Schule des Rades

Leo Frobenius

Paideuma

II. Das Paideuma des Individuums

9. Das Paideuma als die Tatsachen im Mannesalter

Die stürmenden Jünglinge werden zu besonnenen Männern, die Ideale zu Tatsachen. Die Ideale entstanden in der Loslösung des Ich, in der Gegenüberstellung der Einheit des Ich und der Einheit der Wirklichkeitswelt und zwar in harmonischer Wechselwirkung. Das Ich schafft sich die eigene Welt, aus dem geographischen Lebensraum wird der paideumatische Seelenraum. Die Ideale sind sich Selbstzweck; sie erwachsen aus jubelndem, frühlingshaftem Bewusstsein des Ich, das durchaus zeitlos ist und nur ein großes Glück über das Dasein empfindet, dagegen keine Ahnung von der Vergänglichkeit hat. In ihrer Sporadität und Spontaneïtät, ihrem blitzartigen Aufleuchten sind die Dämonen zeit- und raumlos; die Ideale leben im Raum, nicht aber in der Zeit; sie stellen das Leben im Bewusstsein dar, nicht aber das Dasein auf der Fläche der Vernunft.

Die Ideale stellen im Gegensatz zu den spontanen und sporadischen Dämonen eine dauernde, fortlaufende Beziehung zur Tatsachenwelt her, so dass sie deren Einwirkungen ununterbrochen ausgesetzt sind. Diese Tatsachenwelt spielt sich aber ab in einem ständigen Wechsel von Werden, Sein und Vergehen.

Die Ideale sind im Paideuma die Erscheinungsformen des Seins, bewegen sich jedoch der Grenze des Vergehens zu. Sowie sie die volle Kraft ihrer Entwicklungshöhe erreicht haben, müssen sie, da sie bewusst sind, die Wahrnehmung der Vergänglichkeit machen; die Sorge um die Erhaltung entsteht; die Einwirkung der Tatsachenwelt wächst; das Bedürfnis der Lebenserhaltung, unter dem Druck der Sorge, führt zur verstandesgemäßen Sammlung der Erfahrungen und zur Beobachtung der bewussten Zweckmäßigkeit, zur Vernunft.

Aus der herbstlichen Sorge der Erhaltung des Ich entsteht als drittes Phänomen die verstandesmäßige Kausalität, und damit sind die Tatsachen in ihrer strenggeistigen Starrheit voll entwickelt. Die Ideale waren Selbstzweck, die Tatsachen haben materielle Zwecke. Sie entstehen im und aus dem Geiste, und deshalb ist dieses Phänomen der Kausalität unvergleichlich leichter in seiner Entstehung und nach seiner vielseitigen Auswirkung zu erkennen, als das des genialen Schöpfertums (Dämonen) und das der Individualität der persönlichen Ideale. Im Vordergrunde steht zunächst die Erscheinung der Einengung des Ichbewusstseins. Das Ich bleibt nicht mehr ein idealer Gegensatz zur Tatsachenwelt, sondern wird als Intelligenz ein Teil derselben. Damit Hand in Hand geht die Auflösung der Harmonie.

Wenn im juvenilen Stadium das paideumatische Ich der Tatsachenwelt gegenübersteht, so geht das Ichgefühl auf der virilen Stufe schrittweise der kausalen Eingliederung in sie entgegen. Das geschieht auf dem Wege der systematischen Aufreihung von Erfahrungen. Auf der Bahn dieses praktischen Mechanisierens der Welt schwindet die Intuition, die durch Wissen und Nachdenken ersetzt wird.

Die Ideale umfassten das Riesenmaß der gesamten Wirklichkeitswelt als Gegenstück zum Ich. Die Tatsachen umfassen nur Einzelheiten eines Weltmechanismus und messen an ihnen von Fall zu Fall das eigene Ich ab. Aus den Einzelheiten baut der Verstand sich ein kümmerliches Bauwerklein auf, das er in übermäßiger Einschätzung die Welt der Natur nennt, das er für das Endgültige, für das Wahre hält. Nur was ihm kausal zugänglich ist, ist gültig. Er ahnt nichts mehr von der titanenhaften Großartigkeit eines von Idealen durchleuchteten Weltbildes, da nur nützliche und wissenschaftlich erwiesene Einzelheiten beachtenswert und überhaupt von Wert sind. — Von Wert: das ist bedeutsam. Auf diesem Wege wird das Ich in langsamem Wandel zu einem für mich. Das Ich der Ideale war eine Kraft; das Ich der Tatsachen ist ein Wertmaß.

