Schule des Rades

Leo Frobenius

Paideuma

I. Paideumatische Studien

5. Wissen

Unter den schon veröffentlichten Arbeitsergebnissen der Deutsch-Innerafrikanischen Forschungsexpedition wird die in dem Werke Unter den unsträflichen Äthiopen zusammengefasste Morphologie einer Kulturgeschichte (S. 71 ff.) später einmal eine besondere Wertschätzung finden. Hier ist in Umrissen eine Kulturlehre angedeutet, zu deren endgültigem Ausbau es der Arbeit von Jahrzehnten bedarf.

Nach diesen Untersuchungen zeigte es sich, dass heute noch über außerordentlich weite Gebiete von Afrika Spielarten einer Kulturform verbreitet sind, die schon dem grauen Altertum bekannt war und ihrer tiefinnerlichen Eigenart wegen schon die Achtung der homerischen Zeit genoß. Bereits diese Alten sprachen von den unsträflichen Äthiopen. Über ein Jahrtausend später nannten die Islamiten die Träger dieser Kultur: die treuen Heiden. Gustav Nachtigal, der große Forscher des 19. Jahrhunderts, schreibt: Lüge, Wortbruch und Diebstahl sind ihnen unbekannt.

Mit diesen Ausdrücken ist aber nicht etwa nur ihre Moral gewertet worden. Das ethische Moment ist hier nicht als Problem menschlicher Veranlagung entscheidend — denn die Träger dieser Kultur sind genau so verschiedenen Charakters wie alle andern Völker, ihre Schicksale ebenso bunt, ihre menschlichen Eigenschaften gleichermaßen zum Guten und Bösen, oder wie man es nennen will, neigend. Das, was diese Menschen auszeichnet, ist für jeden, der zu sehen vermag, ihre Kultur als Ganzes — Kultur in jedem Sinne, im weitesten wie im engsten, im persönlichen wie im massenumfassenden — , die Kultur, die sie nachweisbar seit mindestens 2500 Jahren zu tragen begnadet waren und deren Eigenart und Lebensfläche, mehr als jede andere mir bekannt gewordene Art so durchsichtig und formenklar ist, dass sie wie nirgends sonst die Möglichkeit zu einem Einblick in die geheimsten seelischen Vorgänge bietet, Vorgänge, die vor unserem Wissen liegen, Einblicke in ein anderes Wissen hinein, das dem Wissen vor uns gleichbedeutend ist.

Die Äthiopen sind vorzüglich Bauern. Es sind die gleich emsigen am Nil wie am Senegal. Ihre Organisation ist die der Sippe, der Sippe im patriarchalischen Sinne: hier lebt die ganze Familie in einem ausgedehnten, oft burgartigen Gehöft zusammen. Der älteste Mann (nicht Greis!) ist der Leiter dieses Gemeinwesens; seine Brüder, seine Söhne, Neffen und Enkel folgen seinen Anordnungen; die kraftlos gewordenen Alten sind seiner Fürsorge anvertraut. Er verteilt alle Nahrungsmittel, leitet die Verwendung aller Vorräte, verwaltet den Gesamtbesitz der kleinen Gemeinde, die sich nach jeder Richtung in Gewinn, Nutzen und Verteilung dem unterordnet, wie es der Alte nach ehrwürdigem Herkommen regelt. Frauen heiraten von außen in diese Sippengemeinde hinein.

Nicht nur das materielle Leben, sondern auch das geistige wird von dem pater familias und zwar in selbstverständlicher, von Generation zu Generation gleichlautender Weise geordnet und im lebendigen Rhythmus erhalten. Er, der Alte, bestimmt die Opfer der Saat, die Opfer der Ernte, er trifft die Anordnung für die Begräbnisse und die Pflege der abgeschiedenen Seelen. Er entscheidet über alle Feste und Zeremonien, bestimmt vor allen Dingen das festliche Begehen der Bildung neuer Wachstumsknoten am Sippengezweig, die Weihe der Altersklassenabschnitte. Die Anordnung nach Altersklassen wird nämlich sehr genau nach natürlichen Wachstumsstufen eingehalten. Die äthiopische Kultur hat überall, wo sie rein erhalten ist und noch nicht der Vergreisung anheimfiel, vier Stufen: 1. Die der Kinder bis zur nahenden Mannbarkeit, 2. die der Jünglinge, denen sowohl Burschen als auch Jungverheiratete angehören, 3. die der Männer, soweit sie Kinder haben, aus deren kraftvollsten und erfahrungsreichsten Jahrgängen der pater familias hervorgeht und 4. die der zu allem Zugreifen untauglich gewordenen, geistig hinwelkenden Greise, die auf das Altenteil gesetzt sind.

