Schule des Rades

Leo Frobenius

Paideuma

I. Paideumatische Studien

2. Die andern und wir

Wer mit einiger Aufmerksamkeit die in neuerer Zeit ständig anwachsende ethnographische Literatur, zumal die der Einzelbeschreibungen primitiver Völker verfolgt hat, wird sich nicht verhehlen können, dass dieser Erscheinung irgendeine wenn auch unsichtbare Triebkraft zugrunde liegen muss. Und noch mehr. Er wird eine große Achtung vor der sich immer mehr verfeinernden Beobachtungstechnik gewinnen müssen. Heute genügen dem entsprechend Vorgebildeten wenige Monate eines Aufenthaltes, um ein Volk eingehender zu schildern, als in alten Zeiten jahrzehntelanges Studium das ermöglichen konnte. Diese neue monographische. Schilderungsweise berücksichtigt von vornherein mit dem Ziel möglichster Vollständigkeit alle Einzelheiten des Völkerlebens, so des Handwerkes, des sozialen Daseins, der religiösen Anschauungen und Sitten. Ein solches umfangreiches, oft mehrere Bände umfassendes Werk schildert zuweilen jede Kleinigkeit bis in die zartesten Gegenstände hinein, so dass ein äußeres Bild des Volks- und Einzellebens gegeben ist, ein Bild, das photographischer Wahrheit nahekommt. Als Beispiel nenne ich Südseepublikationen der letzten Zeit.

Im allgemeinen könnte unsere Zeit mit diesem Zustand der Dinge wohl zufrieden sein; denn wenn die im rasenden Tempo um sich greifende europäische Kulturform auch alle fremden, meistenteils primitiveren Kulturformen oder Volkskulturen zerstört, so ist doch durch die ethnographische Monographienliteratur ein Material gesammelt, das man als einen unvergänglichen Schatz kulturgeschichtlicher Dokumente bezeichnen darf.

Immerhin scheint mir die Frage an der Zeit, inwieweit diese Masse von Kenntnissen auch den Ansprüchen einer künftigen Zeit genügen wird. Hierzu muss vor allen Dingen einmal bemerkt werden, dass wir aus alten Zeiten, die noch nicht über derartige Einzelkenntnisse in Dingen der Kultur verfügten, verschiedene Monographien besitzen, die, wenn auch noch so kurz, noch so unbeholfen und schwerfällig, doch das Seelenhafte, also das Paideuma der Völker eindringlicher und tiefer zum Ausdruck bringen, als gar manche der neueren filigranartigen, durch Einzelzüge verblüffenden Schilderungen, die nicht selten lediglich durch Technik glänzen, die aber das Bild des Volkes und der Volkskultur nicht geben, weil sie uns das Ganze als ein Lebloses, statt der Seele die Außenseite und Oberfläche schildern.

Den aufmerksamen Beobachter muss es aber noch mehr stutzig machen, dass die romanischen Völker für diese Arbeit eine andere Technik verwenden als die germanischen. Bei den romanischen Völkern, zumal den Franzosen, tritt mehr und mehr das soziale Problem in den Vordergrund, bei den germanischen die Tendenz zu historisch deskriptiver Schilderung. Dieser Unterschied muss Aufmerksamkeit erregen, weil er der Arbeits- und Denkweise eines materialistischen Jahrhunderts entspricht. Das sollte uns um so nachdenklicher stimmen, als diese materialistische Periode ihrem Ende nahe ist und jetzt schon beginnt, mit Betonung des Intuitiven einer neuen Weltanschauung Platz zu machen, d. h. die Kulturkunde, Ethnologie, Anthropologie oder wie sie sich dann nennen mag, wird in Zukunft, ausgerüstet mit den in der naturwissenschaftlichen Periode gewonnenen Erkenntnissen als Hilfsmittel, dort wieder beginnen, wo Kant vor hundertfünfzig Jahren mit seiner Auffassung der Anthropologie aufgehört hat.

Meine Frage ist demnach: wie wird die Zukunft sich zu dieser ethnographischen Monographienliteratur stellen? Was wird sie an ihr vermissen? Welche Seite des Kulturlebens wird ihr überhaupt wesentlich sein?

