Schule des Rades

Wilhelmine Keyserling

Anlage als Weg

I. Die sieben Prinzipien des Bewusstseins

Empfinden

Empfinden ist jene Funktion, die insofern den Ansatz bildet, als sie die unmittelbare Erfahrung unserer Welt über die Sinne vermittelt: Gesicht, Geruch, Geschmack, Gehör, Tastsinn, wobei zum letzteren Raum-, Gleichgewichts-, Wärme- und Bewegungssinn zu rechnen sind.

Empfinden hat als Inhalt die Sinneswahrnehmung. Es ist die Realitätsfunktion als Fähigkeit, Gegebenheiten wahrzunehmen wie sie sind — also objektiv. Die Wahrnehmungsspanne ist immer linear; eine Skala, die von zwei Sinnesschwellen begrenzt wird. Töne sind hörbar zwischen 16 und 20.000 Hertz. Licht wird sichtbar als Farbe zwischen 3.800 und 7.600 Ångström-Einheiten.

Ein Ton muss eine bestimmte Lautstärke haben, um vernehmbar zu sein. Eine Farbe hat eine bestimmte Helligkeit, Intensität, Tendenz zu weiß oder schwarz. Auf den allesamt linearen Wahrnehmungssektoren lassen sich auch die Gegebenheiten der anderen Sinne in Graden ausdrücken.

Sinnesdaten sind äußere Signale verschiedener Variationen der Energie. Wir leben in einem ungeheuren Schwingungsfeld. Jede Wahrnehmung ist ein Energieaustausch, die Sinne vermitteln tatsächlich Eindrucksnahrung. Das Riechen der Luft, das Betrachten eines Wasserspiegels oder einer grünen Wiese — aber auch das Konzentrieren auf Bilder und Gegenstände — kann uns in kürzester Zeit regenerieren. Das Empfinden des eigenen Körpers, wie es der Yoga und andere Techniken lehren, stellt einen gestörten Energiekreislauf wieder her.

Intensives Empfinden kann in die Erfahrung ungeahnter Kraft und Ruhe münden. Aber zu solchem Empfinden ist die Zuwendung aller Aufmerksamkeit notwendig. Hier schließt sich der Kreislauf der Funktionen: empfinden — denken — fühlen — wollen — empfinden…, wie ihn der Fortschritt im Rad zeigt. Die Zuwendung, die dem Wollen als Aufmerksamkeit entspricht, macht das Empfinden zur Erfahrung.

Dem Hungernden, der sich an das Erlebnis eines Stückchens Brot erinnert, dem Ermatteten, der einige Zuckerwürfel verzehrt und gestärkt weiter geht, ist vielleicht gar nicht klar, dass er jenen Bissen ganz bewusst geschmeckt, zu sich genommen hat.

Aber warum sind wir im Empfinden nicht immer offen? Jeder weiß, wie man schaut ohne zu sehen, isst ohne zu schmecken. Manche spüren schon, dass sie die eine oder andere Speise nicht mögen (fühlen), ohne sie überhaupt gekostet zu haben. Andere wieder meinen (denken), dass es zum Beispiel draußen kühl sei, weil die Sonne nicht scheint. Sie versuchen das Denken einzusetzen, wo empfinden Auskunft geben könnte, und öffnen nicht einmal das Fenster, um die Temperatur zu kontrollieren.

Hier kommen wir zum Hauptproblem der Funktionen. Die Funktionen sind das Problem. Sie sind die Vorgänge, mittels derer wir erfahren und handeln; sie können aber auch mechanisch funktionieren, und in diesem Falle tendieren sie dazu, einander zu verdrängen, zu überlagern. Wir sind gekränkt (fühlen) und entwickeln daraus eine Kette von Schlussfolgerungen und Theorien, die kein ursprüngliches Denken sind, sondern ein selbsttätiges fühl-denken, ein Denken, das aus dem Fühlen geschoben wird.

Bei jedem entstehen andere mechanische Verknüpfungen der Funktionen, wenn kein Wer da ist, der sie einsetzt — der sie von jener inhaltslosen Mitte aus erfährt und steuert. Es geht darum, die Funktionen unterscheiden und trennen zu lernen; trennen, damit sie sich wie vier Fäden eines Gewebes zu vielfältigen Mustern verbinden, damit einer an den anderen anknüpft, ohne dass sie sich selbsttätig verknoten.

Das Empfinden ist die Funktion, mittels derer wir die Beschaffenheit einer Straße, die Härte oder Glätte eines Materials, Form, Größe, Farbe, Klang, wahrnehmen oder gestalten. Hier nehme ich empfinden im Körperbereich als Beispiel.

Nun ist der Wahrnehmungsvorgang beim Menschen wie beim Tier selektiv, den Bedürfnissen des Lebens angepasst. Die daraus resultierende Beschränkung auf eine begrenzte Merkwelt ist sowohl ein nützlicher Schutz vor einem Übermaß an Eindrücken als auch eine Gefahr. Es ist nützlich, Eindrücke ausschalten zu können. Aber wie leicht bleiben wir in unserer Merkwelt eingesperrt und nehmen, wenn wir einkaufen gehen, nur mehr die Autos, denen wir ausweichen, und das Firmenschild des Kaufmanns wahr und nicht mehr die Luft, den fliegenden Vogel, den Blick eines Menschen — das Unerwartete, das uns begegnet. Immer wieder müssen wir versuchen, die Wahrnehmungsfähigkeit zu erweitern, um lebendig zu bleiben.

Im Buch der Wandlungen, dem I Ging, wird die Empfindung durch das Gras versinnbildlicht, das sich dem Wind beugt ohne abzureißen, so wie durch das sanfte Eindringen der Wurzeln in den Boden.
Wilhelmine Keyserling
Anlage als Weg · 1988
Theorie und Methodik der Astrologie der Wassermannzeit
© 1998- Schule des Rades
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