Schule des Rades
Leo Frobenius
Paideuma
II. Das Paideuma des Individuums
8. Das Paideuma als das Ideal
im Jünglingsalter
Nun eine Erscheinung, für die wohl jeder aus eigener Erinnerung reiche Belege wird beibringen können. Ein Jüngling ist als braves Kind seiner Eltern herangewachsen, absolvierte auf gerader Bahn seine Schule, legte seine Lehrzeit ohne sonderliche Extravaganzen zurück und erreichte so als hoffnungsvoller Spross etwa den Anfang oder die Mitte der zwanziger Jahre, ohne in irgendeiner Weise etwas anderes als ein normaler, anerkennenswert ordentlicher, im Denken, Handeln und Fühlen so recht liebenswürdiger, bequemer und angenehmer Mensch zu sein. Er hat bis dahin ein geistiges Leben gezeigt, das seine Eltern nur erfreute. Sein Gedankengang war solid bürgerlich (wenn seine Eltern etwa gute Beamte sind) oder aber streng konservativ und königstreu (etwa in einer Offiziers- oder adligen Rittergutsfamilie), jedenfalls genau das Bild der Anschauungen wiedergebend, das seine Umgebung paideumatisch erfüllt. Seine politische Überzeugung, seine Bildung, seine Lebensführung sind bis in die kleinsten Details hinein ein Spiegelbild dessen, worin er aufgewachsen ist.
Da begegnet ihm eines Tages ein Weib, meist ist sie dem Jüngling an Jahren überlegen. Er verliebt sich; er erklärt rundweg, ohne dieses Wesen nicht mehr leben zu können. Soziale, wirtschaftliche, geistige Schranken sollen nun durchbrochen werden. Dieses Weib, oder das Leben hat seinen Wert verloren! Kein Zuspruch, keine Vorstellung, keine Logik können den bisher so vernünftigen, gutartigen, gehorsamen Sohn zur Raison
bringen. Alle Zuspräche prallen ab. Nur gerade dieses eine Weib, so erklärt er, könne ihm das große Lebensglück bringen, im übrigen lässt ihn die Frage der Zukunft, der sozialen Stellung, ja sogar der Kummer der Eltern gleichgültig.
In den meisten Fällen spielt mehr oder weniger wahrnehmbar eben ein Weib die entscheidende Rolle. Ich kenne aber auch andere Fälle, in denen ein Jüngling, der bis dahin etwa als Sohn eines Pastors tief religiös war, plötzlich ein leidenschaftlicher Atheist, oder der Sohn eines königstreuen Beamten ein Revolutionär wurde.
Man ist geneigt, die Ausbrüche der ersten Verliebtheit der Geschlechtsreife zuzuschreiben, und oft genug habe ich von befreundeten Ärzten den Rat gehört: Schicken Sie den Jungen in eine vergnügte Mädchengesellschaft, in der er sich austoben kann, dann wird sich die Verliebtheit legen.
Auch den Verlauf solcher Fälle habe ich beobachtet. Bei den Charaktervollen hatte sich die individuelle Verliebtheit nicht im geringsten gelegt, und wenn sie sich gelegt hatte, so blieb die Auflehnung des Jünglings gegen den geistigen Zwang, dem er sich bis dahin vollständig hingegeben hatte, bestehen. Solche Fälle zeigen ganz deutlich, dass der Anteil des Sexuallebens nur die Bedeutung der Anregung hat. Das Wesentliche ist dieser Bruch, das Herausdrängen, das Herausstürzen aus der bisherigen Umgebung. Die Schale ist gesprengt, der Jüngling steht dem früheren Dasein als selbständig erlebender Mensch gegenüber.
Vergleicht man das Wesen dieser Gruppe der juvenilen Erscheinungen mit denen des Kindes, dessen Paideuma aus einem Streichholz eine Hexe zu erschaffen vermag, so erkennt man, dass hier, am Ende des Kindesalters, mit dem Beginn der Jünglingszeit, die Schöpfungskraft des Paideuma und das Dämonische einen Wandel durchmachen, und zwar durch die Beziehung zum geistig beherrschten Tatsachenleben. Dämonen
werden hierdurch zu Idealen
. Die Ideale sind nicht mehr spontan, sporadisch, folgenlos; sie sind logisch durchgebildet und Elemente einer wenn auch noch intuitiven,, so doch bereits kausal geordneten Weltfassung.
