Schule des Rades

Wilhelmine Keyserling

Anlage als Weg

V. Die Fragen zum Häuserkreis

IV. Seele fühlen · Haus der Familie

Die Wurzeln des Menschengeschlechts reichen in die fernste Vergangenheit zurück. Jeder Mensch ist ein Spross des Lebensbaumes, der immer grünend sich erneuern will. Er trägt in sich den Saft der Erde, den Regen von Jahrtausenden, den Sonnenschein, der seine Vorfahren bestrahlte, ihre Vorstellungen und Schicksale, ihre Fehden und Sorgen, ihr Gedeihen. Selbst wenn er Waise, ein Findelkind, träumt er ihre Träume.

Und der Mütter hat er mehr als ihn geboren: die Frauen, die ihm aus Liedern und Märchen bekannt, die gemalten, mit langen Haaren und blauem Gewand, die Lächelnden, wie die bösen Hexen. Und Väter, die er aus Heldensagen und heutzutage aus Kriminalromanen und Filmen kennt, die Alten auf dem Felde…

Die religiösen Ideen (IX), die Sitten und Gebräuche (VII), die als Tradition in seiner nächsten Umgebung gepflegt wurden, beeinflussen unbewusst seine Triebwünsche, seine Vorstellungen von gut und böse, von dem was ihm angenehm und erstrebenswert scheint, was er sich erlauben darf, was ihm moralisch fragwürdig oder verwerflich vorkommt.

Das IV. Haus betrifft Verwandtschaft und Herkunft, in der er aufgewachsen ist, zu der er sich bekennt oder nicht, der er sich gewachsen zeigen möchte, der er vielleicht entwachsen ist. Niemals kann er sie ganz verleugnen, ob er am Herkömmlichen ansetzt, es verwandelt, daraus schöpft, erkennend, unterscheidend integriert. Irgendwie muss er die Vergangenheit aufarbeiten, damit höhere Ziele, die er sich stecken mag, in die Zukunft wirken können. Im I Ging wird das Anknüpfen an der Vergangenheit als Arbeit am Verdorbenen dargestellt — am vom Vater verdorbenen, von der Mutter verdorbenen. Es ist aber wesentlich leichter, am Mangel der Vorfahren anzusetzen, als an deren Vollendung.

Du sollst die Eltern ehren, besagt das IV. Gebot, damit du lange lebest und es dir wohlergehe auf Erden. Nicht immer ist die Aufrechterhaltung des Verhältnisses zu den Eltern möglich; das lange Leben bezieht sich auf die Wahrung der seelischen Kontinuität in den Nachkommen; aber nicht jedem ist sie bestimmt. So mancher ist eine letzte Blüte, oder ein dürres Blatt am Ast des Stammbaumes. Das Wohlergehen, Inbegriff der Seele und die meisten psychische Probleme, haben ihre Wurzeln im Verhältnis zu Eltern und Vorfahren. Arbeit am Verdorbenen, wie sie im I Ging (37) beschrieben ist, zeigt die ursprüngliche Ordnung seelischer Verhältnisse: von Gatte und Gattin, Eltern und Kindern, Brüdern und Schwestern. Es ist die Urfamilie, die auch als Keimzelle des Staates (X) betrachtet wird. Liegt die öffentliche Ordnung im Argen oder im Umbruch, ist auch der Familienfrieden gestört. Wer draußen verletzt wird, zieht sich in seine Sippe zurück heißt es im gleichen Zeichen des I Ging. Das Heim ist der Ort, wo man nicht kritisiert wird, sondern liebevolle Aufnahme findet, Wohlsein genießt, verbreitet und bietet. In der Heimat ist man zwar selten Prophet, aber auch sie ist der Ort der Vertraulichkeit, der Zugehörigkeit.