Das Ich steht also nicht mehr der Tatsachenwelt gegenüber, sondern ist selbst eine Tatsache und demnach, als ihr Mittelpunkt, ein Teil der Tatsachenwelt, in der alles gemessen und gewertet wird, alles: Kraft, Raum und Zeit. An Stelle des organischen Kraftgefühles tritt das Bewusstsein verwertbarer mechanischer Kraft; an die Stelle des Raumgefühles der vernunftgemäß ausrechenbare Raum, an Stelle des schicksalhaften Seins endlich die mit der Uhr meßbare Zeit.

Das entscheidende Merkmal objektiver Tatsachen ist die verstandesmäßige Kausalität, gewachsen auf der vernunftgemäßen Sorge. Hier ist der schwere Irrtum zu begleichen, der wieder und immer wieder begangen ist, indem die Not als die Quelle aller Kulturfortschritte bezeichnet wird. Sicherlich ist die Not, je primitiver die Menschheit ist, eine um so gewaltigere. Aber die aus der Not geborene Sorge keimt im Paideuma stets nur aus dem Tatsachenblick, stets nur an der Grenze der Vergänglichkeitserkenntnis, d. h. als Frucht der Kausalität. Nur im Zusammenhang mit der verstandesmäßigen Kausalität kann die Sorge auf der Fläche der Vernunft produktive Kraft gewinnen, ohne dieses Zweckbewusstsein bleibt sie latent. Die fortschreitende Kultur steigt aber empor aus der juvenilen Lebensform, d. h. aus den Idealen.

Hierfür will ich einige lehrreiche Beispiele bringen, die sich auf die Entstehung des Hack- und Pflugbaues beziehen. Auch von diesen Erfindungen hat man bis vor kurzer Zeit angenommen, dass sie von den Menschen aus Not heraus mit Zweckbewusstsein ins Leben gerufen wären.

Bei einem äthiopischen Volke Nordkameruns, einem in die Berge vertriebenen Tschambastamme, traf ich auf die Sitte, im Herbste in die verlassene Ebene herabzusteigen und hier unten von den alten Feldern die nachträglich wildwachsenden Kornfrüchte zu sammeln. Im Frühjahr kehrten dann die Leute mit einer hölzernen Spatenhacke zurück, schlugen einige Löcher ins Feld und säten in diese von den im Herbst gewonnenen Körnern. Das war ein Opfer an die Mutter Erde. Von dem so gewonnenen Korn wurden nur wenige Breiklöschen gekocht, die zur Hälfte an die Ahnengeister, zur Hälfte an die Frauen verteilt wurden, damit letztere so für die Wiedergeburt der mit dem Korn in naher Beziehung stehenden Verstorbenen vorbereitet würden. Dagegen wurde das sonst auf diesen Feldern sich von früher her selbst aussäende Korn zwar auch gesammelt, aber von aller Welt genossen. Diesem letzteren haftete nichts von Heiligkeit an.

Hier liegt die Entstehung des Hackbaues deutlich zutage. Die erste Stufe war offenbar ein Einsammeln des Kornes, das wild wuchs. Als Ideal entstand die Sitte, aus Dankbarkeit und um die durch den Kornschnitt verwundete Mutter Erde zu versöhnen, ihr wieder Körner zurückzuerstatten, deren Früchte aber als heilige Opfererzeugnisse nicht etwa dem profanen Leben zurückflössen. Erst in späterer Zeit nahm der Hackbau mehr und mehr profanen und verstandesmäßigen Charakter an. Die geschilderte Sitte stammt also aus der Zeit vor dem Hackbau und beweist, dass dieser aus dämonischen Vorstellungen zunächst als Ideal entstanden ist. Erst als die sorgende Kausalität die Ideale verkümmern ließ, als die nüchternen Tatsachen im Geiste herrschend wurden, stellte sich die praktische, zweckmäßige Verwertung der Erfindung des Hackbaues als profaner Wirtschaftsbetrieb ein.