Das Dämonische ist durchaus Produkt der Innenwelt; es haftet zwar an sinnlich erfassten Gegenständen und wird zum vereinzelten Dämon (die Römer sagten numen), indem es den bewusst-lebendigen Zusammenhang einbüßt und scheinbar sinnliche Selbständigkeit erlangt. Diese ist aber nicht das Wesentliche. Denn da das Dämonische im Kinde seiner ganzen Natur nach spontan und sporadisch, also ständigem Wechsel ohne Hemmung durch das Urteil der Sinne unterworfen ist, kann seine Bedeutung nicht in der Tatsache des Phänomens an sich liegen; das Bedeutsame beruht vielmehr in der Loslösung sinnlicher Einzelheiten der Außenwelt zur Gewinnung paideumatischer Elemente, die aber als sporadische noch keinen Bestand haben. Aus diesen entwickeln sich nun aber die Ideale, indem die geisterhaften Elemente in die Welt des Wirklichen hineingewachsen sind, sie durchgeistigen, das heißt: dass der Mensch sich nunmehr seines Ich
bewusst wird, dass das Ich
sich aus der Gruppenbildung des Wir
loslöst und ein eigenes Dasein beginnt in dem das Ich des Paideuma als die eine Einheit
der anderen Einheit
, der Welt
, bewusst gegenübertritt. (Zweiheit oder Dualität.)
Diese Loslösung, als das charakteristische Merkmal der juvenilen Erscheinungen, ist das zweite Phänomen in der Entwicklung des Paideuma: das der Individualität,
Hieraus wird man verstehen, weshalb die Hellenen nur ihr Volk kannten und alle Außenwelt als Barbaren bezeichnen mussten. Jetzt versteht man auch, weshalb uns bisher Weltgeschichte
nur die Geschichte und Vorgeschichte unseres abendländischen Paideuma sein konnte, weshalb sie der wirklich großen Geschichte der ganzen Welt gegenüber als das einzig Beachtenswerte erschien. Es ist das gleiche Empfinden, das den aufbegehrenden Jüngling in seiner Sturm- und Drangperiode nur sein eigenes Schicksal sehen und anerkennen lässt, während allen bis dahin so tief verehrten Eltern, Lehrern und Freunden Fehde angekündigt wird.
Die Ideale sind also wie die Dämonen des Kindes entstanden, unterscheiden sich aber von diesen dadurch, dass sie als bewusst geistige Elemente mit der Tatsachen weit in dauernde logische Beziehung gebracht werden. Sie beginnen mit dem Ich, und dieses Ich ist selbst das erste aller Ideale
.
Mit den Idealen tritt das Paideuma in das geistige Bewusstseinsleben. Seine Auswirkung wird bestimmt nach dem Maß der in ihnen sich auflösenden Dämonen und dem Anwachsen des herannahenden Tatsachensinnes des erwachsenen Mannes. Am klarsten wird das Verhältnis beim Feststellen des Begriffes der Ideologien
. Ideologien sind auch dämonischen Ursprunges, aber keine Ideale. Es sind dämonische Motive, durch welche die Tatsächlichkeit vergewaltigt wird, die also die Macht über die Tatsachen verlieren. Dagegen sind die wahrhaft wertvollen Ideale dadurch ausgezeichnet, dass zwischen ihnen und den eigentlichen Tatsachen der Welt eine Harmonie besteht, dass also diese paideumatische Erscheinung mit den Erfahrungen des Lebens in wirkungsvollen Zusammenhang gebracht werden kann. Denn dieses allein macht die Ideale lebens- und gestaltungsfähig; dieses allein gibt dem paideumatischen Ich die Herrschaft über die Tatsachenwelt: Man kann etwa das Kindlich-Dämonische als Kraft und die sinnlich-geistigen Tatsachen als Stoff bezeichnen.
Das Vorhandensein der Ideale ist gleichbedeutend mit der Fähigkeit zur Kulturbildung, vorausgesetzt, dass sie imstande sind, die Welt der Tatsachen als eine organische Einheit in ein ebenso organisches Paideuma umzubilden, sie zu durchseelen, ein schöpferischer Akt, dessen Wirkung dann der Ausdruck Stil
zu geben ist.
Die Ideale gehören einer bestimmten, verhältnismäßig kurzen Periode des Menschen- und Völkerlebens an. In ihrer Wucht dem Leben gegenüber verhalten sie sich wie ein Napoleon oder ein Friedrich der Große zu seinem Volke. Im paideumatischen Stufenbau der bisherigen Kulturen ist ihr Vorkommen auf die juvenile Periode beschränkt, nicht aber, wie es scheint, im Menschenleben; denn wir kennen eine große Anzahl genialer Menschen, in deren Leben die Ideale bis in das hohe Greisenalter hinauf lebendig blieben. Solange sie die Tatsachenwelt harmonisch beherrschen, bleiben sie lebendig, aber unter dem massenhaften Anschwellen der verstandesgemäßen Tatsachen, der praktischen Erfahrungen, der zweckmäßigen Entschlüsse, kurz dessen, was man heute Intelligenz nennt, gehen sie zugrunde. ,