre hat gezeigt, dass diese Tatsachen gruppenweise und sinnvoll aufgebaut und gegliedert sind. Die von Oswald Spengler zum erstenmal durchgeführte und im Grunde genommen auf Kulturkreisgliederung beruhende Physiognomik führte zutage, dass die Renaissance aus einer Befruchtung der westlichen Welt durch die begrifflich gewordenen Ideen der östlichen aufwächst, dass das Christentum als letzte magische Formel
des Morgenlandes zur Idee des Abendlandes wird. (Vgl. den Abschluss des 12. Kapitels.)
Das führt einerseits zur Untersuchung der verschiedenen Gemütsdimensionen (S. 40), andererseits zu der Frage, inwieweit eine solche Befruchtung die paideumatische Entwicklung wohl nicht nur der monumentalen Formen zur Folge haben kann. Dies ist so wichtig, dass ich dem früher Gesagten (S. 40 u. S. 90 ff.) noch ein Wort über die Orient und Okzident bezeichnenden Gefühle der Welthöhle und der Weltweite hinzufügen will. Man erinnere sich des Gegensatzes: Dort der Orient in seiner Geschlossenheit des Wesens, seiner Gabe, Stil zu bilden und zu erhalten, seiner Fähigkeit zur Würde, seinem Fatalismus und als Rettung vor ihm der Astrologie und Magie, seinem Fanatismus und der Fähigkeit, aus solcher gewaltigen Erregung heraus bis zur Schöpfung von Religionen zu gelangen. Hier dagegen die Weltweite des Okzidents mit der Neigung zu eklektischer Stilbildung, der unstillbaren Sehnsucht nach Raum und Ferne, der Vielheit als Grundlage der Weltanschauung, die zuletzt nur durch den einen Sinn der einen Unendlichkeit geschlossen bleiben kann.
Das Weitengefühl führt zu einer Lebendigkeit ohne Ruhepunkte; das Dasein gleicht einem ebenmäßig aufwärtsführenden Bergpfad, Die ganze Gebarung des okzidentalen Paideuma verläuft in eine Kette kleiner Ausbrüche, deren jeder sich den vorhergehenden anschließt, so dass das Helden- und Sieghafte zum Typischen wird.
Das Wesen des Höhlengefühls entspricht dagegen dem Verweilen auf einer berglosen Ebene. Denn das Entscheidende ist der Fatalismus
, das Duldertum, das eine Aufspeicherung dämonischer Kräfte zur Folge hat. Die Überfülle entlädt sich dann im Fanatismus, plötzlich, orkanartig, plutonisch. Und während das Paideuma des Okzidents wie ein elektrischer Strom durch den Draht fließt, springt das des Orients gleich einem Himmel und Erde verbindenden Blitz über.
Das okzidentale Paideuma kennzeichnet sich demnach durch organisierten Furor
, durch die beständige Wucht seiner Auswirkung, das Orientale durch jähe Wechsel von duldender Ruhe und wilden Ektasen, d. h. durch ungebundene Raserei. Diese ist dann von unvergleichlich gewaltigerer Kraft als jene.
Das okzidentale Paideuma rückt deshalb schweigend weiter empor, alles wohlgeordnet auf seiner Schraubenfläche haltend. Seine Kulturformen sind Gegner der Ektasen und mit Recht sagt Nietzsche, dass in deren Entwicklung alle übersprungenen Stufen sich rächen. Aus dem Duldertum des Höhlengefühls aber steigt die paideumatische Ausdehnungsgewalt grell und jäh empor bis zur Götternähe, bis zu dem Gotte
, vor dem der Orientale erschauernd unter der Allmacht aufblitzender Wirklichkeit, erschüttert und entsetzt, sich sklavisch niederwirft, weil er ihn nur erkennen kann als das Sinnbild unüberbrückbarer Gegensätzlichkeit: des dämmernden Duldertums nämlich und der elementaren Eruptivität.
Wenn von organisiertem Furor und organisierter Bewegung gesprochen wird, so besteht die Gefahr, dass, wie so häufig, dies organisiert
verwechselt wird mit einem diszipliniert
. Organisiert
kann und darf hier und sollte nirgends etwas anderes bedeuten als Leitung durch die Idee
, während Disziplin niemals etwas anderes ist als Gliederung nach Begriffen
. Das ist um so wichtiger, als jedesmal, wenn in einer der beiden Kulturregionen die Organisation der Bewegung überging in eine Disziplin der Bewegung, dies gleichbedeutend gewesen ist mit einer Verschiebung der zwischen Orient und Okzident wechselnden Fähigkeit zur intuitiven, Tat.