Diese Beobachtung wird deshalb so interessant, weil sie sich mit einer Hypothese Eduard Hahns deckt. Die Schlussfolgerungen dieses Gelehrten führen die Entstehung des Pfluges und der Pflugwirtschaft auch auf eine mythologische Quelle zurück; nach ihnen waren die ersten Pflugbestellungen Zeremonien, bei deren Ausführung der Pflug der Phallus des ihn ziehenden, der Mutter Erde samenspendenden männlichen Kindes war. Ebenso muss man sich die Entstehung des Wagens aus der Verwendung des die vermeintliche Gestirnumdrehung symbolisierenden Rades vorstellen; ebenso die Entstehung des Feuerbohrers, dessen Erfindung kausalitätsgierige Naturforscher auf Naturbeobachtungen zurückführen wollen. (Wallace ist so harmlos, zu behaupten, die Eingeborenen hätten einen vom Sturm abgebrochenen, in ein Astloch geratenen Ast, vom Winde in diesem Astloch gewaltsam quirlend herumgeführt und so Feuerfunken hervorbringen gesehen und dies dann nachgeahmt.) Ebenso erwächst die Schrift aus den symbolischen Darstellungen und Bannformen als Mitteilungsmittel erst im Stadium der Kausalität und am Ende einer langen Entwicklungsreihe, die noch nichts mit irgendeinem intellektuellen Mitteilungsverfahren zu tun hat.

Das alles sind Umbildungen von Idealen in Tatsachen. Tatsachen sind verstandesmäßig angewandte Ideale. Durch verstandesgemäße, kausale Verallgemeinerung der letzteren entstehen die ersteren, unter Verschiebung von der Fläche des Verstandes auf die der Vernunft. Der Jubel zur Tat löst sich in dieser Verallgemeinerung auf in Bedürfnis zur Arbeit. Das Ich wird zum gesetzmäßigen Teil der Tatsachenwelt, der Natur, des Volkes, des Staates oder sonst irgendeiner Gemeinsamkeit, die als solche, in der Sorge um die Erhaltung, durch Massenbildung die hinsiechende Kraftmenge des individualen Ich ersetzen muss. Das Ich der Ideale war in bedeutsamem Sinne Qualität; das Ich der Tatsache ist lediglich Maßstab für Quantitäten.

Die Tatsachen sind nun auch nicht mehr Eigenart und Eigentum des Individuums, sei es dargestellt durch eine persönliche oder eine im paideumatischen Sinne erwachsene Volksbildung. Sie sind Allgemeingut, an dem alle teilhaben und das nur sehr begrenzt an den ursprünglichen Lebensraum gebunden ist, so wie der Baum wächst und blüht, gebunden an seine Scholle, also an seinen Lebensraum, seine reifen Früchte aber von jedem Wind und gleichgültig weite Strecken hin ausgesät werden können. Das Straßburger Münster konnte so nur in Straßburg, die Hagia Sofia nur in Konstantinopel erwachsen; ein modernes Gebäude im Renaissancestil kann man aber geradesogut am Südpol wie in den Urwäldern Brasiliens machen. Das Tatsachendasein ist eben ein Mechanismus, in dem das Einzelwesen die Stelle eines Maschinenrades einnimmt. Tatsachen sind also nur in begrenzter Weise an Zeit und Raum gebunden, gewissermaßen Ausscheidungen des Paideuma. Damit hängt es zusammen, dass das im Neste aus dem Ei auskriechende Küken sogleich mit seinem Eintritt in die Welt Kornfrüchte und Sandkörner unterscheiden kann, und dass das neugeborene Kind sofort nach der Mutterbrust greift.

Leo Frobenius
Paideuma · 1921
Umrisse einer Kultur- und Seelenlehre
© 1998- Schule des Rades
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