Kenne ich meine Triebe? Kann ich sie akzeptieren? Welche, welche nicht? Was sind meine eigentlichen Bedürfnisse? Kann ich sie beachten, erfüllen?
Was brauche ich für mein Wohlsein? Was bilde ich mir ein zu brauchen?
Was sind meine Schwierigkeiten im Heim? Wie begegne ich ihnen? Wo entstammen sie meiner Vorstellung?
Wann kann ich, und wie weit, auf Bedürfnisse anderer eingehen?
Wie finde ich ein Maß für essen, trinken, Triebe, aber auch Strenge und Freundlichkeit?
Was bedeutet mir mein Heim? Was geht dort vor sich? Ist es ein Ort der Intimität, Sammlung, Geselligkeit, Einsamkeit, Arbeit…? (Beschreibe Heim und Lebensform.)
Wie spielte sich das Leben im Elternhaus ab? Beschreibe Nahrung, Sitten, Art der Kontakte, worauf wurde gehalten, was wurde vermieden, verboten, verachtet, gesprochen, angeschafft, verlangt?
Worin bestand mein Kontakt mit dem Vater, Großvater, Onkel, Tanten, Großmütter…; was hat mich unmittelbar angenehm berührt, was unangenehm? Wo knüpfe ich an?
Inwiefern hat sich mein Vaterbild — Mutterbild aus nachträglichen Erzählungen, Überlegungen verändert?
Welche Landschaften, Feste, häusliche Begebenheiten sind mir aus der Kindheit in Erinnerung geblieben?
Was ist meine erste Kindheitserinnerung?
Welche Ängste habe ich von meinen Eltern übernommen?
Wo habe, hatte ich vor ihnen Angst? Wo hänge ich an ihnen?
Habe ich Beziehungen abgebrochen, verwandelt, in Reaktion zu ihnen gehandelt? Was habe ich von ihnen integriert, umgesetzt?
Was bedeutet mir Heimat, Ort, Land?
Wie weit reicht meine seelische Beziehung zur Vergangenheit? (Gebäude, historische Begebenheiten, Gepflogenheiten) Wie kann ich mich aus der Kraft meiner Herkunft, aus meinen Wurzeln ernähren? Wo schneide ich meine Wurzeln ab? Wie versuche ich Ersatz zu finden? Wie kann ich mich in meiner Urtiefe gründen?

Eine nützliche Betrachtung:

Die familiären Beziehungen der frühen Jugend wirken bei vielen auf die seelischen Verhältnisse des ganzen Lebens nach. Wir tragen im Geheimen das Energiepotential von vierzehn Ahnen in uns.

A h n e n r e i h e

Aber wir kennen nicht das Potential ihrer Anlage, sondern nur ihre Auswirkung. So kann es förderlich sein, die aus persönlichen Sympathien, Antipathie und Reaktionen entstandenen Ahnenbilder wenigstens bis zu den Großeltern zu objektivieren. Die Beurteilung des Vater und der vier Großeltern stammt teilweise aus der Sicht der Mutter, teilweise, wie auch die der Mutter, aus den Bemerkungen und der Haltung des Vaters diesen gegenüber — und beide Einstellungen gründen auf Reaktionen auf die Auswirkung der Anlage dieser Menschen in ganz bestimmten Situationen und nicht aus der Anlage als Energiepotential. Daher ist es wichtig, sich diese sechs Personen, deren Möglichkeiten man in sich trägt, als Potential sachlich darzustellen, ihre Eigenarten aufzuschreiben, die den bekannten Auswirkungen zugrundeliegen.

Man hat zum Beispiel einen Großvater — kaum gekannt — die Mutter sagt, er habe immer aufgeschnitten, man konnte ihm kein Wort glauben — hat das Geld mit Weibern vertan — Du lügst schon wieder wie der Großvater… — Bleibt man bei einem solchen Vorstellungsbild stehen, wird man sich vielleicht den Zugang zur eigenen Phantasie, Lebensfreude und Liebesfreude abschneiden, und sich ängstlich hüten, für sich selbst Geld auszugeben, das Leben zu genießen.

Wir können diese Betrachtung als Ritus auffassen: den Tisch decken, Kerzen anzünden und den Geist der Verwandten, lebend oder verstorben, höflich und liebevoll einladen, um uns in der Richtigstellung und Wertschätzung ihrer Potentialität zu helfen. Denn: im IV. Haus birgt das Dunkel der Vergangenheit die Urkraft als Born des Lebens.

Wilhelmine Keyserling
Anlage als Weg · 1988
Theorie und Methodik der Astrologie der Wassermannzeit
© 1998- Schule des Rades
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