Die Wirkung des Stufensystems ist selbstverständlich und automatisch. Es bildet in der Kultur der Äthiopen ebenso die Grundachse, wie in der der Mande das Kastenwesen.

Das, was nun aber das Sein der äthiopischen Kultur so ganz besonders vor allen mir bekanntgewordenen sonstigen Formen auszeichnet, ist seine kristallhelle Stilreinheit, seine unbeirrte Organisation, die in ihm lebendige Selbstverständlichkeit harmonischen Ineinandergreifens, ja, man kann sagen, absoluter Identität materiellen, sozialen und geistigen Lebens. Jede profane Handlung ist hier gleichzeitig eine religiöse; jedes materielle Mittel dient automatisch einem ideellen Zweck. Das Dämonische und die objektiven Tatsachen fallen in der Umwelt eines Äthiopen zusammen. Alles ist demnach so selbstverständlich, dass eben hieraus, aus dieser Harmonie, aus dieser Kongruenz die Unsträflichkeit, die hohe Ethik als natürliche und unirrbare Notwendigkeit erwächst — eine selbstverständliche Notwendigkeit, die erst erschüttert wird, wenn Berührungen mit fremden Kulturwellen die Stilreinheit, die Organität und die Einheit unterbrechen.

Allerdings: zunächst erscheinen manche Ausdrücke dieser Kultur brutal. Ein Beispiel! Wenn ein alter Mann, ein Mitglied der 4. Stufe stirbt, jubelt die Sippe und feiert fröhliche Feste. Auf die Frage nach dem Grund dieses barbarischen Jubels erfolgt mit Sicherheit die noch barbarischer erscheinende Antwort: Er war alt; er konnte nicht mehr arbeiten, er konnte nicht mehr beim Farmbau helfen. — Verscheidet dagegen ein junger Bursche der 2, Stufe, so trauert die Sippe und weiß sich vor Schmerz nicht zu lassen; sie gibt sich hier dem Klagen ebenso hin, wie vorher dem Jubel. Die Frage auf die Antwort nach dem tieferen Grund der Ergriffenheit klingt schon bedeutungsvoller: Der Bursche konnte noch beim Farmbau helfen; er hatte noch keine Kinder, er kann nicht wiedergeboren werden; er hat niemand hinterlassen, der ihm wieder das Dasein erzeugt.

Wenn wir diesen Äußerungen nachgehen, so findet sich nun: Stirbt ein Greis, dann wird er bestattet; sein Schädel wird nach dem Verfall des Körpers der Grabkammer entnommen und an geweihter Stelle aufbewahrt. Dort empfängt er die regelmäßigen Opfer: Opfer beim Erntefest, die Gebete bei der Saat, zeremonielle Angehung zumal wenn ein Enkel der Sippe heiratet. Das Gebet, das diese Angehung unter gleichzeitigem Opfer begleitet, lautet folgendermaßen:

Mein Großvater! Ich bitte dich, kehre nun wieder. Du bist lange fort und wir haben nicht zu viel junge Leute. Mein Sohn hat diese junge Frau geheiratet, die stark ist und gut erzogen wurde. Sie weiß mit Kindern vorzüglich umzugehen; ich habe selbst gesehen, wie sie für die Kinder ihres Bruders gesorgt hat. Sie hat eine gute Brust und wird dir reichliche Milch geben. Ich bitte dich, in dieser jungen Frau wiederzukommen, damit so mein Sohn starke Kinder gebiert und er und ich bald nicht mehr in den Farmen zu arbeiten brauchen. —

Oftmals ist vor dem Gebete junges Saatkorn auf den Schädel gelegt und die junge Frau muss es nach der Ansprache mit den Lippen vom Schädel des Großvaters nehmen und genießen. — Das der Verehelichung entspringende Kind ist dann der wiedergeborene Großvater.