Zum Schluss! So ergeben sich aus den allgemeinen Richtlinien morphologischer Kulturforschung der Aufbau und die Aufgabe für das neue Institut, das den Gedanken des Afrikaarchivs aufnimmt und fortsetzt, von selbst. Den Anfang bilden ethnographische Tatsachenberichte, die einerseits das im Archiv aufgespeicherte, von mir gesammelte Originalmaterial2, zum andern mit möglichster Vollständigkeit das seit Jahrzehnten ausgezogene und geordnete, teilweise sehr versteckte, sicherlich aber in Literatur und Museen fast beispiellos zersplitterte Altmaterial auswerten sollen. Sind bisher auch verschiedentlich recht wertvolle Publikationen solcher Art über primitive Kulturen erschienen, so waren sie doch stets vereinzelt und nie umfassend genug, um mehr als gelegentliche Streiflichter auf die hier vorliegenden, geradezu entscheidenden Probleme zu werfen. In voller Beleuchtung erst kann und wird sich dem Beschauer die Art und welthistorische Bedeutung der afrikanischen Kulturen auf Grund planmäßiger Bearbeitung zeigen.
Im besonderen wird damit West- und Innerafrika in das Gesichtsfeld auch der Geschichtsforschung rücken. West- und Innerafrika haben außerhalb des Imperium Romanum eigene Schöpfungen und Taten, eigene Begriffe und Ideen hervorgebracht, deren Alter zum Teil nachweislich mehr als 2000 Jahre zurückweist, deren Innensinn aber ein ungeahntes Ineinandergreifen mit den vorgeschichtlichen monumentalen Trümmern der Höhlenkulturen
Südfrankreichs und Spaniens, mit dem Problem der Etrusker, mit der Entstehung der ägyptischen Kultur und damit einen neuen Weg zu den ganz großen Problemen der Menschheitsgeschichte aufweist. Was sich hier an Religionen und Kunstformen, an Gesellschaftsordnungen und Volksdichtungen erhalten hat, besitzt im Sinne der Kultur- und Menschheitsgeschichte so großen dokumentarischen Wert, dass es im eminenten Sinne geeignet ist, das Bild der Weltgeschichte zu ändern.3
Damit tritt dann ganz klar und unverkennbar die Tatsache der Organität auch primitiver Kulturformen hervor, denn hier kreuzt das Tektonale das Monumentale, hier zeigt auch das Primitive hinter begrifflichen Tatsachen wirkliche Ideen — beides in Wechselwirkung mit der Monumentalität, so dass unter dem Einflüsse der hier blitzartig aufleuchtenden und in warmer Lebendigkeit nachwirkenden Erkenntnisse der methodische Unterschied, der heute noch in der Betrachtung vorgeschichtlich primitiver und historisch monumentaler Kulturen üblich ist, hinwegschmelzen wird.
Damit aber nähert sich die Möglichkeit, die gesamte Kultur der Menschheit von ihren Anfängen an als organische Einheit wissenschaftlich zu behandeln, und was das allein für die Grundlagen unseres Bildungswesens bedeutet, wurde S. 88/89 dargelegt.
Den einen Ausgangspunkt bilden demnach, entsprechend dem Plane von 1895, die völkerkundlichen Tatsachen der Kerngebiete afrikanischer Kulturen. Das ist das eine felsenharte Ufer, dem jenseits des Meeres die Geschichte der monumentalen Kulturen Europas und seiner Nachbargebiete entgegenragt. Unser Werk ist es, von einem zum andern eine Brücke zu schlagen, von deren Höhe wir uns einen genussreichen Ausblick auf die Geschehnisse des in der Tiefe seine ewigen Bahnen ziehenden Lebens versprechen.
1 | Das Verhältnis der Ideen und Begriffe zum paideumatischen Stufenbau im Individuum wie in den Volkskulturen dürfte ohne weiteres einleuchten. Sehr klar tritt es z. B. in der Sprache und im Sprachenlernen (s. S. 78 ff.) hervor. Beim Kinde wächst die Sprache ideenmäßig. Der Erwachsene erlernt die Sprache begriffsmäßig. Es muss auch hier (s. S. 76/7) wieder betont werden, dass es Menschen gibt, die ihr Leben lang die Fähigkeit bewahren, immer wieder neue Sprachen ideenmäßig aufzunehmen. Auch hier ist Ideegleichbedeutend mit seelischem Erleben, Begriffmit verstandesgemäßem Erfassen. |
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2 | Die erste Veröffentlichung ist unsere Sammlung afrikanischer Volksdichtungen, die nunmehr vollständig in 15 Bänden bei Eugen Diederichs in Jena erscheint. |
3 | Wie schwer zugänglich die Großartigkeit der westafrikanischen monumentalen Kulturwerke unserer objektivenWissenschaft ist, zeigt folgende Tatsache. Im Jahre 1910 gelang es mir, in Westafrika nahe Benin Gelbgüsse und Terrakotten von klassischer Stilreinheit und Schönheit durch Ausgrabungen ans Tageslicht zu fördern. Damit war die Epigonenhaftigkeit der mittelalterlichen sog. Beninbronzen nachgewiesen. Nun stehen zwar diese Ausgrabungsfunde im Berliner Museum für Völkerkunde. Als aber vor einigen Monaten die entsprechende gelehrte Stelle des Berliner Museums ein Monumentalwerk mit umfangreichem Text über die Beninbronzen herausgab, war sie außerstande, für die an Alter wie Bedeutung weit überlegenen Terrakotten Ifes und die eminente Mythologie der Joruben ein Wort zu finden, und bewies damit, dass sie in den Werdesinn auch der späteren Beninbronzen nicht einzudringen vermochte. |