Fast jede der wirklich umfassenden neuen Monographien geht von der Beschreibung der materiellen Kultur aus und endet mit der der geistigen. Sie schildert und gibt gemeiniglich wieder Beschreibungen von Kleidern, Hütten und Waffen, von Staatsformen, Rechtssitten, von Anschauungen, Mythen und Legenden. Wir hören von Zauberformeln und Aberglauben, von Zeremonien und allerhand Kulthandlungen. Wir sehen das Bemühen, Eigenart in charakteristischen Zügen zu zeichnen. Dann und wann spielt die Schilderung priesterlicher Betrügereien hinein, damit aber erschöpft sich im allgemeinen die Arbeit.

Diese z. T. ausgezeichneten Beschreibungen geben also ein Bild fremden Kulturlebens, so, wie es uns erscheint. Aber daran, dass das französische Bild von dem deutschen abweicht, lässt sich schon erkennen, dass beide im Grunde subjektiv, ja in manchen Teilen durch die einseitige Einstellung sogar verzerrt sind. Noch bedenklicher wird aber jeder gestimmt werden, der das eigentliche Wesen, die Seele fremder Kulturen in diesen Monographien sucht. Denn es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass sich schon hinter der Handhabung der einfachsten Waffe ein seelischer Vorgang abspielt; dass die Kleidung, auch außerhalb des Schamgefühles, Ausdruck geistiger Regung ist, beweist die Tatsache, dass ahnende Forscher dem üblichen Schamgefühl neuerdings Verlagerungen des Schamgefühls zur Seite gestellt haben; die im hohen Sinne symbolische Bedeutung der Gestalt von Hütte und Haus wird klar, sobald man die Beziehung der einfachsten Bauformen zu anderen Formen des kulturellen Auf- und Abstieges untersucht; jeder, der unsere Zeit von einem anderen Standpunkt als vom politischen aus betrachtet, muss erkennen, dass der Staat auch ein Symbol ist, das sich dem Einfluss unseres utilitarischen Wollens oft genug entzieht.

Dies sind nur wenige Beispiele, aber sie zeigen, dass Kulturbildung ein seelisches Erzeugen ist, das sich — und das ist das Wesentliche, das, was die Schilderungsweise unserer Monographienliteratur kaum erfassen kann — , an sich dem Auge zwar entzieht, aber in den Gebilden des materiellen Lebens deutlicher zum Ausdruck kommt als im bewussten Geistesleben. Und zwar ist unser Gefühl einer fremden Kultur gegenüber freier und feiner als der eignen, deren Ausdruck wir selbst sind. Das gilt zumal von den sogenannten Primitiven. Auf Schritt und Tritt begegnet der Forscher nicht nur ihm fremdartigen Ausdrucksformen des inneren Lebens, sondern auch einem uns Höheren nicht mehr bekannten Reichtum an Spielarten. Der Sehende gewahrt sehr bald, wie dicht dort noch alles zutage liegt, was bei uns nicht nur durch Gewohnheit, sondern auch durch massenhaftes Wissen und durch krankhaftes Nur- Anerkennen von Tatsachen überdeckt oder verschüttet ist.

Alle jene Fragen, die gerade jetzt unser Volk, ja uns Abendländer insgesamt erregen und die in Europa mühsam am untauglichen Objekt — am untauglichsten, nämlich an uns selbst — , mittelst unserer Sprache und mit unserem materiellen Werkzeug geprüft werden, alle jene Fragen, über die Aktenbündel, ganze Bibliotheken und täglich Tausende von Zeitungsberichten geschrieben werden, sie alle können von jedem, der Augen hat zum Erkennen, Ohren zum Erlauschen und Fingerspitzen zu wirklichem Fühlen dort unten, da drüben bei jenen Primitiven täglich, stündlich beantwortet werden.

Wie das gemeint ist, möchte ich in den nachfolgenden Blättern an drei Beispielen zeigen. Es handelt sich um die Antwort auf die Fragen: erstens, wie dichtet ein Volk; zweitens, auf welcher Fläche lebt die Schöpfungskraft einer Kultur; drittens, was bedeutet Wissen in einer Kultur. Die erste Frage ist gleichbedeutend mit dem Problem paideumatischer Produktivität und leitet damit das 7. Kapitel über das Dämonische ein. Indem zum zweiten die Lebensform des Paideuma erörtert wird, ergibt sich die Vorbereitung zum Kapitel 12 über den Seelenraum. Das Wissen einer Kultur der Schöpfungsperiode führt zu den Gedanken des 14. Kapitels, zu dem Problem der Kulturperioden.

Leo Frobenius
Paideuma · 1921
Umrisse einer Kultur- und Seelenlehre
© 1998- Schule des Rades
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