Dieses Verschlucken des Samens ist deshalb von so großer Bedeutung, weil hier eine bis in die Wurzelfasern tiefgreifende Verbindung des Feldbaues mit dem sozialen Leben zutage tritt. Das Verbindende ist die Erde, die große Urerde, in der die letzten Reste des Lebens verwesen, und aus der die ersten Keime des Daseins entspringen, die Erde, aus der alles entsteht und in der alles vergeht, die eine Erde, in der Entstehen und Vergehen zu einem Akte ineinanderfließen.

Ein der Mischung mit Ur-Fulbeblut entsprossener Äthiope aus dem Gongolagebiet gab hierzu folgende Erklärung:

Ein junger Mann, der stirbt, vergeht wie das trockene Laub, das zur Erde fällt und verfault. Ein alter Mann, der stirbt, ist wie eine reife Frucht, die in die Erde fällt und wieder aufwächst. Der Mensch ist wie das Korn (Sorghum). Schneidest du das Korn unreif ab, trocknest es und legst es in der nächsten Regenzeit in die Erde, so verfault es. Es kann nicht keimen. Schneidest du das Sorghum reif ab, trocknest es und legst es in der nächsten Regenzeit in die Erde, so wird es Wurzeln und Blätter haben, es wird heranwachsen und reife Früchte tragen. Ebenso ist der Mensch. Der junge Mensch kann nicht wiederkommen. Der alte Mensch wird wiedergeboren.

Wenn hier einmal eine selten klare Stimme das in primitiven Welteindrücken schlummernde Dämonische in Worte zu fassen vermochte, so darf nicht vergessen werden, dass es nicht ein rein äthiopisches, sondern ein fulbisiertes Organ war das sie erklingen ließ. Der Mann war Fulbe-Mischling, also mit anderer Seelenanlage ausgerüstet als die eigentlichen Träger dieser Kultur. Sonst sind diese Menschen durchaus unfähig, auch nur ihre Sitten zu schildern (so selbstverständlich sind sie ihnen), geschweige denn sie etwa zu erklären, also ihre Anschauung in Worte zu kleiden — ihre Empfindung anders als in unbewussten Sitten und Gebräuchen zum Ausdruck zu bringen. Die Sitten und Gebräuche sind bei ihnen gewissermaßen Ausdrucksformen dessen, was bei uns die Sprache, das Denken, das Bewusstsein wiedergeben; sie stellen eine Stufe dar, die unter der liegt, auf der wir uns bewegen. Das Wissen der Äthiopen ist gleichsam unbewusst; es bewegt sich auf der Fläche, die in den nachfolgenden Blättern als die des Gemütes bezeichnet ist.

Diese Tatsache ist von eminenter Bedeutung. Sie allein erklärt die erstaunliche Anschauungs- und Sittenreinheit, die bis an das Unfassbare grenzende Selbstverständlichkeit. Hierfür ein Beispiel! Zu den eigenartigen Gebräuchen der Äthiopenkultur gehört ein alle paar Jahre wiederholtes Opfer, ein großes Opfer: die Darbringung des angesehensten Mannes des ersten Priesters, des Priesterkönigs, um mit den Worten der alten Schriften zu sprechen. Die Sitte ist bekannt unter dem Namen des rituellen Königsmordes.

Bei den Kirri traf ich auf einen solchen König, der, wie mehrere Dakka-Fürsten, im darauffolgenden Jahre den Opfertod erleiden sollte. Er sprach sich selbst darüber aus. Er fand es ganz natürlich, dass er im nächsten Jahre den Opfertod erleiden sollte; er sah dem Tage seines Lebensabschlusses mit uns unverständlicher Gelassenheit entgegen und äußerte sich sehr trocken: In den letzten Jahren waren die Ernten nicht gut, die Regen waren schlecht; nach meinem Tode soll der Regen besser fallen. Und später sagte er: Ich habe einen kleinen Enkel, den ich sehr liebe. Er soll eine Frau aus guter Sippe heiraten. Von diesem Enkel will ich mich, wenn ich aus dem Busch zurückkehre, wieder gebären lassen. Das alles war in so gleichmütigem Tone gesprochen, dass daraus die schon voll ausgereifte Zufriedenheit über das Bevorstehende erklang. Er äußerte sich in einem Tone, in dem wir etwa von einer kleinen Reise reden würden. Es war keine Spur von der Spannung zu vermerken, der wir unwillkürlich schon dann anheimfallen, wenn uns auch nur der Umzug von einer Wohnung in die andere oder gar von einer Stadt in eine andere bevorsteht. Und doch zeigt auch dieses Seelenleben, dieses Dasein auf der Gemütsfläche gewisse Unterschiede. Das Wissen dieser Kulturform ist gleichbedeutend mit einem absolut organischen Erleben, aber das Erlebnis selbst zeigt Varianten. Auch hierfür einen Beleg, der zeigen soll, wie weit die Bewegungsfläche reicht:

Wenn der Hohepriester dem ritualen Königsmorde verfallen ist, beginnt für die Jugend der 1. Stufe die Buschzeit, die Periode der Initialfeiern, die Vorbereitung für den Übertritt zur 2. Stufe. Im Busch werden die Burschen beschnitten; das Blut wird als Opfergabe angesehen, das dem getöteten König nachfließt. Hierbei ist der die Operation ausführende Priester als Leopard vermummt, wenn auch nur ganz oberflächlich durch fleckige Bemalung, durch Leopardenschurzfell und durch eine Tasche aus der Pranke des Leoparden, in der die Operationswerkzeuge bewahrt werden. Der Priester ist also als Leopard mehr markiert als maskiert. Wenn man nun noch dazunimmt, dass das heilige Tier, das Totem der geopferten Könige, der Leopard ist, dass der Leopard an sich gewissermaßen Repräsentant des Busches, der verkörperte Geist des Busches ist, so ergibt sich eine ziemlich klare Linie der Anschauung, derzufolge nämlich der König geopfert wird, damit er der gnädige Geist des Busches werde; um die Gnade dieses Buschgeistes zu gewinnen, wird ihm das Blutopfer der Beschneidung dargebracht; damit haben aber alle, die in Zukunft den Busch zur Herstellung von Farmen roden, also ihn verwunden wollen, sich selbst schon eine Wunde geschlagen, die den Buschgeist gnädig stimmen soll. (Damit ist etwa in groben Worten derb geschildert, was jene unendlich viel feiner in tiefer Religiosität empfinden.)

Bei den besonders hinterwäldlerischen Kirri konnte ich nun zuerst eine Gruppe vor wenigen Jahren beschnittener Burschen, dann eine Reihe älterer Männer über den Vorgang bei diesem Beschneidungsritual befragen. Da kam folgender feine Unterschied heraus. Die Burschen erklärten: Ein Leopard beschnitt uns, es war der verstorbene König. Die alten Leute sagten: Der Priester als Leopard beschneidet die Burschen; und nachher: Wenn der Priester als Leopard die Knaben beschneidet, ist er der verstorbene König. Und in einem anderen Kirridorf wurde erklärt: Der verstorbene König beschneidet als Leopard die Knaben. Es ist nicht etwa das Widersprechende, das hier vor allem Beachtung verdient. Überall wo der Mensch eine auf der Fläche des Gemütes lebende und zu Handlungen führende Anschauung zeitigt, geschieht dieses spontan und sporadisch, weshalb ja die den äthiopischen Kulturen am nächsten stehenden, aber schon eine Stufe höher gerückten, vollmythischen Kulturen einen Überfluss an Widersprüchen zeigen. — Das Wichtigere scheint mir hier vielmehr zu sein, dass für die Burschen der Beschneider ein Leopard ist, für die alten Männer ein Wesen als Leopard. Es ist der gleiche Unterschied, den ich im 7. Kapitel für die Schöpfungen der Kinderseele (Beispiel von der Hexe) zeigen werde.

Also auch in der äthiopischen Kulturform geht im Seelenleben des Individuums ein Entwicklungsprozess vor sich, der durch ein Leopard hier, durch als Leopard dort charakterisiert wird, der die Verschiedenartigkeit des Erkenntnislebens in den verschiedenen Altersklassen zeitigt und der den Umfang des paideumatischen Spielraumes in der Periode vor der Mythenbildung wahrnehmen lässt. Es ist das Grundcharakteristische der primitiven Schöpfungsperiode.

Was ich hiermit meine, soll im Nachfolgenden dargelegt werden.

Leo Frobenius
Paideuma · 1921
Umrisse einer Kultur- und Seelenlehre
© 1998- Schule des Rades
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